Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
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April 2009
Von Süden nach Norden
von Eva Fischer

Lena saß in einem Boot. Ihre rechte Hand tauchte sanft in das kühlende Wasser. Kein Windhauch kräuselte es. Die Sommerhitze türmte sich auf dem Wasser, konnte nicht eindringen, blieb bleiern über der Oberfläche stehen.
Am Uferrand wuchs Schilf. Enten schaukelten träge auf den Wellen.
Plötzlich stapften Schritte über das Gras, weiter zu dem sandigen Boden. Den Kinderbeinen schienen die spitzen Kieselsteine nichts anhaben zu können. Sie fingen an zu rennen, als sie sich dem See näherten. Lautes Lachen zerriss die Mittagsstille. Die Enten stoben auseinander. Endlich hatten die Füße das Wasser erreicht. Eddi trug stolz einen schwarzen Autoreifen, warf ihn wie einen Köder aus. Viele Kinderhände versuchten ihn zu ergattern, stießen ihn stattdessen weiter weg. Aus dem Wettlauf entspann sich ein Wettschwimmen. Nun saß der Anführer auf dem Reifen, aber nicht lange, da wurde er wieder hinuntergeschubst, tauchte unter, und ein anderer nahm seine Position ein. Gurgelnde Protestschreie. Schäumende Kampfeslust. Necken, Lachen, Lebensfreude.
Aus der Ferne sah sie zu, wusste, dass ihre Körper nicht eher müde würden als die Sonne.
Sie wollte teilhaben an diesem ausgelassenen Spiel, und ihre Hand ruderte immer heftiger, aber das Ziel näherte sich nicht.

Plötzlich hörte sie eine Stimme. „Lenal, spielst schön? Gell, dir ist einsam so ohne Spielkameraden. Aber bald sind die Sommerferien vorbei, und die Schule fängt an. Du wirst sehen, dann lernst neue Freunde kennen“, fügte sie tröstend hinzu.
Lenas Arme erschlafften. Sie schaute zum Himmel, wo sich der Phantasievogel in die Lüfte schwang und verschwand. Sie hoffte, er käme wieder.
„Mutti, ich gehe auf die Straße. Vielleicht treffe ich Kinder zum Spielen.“ Lena glaubte selbst nicht an das, was sie sagte, aber an diesem Spiel hier hatte sie die Lust verloren.
Sie schüttete das Wasser aus dem blauen Wäschezuber, der auf dem Balkon gestanden hatte, zog ihre Sandalen an und hüpfte die Stufen vier Stockwerke tiefer.
Als sie die Tür öffnete, empfing sie staubige Sonnenglut, die sich wie ein gefangenes Tier in der Häuserschlucht fing. Kein Baum, kein Strauch, kein Lebewesen. Die Straße lag wie ausgestorben da. Alle Bewohner hatten sich vor der Mittagshitze hinter den Mauern in Sicherheit gebracht. Ab und zu störte ein Auto die dunstige Stille. Die Fahrer lenkten es robotergleich, ohne auf die einzige Passantin zu achten.
Lena betrachtete die hohen sechsstöckigen Backsteinziegelfassaden.
Da, wo sie herkam, waren die Häuser niedriger, weiß verputzt, oder in fröhlichen Farben angestrichen. Da gab es hohe Tannen, Apfelbäume, auf die man klettern konnte und sich eine frische Frucht ergattern, Sträucher mit Stachelbeeren, Vögel, die ihre Runden am weiten blauen Firmament drehten und ihre Lieder trällerten, Kinder, die lachten, Hunde, die bellten.
Wie sehr hatte sich Lena auf den Umzug in die große Stadt im Norden gefreut. Alles sollte besser werden. Der Vater hatte eine gut bezahlte Arbeit bekommen. Nun konnten sie sich eine größere Wohnung leisten mit Balkon und dem Luxus eines eigenen Zimmers für die zwölfjährige einzige Tochter. Die Mutter schwärmte von eleganten Geschäften. Es gab Kinos, Restaurants, Straßencafés, Museen, viele Möglichkeiten, das neue Leben zu genießen.

Lena erwartete den ersten Schultag mit Herzklopfen. Die Lehrerin geleitete sie in ihre neue Klasse. Neugierige Kinderaugen musterten die Fremde.
„Grüß Gott“, sagte Lena. Lautes Lachen war die Antwort. „Hier sagt man guten Tag“, belehrte sie die Lehrerin und wies ihr einen Platz neben einem Jungen zu, der allein saß und sie sogleich ungeniert anstarrte. „Udo, benimm dich und sei nett zu deiner neuen Mitschülerin“, mahnte die Lehrerin, bevor man mit einem Diktat begann. Eine Flut unbekannter Worte drang an Lenas Ohr. Was steckte hinter „Brötchen, Möhren, Schlitten, Bürgersteig, Straßenbahn, Wolkenkratzer, Couch, Clown, toll“???
Sie kannte „Semmeln, Karotten, Rodel, Trottoir, Tram, Häuser, Sofa, Spaßmacher, super“!!!
„Aus welchem bayrischen Kuhdorf kommst du?“, fragte sie Udo in der Pause. „I komm aus Klosterneuendorf, kein Dorf, a Kleinstadt“, fügte Lena hastig hinzu. Aber Udo brüllte schon laut zu den anderen: „ Habe ich es euch nicht gesagt. Die Neue kommt aus einem bayrischen Kaff.“ War Kaff das Wort für Kleinstadt, überlegte Lena. Sie blinzelte hoffnungsfroh zu den anderen Kindern. Früher hatte man nicht ständig über ihre Worte gelacht, aber Hauptsache, sie fand Spielgefährten. Keiner forderte sie jedoch zu einem gemeinsamen Spiel auf. Die Kinder lösten sich wieder in verschiedene Gruppen auf, nachdem sie ihren Spaß mit ihr gehabt hatten.
Lena trat den Heimweg allein an, als sie Schritte hinter sich hörte und Udo erkannte.
„Du hast einen schicken Pullover an“, grinste Udo. Lena schaute stolz auf den von ihrer Mutter selbst gehäkelten zitronengelben Pullover. „Trägst du auch Dirndl?“ „Jo mei, kennst das auch?“ fragte Lena beglückt. Udo hatte sich ihr unbemerkt genähert und nun griffen seine Hände auf ihre Brust. „Was sind das denn für Höcker?“ Lena reagierte prompt. Sie schlug Udo heftig ins Gesicht und rannte davon. Ein stechender Schmerz wühlte unterhalb des Bauches, während sie nicht aufhörte zu laufen, als könnte sie allem für immer entrinnen.
Zu Hause angekommen, sah sie Blut die Beine hinunterlaufen und hemmungslos schluchzend fiel sie ihrer Mutter in die Arme.
„Und dann hab i dem Udo a Watschn gebn“, schloss Lena den Bericht.
„Du musst jetzt aufhören, mit den Buben zu raufen“, hörte Lena zu ihrer Verwunderung ihre Mutter sagen. „Und das mit dem Blut ist auch nicht Udos Schuld. Weißt, du wirst jetzt langsam eine Frau und da wirst jeden Monat bluten, aber das ist nicht schlimm. Das haben alle Frauen.“

Nie wieder trug Lena den selbst gehäkelten Pullover, sondern sie suchte ihre Höcker durch weite Kleidung zu kaschieren. Sie hasste den Körper, der ihr fremd geworden war, und strafte ihn durch Essensentzug.
Nachts träumte sie, wie sie an hohen Häuserwänden entlang lief, die langsam immer niedriger wurden, in eine Baumallee übergingen und den lichterfüllten Himmel öffneten. Ihr Körper verlor die ungeliebten Rundungen, wurde wieder ein biegsamer, schlanker Ast wie einst. Am Ende der Allee warteten ihre alten Kindheitsfreunde auf sie. Gemeinsam sprangen sie in den See, spritzten sich nass, tollten, rauften, lachten unbeschwert von aller Zeit.

Drei Jahre später in Klosterneuendorf.
„Jo mei, schauts her! Da kimmt unser oids Lenal. Guat schaust aus, a richtige feine Dame bists wordn. Na, wie gfeutst da so bei de Saupreißn?“
„Guten Tag. Schön, euch mal wieder zu sehen. Wie geht es dir, Eddi? Was machst du so? Hilfst du deinem Vater immer noch bei der Heuernte? Und was macht Barri, der Bernhardiner, lebt er noch?“
„Jo, wie redstn du daher. Koa Mensch ko di so vastehn, wannst so redst.

Letzte Aktualisierung: 09.04.2009 - 22.29 Uhr
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