Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Werner Vogel IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
April 2009
Bonanza
von Werner Vogel

Damals war ich ein kleiner Junge, vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt. Wie alle aus meiner Generation war ich geprägt von den Kriegserzählungen meines Großvaters, dem Ehrgeiz meiner Eltern, etwas Großes zu vollbringen, und von „Raumschiff Enterprise“ und „Bonanza“. Selbstbewusst und kritisch, verstockt und eigensinnig, wie die heutigen Kinder es oft sind, war ich nicht. An Mut fehlte es mir, das spürte ich selbst.

Ich kann mich noch deutlich an das Gefühl erinnern, als meine Eltern mir an jenem Nachmittag eröffneten, sie würden am Abend ausgehen und ich wäre erstmals allein daheim und müsse nach dem Rechten sehen. Einerseits war ich stolz auf ihr Vertrauen, andererseits aber graute mir vor dem Gedanken, im Finsteren, wo noch die Sagenfiguren der frühen Kindheit lauerten, ohne Schutz zu sein. Natürlich gestand ich diese Angst nicht ein, sondern tat so, als würde ich mich auf die nächsten Stunden freuen. Nachdem sich die Türe hinter meiner Mutter, der es ohnehin schwer fiel zu gehen, geschlossen hatte, rannte ich direkt in die Küche und holte mir ein langes, spitzes Messer. Dieses ließ ich auch beim Fernsehen, das mir Vater ausdrücklich verboten hatte, nicht aus der Hand. Aus Trotz gegen meine lächerliche Feigheit wählte ich in den zwei Kanälen, die damals gesendet wurden, den Horrorfilm „Fog – Nebel des Grauens“ aus. Nach etwa zehn Minuten des Streifens hatte ich nicht einmal mehr genug Courage, um aufzustehen und den Apparat auszuschalten. Das Morden im Nebel nahm kein Ende und draußen vor dem Fenster und drüben im Schlafzimmer und im Vorzimmer war es stockdunkel.

Der Fernseher lief weiter, auch als der Film zu Ende war. Ich blickte ständig auf die Uhr. Meine Eltern mussten in einer Stunde wieder zurück sein. Vater würde schimpfen, das war klar, aber an ein Aufstehen war nicht zu denken. Geister und Teufel lauerten überall. Plötzlich klopfte es an der Haustüre. Ich zuckte zusammen, mein Herz raste. Wer konnte das sein? Hatten etwa Vater und Mutter den Schlüssel vergessen? Warum läuteten sie dann aber nicht, sondern klopften sie? Durfte ich überhaupt um diese Zeit noch öffnen, war das bloß ein Test meines strengen Vaters? Das Klopfen wurde heftiger. Ich umklammerte das Küchenmesser noch stärker mit meinen schwitzenden Kinderfingern und erhob mich zögernd. Werbung für Haarshampoo lief im Fernsehen, das beruhigte mich ein wenig.

Auf meinem Weg zum Eingang betätigte ich jeden Lichtschalter, den ich erreichen konnte, so dass die Wohnung nun strahlend hell erleuchtet war. Als ich endlich vor der Türe stand, nahm ich alle Kraft zusammen und rief mit möglichst tiefer Stimme: „Wer ist denn da um diese Zeit?“ Dumpf hörte ich die Antwort: „Bin ich Kaptschak, eure Nachbar, hab ich wichtiges Mitteilung!“ Nun war ich endgültig aus der Fassung gebracht. Kaptschak stand da vor meiner Türe, der alte Kaptschak, den wir Kinder einmal mit Kirschenkernen bespuckt hatten, Kaptschak mit dem schwarzen Bart, der stets finster dreinblickte, der unsere Sprache nicht kannte, Kaptschak, dessen Frau und Kinder, wie meine Mutter manchmal flüsternd ihren Freundinnen erzählte, vor Jahren verschwunden waren! Wollte er sich etwa rächen für die Kirschkerne? Damals hatte er sich doch bei meinem Vater beschwert. War ihm das nicht genug? „Lasst den doch in Ruhe, den armen Narren“, hatte Vater mich nur halbherzig ermahnt und sogar gelächelt dabei. Nun aber gab es nichts mehr zu lachen, nun stand Kaptschak mitten in der Nacht vor unserer Wohnung. Mir fiel ein, dass Großvater erzählt hatte, wie grausam diese Russen im Krieg gewesen wären. Manchmal hätten sie sogar Kinder entführt und sie in Bergwerken verhungern lassen. Kaptschak war sicher auch so ein Russe, wo immer dieses Russien auch sein mochte! „Öffnen schnell, sein wichtig!“, klang es von draußen herein. In diesem Augenblick durchströmte mich ein Gefühl, das ich bis dahin nicht gekannt hatte. An jenem Abend dachte ich dummer Bub, es wäre endlich Mut, der Mut von Captain Kirk und Hoss Cartwright. Ich musste mein Zuhause, ja mein Vaterland und meine Muttersprache verteidigen! Auch wenn der Russe draußen um vier Köpfe größer war als ich! Das war ich schon meinem Großvater schuldig, der beinahe nach Stalingrad geschickt worden wäre. Mit einem Ruck riss ich also an der Klinke, die Türe schwenkte auf. Im Halbdunkel, erzeugt vom Vorzimmerlicht und einer weit entfernten Straßenlaterne, stand Kaptschak ganz nah vor mir. Ich hielt ihm das Küchenmesser vor die Nase und grinste böse.

Den Blick Kaptschaks werde ich nie vergessen. Es war ein trauriger, verächtlicher und zugleich mitleidiger Blick aus dunklen Augen, die bereits viel Dunkles gesehen haben mussten. Das Messer völlig ignorierend sagte Kaptschak mit leiser Stimme: „Haben Vater Gartenschlauch nicht gut ausgemacht, haben ganzen Garten überschwemmt gewesen. Bin über Zaun und haben repariert. Sagen das dem Vater.“ Dann drehte er sich um und ging.

Wenige Minuten später lag ich schon im Bett. Meine Zähne hatte ich diesmal besonders sorgfältig geputzt, trotzdem war ein schaler Geschmack in meinem Mund geblieben. Das Küchenmesser befand sich wieder in seiner Lade, der Fernseher war ausgeschaltet. Alles war also in Ordnung. Ich selbst schämte mich und war wohl ein Stück erwachsener geworden.

Als meine Eltern zurückkamen, war ich noch munter. Natürlich erzählte ich ihnen von Kaptschaks Besuch, freilich ohne Messer und Fernseher zu erwähnen. Aber sobald mein Vater zornig murmelte: „Deswegen hätte er den Buben nicht mitten in der Nacht aufschrecken müssen …“, entgegnete ich etwas zu laut: „Er hat’s ja nur gut gemeint!“. „Was die so alles gut meinen“, sagte meine Mutter, schüttelte den Kopf, drehte das Licht ab und schloss die Türe meines Kinderzimmers. Ich lag lange wach.

In den nächsten Monaten vermied ich jede Begegnung mit Kaptschak. Traf ich ihn doch einmal unvorbereitet beim Einkaufen oder auf der Straße, sah ich weg oder kramte in meiner Schultasche, als ob ich etwas Wichtiges zu suchen hätte. Wieder etwas später zogen neue Mieter in Kaptschaks Wohnung ein und er selbst war aus meinem Leben verschwunden. Die Frage aber, was Mut ist und was Feigheit, beschäftigt mich noch heute.

Letzte Aktualisierung: 02.04.2009 - 08.45 Uhr
Dieser Text enthält 6295 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.