Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
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April 2009
Im Regen
von Mira Langrock

Ich erwachte an einer Straßenecke, verloren in einer Schlucht aus mehrstöckigen Gebäuden. Ein Strom von Menschen schlängelte sich an mir vorbei, als ob ich nicht existierte. Doch sie trafen mich nicht mit ihren eiligen Schuhen, auch wenn ich in meiner liegenden Position einen Teil des Bürgersteigs einnahm. Diese Erkenntnis brachte mich dazu, nicht gleich aufzuspringen, sondern lediglich aus ihrer Laufbahn zu rutschen. Ich lehnte mich mit dem Rücken an eine Hauswand und versuchte diese fremde Situation zu ergründen.
Verwirrt betrachtete ich meine Hände, so als ob ich sie zum ersten Mal sah, und schaute dann hinauf in den Himmel. Er starrte grau zurück und bespuckte mich mit Wasser, so dass ich meinen Blick wieder senken musste.
Regen. Das erklärte zumindest, weshalb ich fror.
Doch warum fiel es mir so schwer, einen klaren Gedanken zu fassen? Es schien, als sei die Welt zu schnell geworden, als wäre die Zeit mit doppelter Geschwindigkeit vorangeschritten und hätte mich hier zurückgelassen.
‚Hier’. Das Wort hallte in meinem Kopf wider. Wo war ‚hier’?
Diesmal suchte ich meine Antwort nicht im Himmel, sondern in den Gesichtern der Menschen, die an mir vorbeieilten. Doch genauso gut hätte ich versuchen können, die Kennzeichen der Autos auf einer Schnellstraße zu lesen. Ich streckte meinen kraftlosen Arm aus, um nach ihnen zu greifen, doch die vielen Hosenbeine und Rocksäume glitten durch meine Hand hindurch wie Wasser.
‚Wenn ihr doch nur einmal stehenbleiben würdet!’, schrie eine erboste Stimme in meinem Kopf. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich den Klang meiner eigenen Stimme gar nicht kannte. Als ich meinen Mund öffnete und versuchte, einen Ton herauszubekommen, hielt ihn eine unsichtbare Kraft in meinem Rachen zurück.
„Du siehst aus wie ein Fisch auf dem Trockenen.“
Die Worte mit dem amüsierten Unterton drangen nur stückweise zu mir hindurch. Ich richtete meinen Blick nach links und er wanderte langsam nach oben, entlang an einer schmutzigen, grauen Anzughose und einem ebenso schmutzigen, grauen Jackett. Schließlich traf er auf das Gesicht eines fremden Mannes, der träge auf mich hinab sah. Doch das aufgeweckte Funkeln in seinen tiefliegenden Augen hatte mich fixiert.
Warum war mir seine Gegenwart nicht schon früher aufgefallen? Er war mir fast so nah wie die Wand, an der ich lehnte. Als ob er meinem Vergleich gerecht werden wollte, glitt er an dieser hinab und ließ sich neben mir auf dem harten Beton nieder.
Erst jetzt konnte ich ihn eingehender betrachten. Er hatte einen Mehrtagebart und fettige Haare. Beide waren grau wie seine Kleidung und der Himmel über uns. Doch auch wenn er in meinen Augen das Aussehen eines Obdachlosen hatte, wirkte er gleichzeitig wie der einzig echte Mensch hier. Nicht wie diese unaufhaltsamen, an uns vorbeiziehenden Gestalten.
Er griff in die Innentasche seines Jacketts und zog eine bunte Schachtel hervor, die er mir hinhielt.
„Zigarette?“
Ich antwortete nicht, sondern schaute nur abwechselnd von seinem Gesicht zu der Schachtel und zurück.
„Nichtraucher, hm?“, sagte er und zog seinen Arm wieder zurück. „Da hab ich ja noch einmal Glück gehabt, denn das ist die Letzte.“
Bedächtig öffnete er die Schachtel, zog mit seinen Lippen den weißen Stängel heraus und kramte mit der linken Hand ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche hervor.
Wie in Trance beobachtete ich die Flamme, die eine Glut am anderen Ende der Zigarette entfachte – der Regen schien ihr nichts anhaben zu können. Er sog den Rauch mit geschlossenen Augen ein, so als ob er schon lange nicht mehr in den Genuss des Nikotins gekommen war.
Mir fiel auf, wie einfach es war, seinen Bewegungen zu folgen. Ich fühlte mich mit ihm zusammen wie von einer Glocke umhüllt, unter der die Zeit normal zu vergehen schien. Auch fror ich nicht mehr so stark. Ja. Man hätte fast behaupten können, ich fühlte mich wohl in der Gegenwart dieses Fremden.
Erst jetzt vermochte ich mein Schweigen zu brechen: „Wo sind wir?“
„Hast du endlich deine Stimme wiedergefunden, Tim.“
Er betrachtete mich mit einem warmen Lächeln, das sich bis zu seinen Augen hochzog und dort Fältchen warf.
‚Tim’. Der Name klang ebenso fremd wie die Stimme, die ihm die Frage gestellt hatte. War das mein Name oder war der Mann lediglich verwirrt?
Sein Blick wurde mit einem Mal traurig. Er wandte ihn ab und sah zu Boden.
Als er sprach, klang seine Stimme kraftlos und erschöpft: „Ich habe schon viele verlorene Seelen wie dich getroffen und kenne solche Nächte nur zu gut: du bist verzweifelt, weil du verlassen worden bist. Du versuchst, dich in den Alkohol zu flüchten. Dann gerät plötzlich alles aus dem Ruder und schließlich ist es zu spät, um noch umzukehren.“
Auch wenn ich sonst keine Ahnung hatte, was ich hier machte oder wer er war, erschienen mir seine Worte sinnvoll. Sie weckten eine Erinnerung.

Es ist Nacht. Im schummrigen Licht der Stehlampe erkenne ich die vielen leeren Flaschen auf meinem Couchtisch. Alles dreht sich. Ich versuche einen Fixpunkt zu finden. Mein Blick wandert zum Fenster. Was wäre, wenn ich springen würde?

Dann war das Bild wieder verschwunden und ließ mich mit dem Mann im Regen zurück. Trotz des Treibens um uns herum war eine Angst einflößende Stille zwischen uns getreten. Ich musste ihn ansehen, um sicher zu gehen, dass er noch vollständig neben mir saß und nicht nur seinen Körper zurückgelassen hatte. Wie zur Antwort sah er mir in die Augen und zog wieder an seiner Zigarette.
„Du hast mich gefragt, wo wir sind“, sagte er gepresst, da der Rauch sich auf seine Stimmbänder gelegt hatte. „Am Ende, würde ich sagen.“ Er lachte kurz auf, doch es klang eher nach einem erstickten Husten.
‚Am Ende?’ Seine Worte ergaben kurzzeitig keinen Sinn für mich. Doch dann betrachtete ich meine jetzige Situation ganz objektiv, und ich verstand. Wir mussten beide wie Obdachlose ausgesehen haben. Verwirrt und verloren.
Meine Mundwinkel zuckten kurz im Anflug eines Lächelns. Es war wirklich ein komisches Gefühl, auf dem Boden der Welt zu sitzen und das Leben an sich vorbeiziehen zu lassen. Erst jetzt verspürte ich den Drang aufzustehen.
Der Mann griff diesen Gedanken auf und erhob sich. „Komm, lass uns gehen!“, sagte er und reichte mir seine schmutzige Hand.
Auch wenn seine Aufforderung meinem Wunsch entsprach, zog sich mein Innerstes bei seinen Worten zusammen und eine unbestimmte Angst kroch mir den Rücken hinauf. Ich fing wieder an zu frieren. Trotzdem ergriff ich wie aus einem Reflex heraus seine Hand und ließ mich auf die wackligen Beine ziehen. Hätte er mich nicht sofort gestützt, wäre ich mit Sicherheit wieder zu Boden gesunken.
„Danke“, brachte ich mit rauer Stimme hervor und räusperte mich. „Wo gehen wir jetzt hin?“
„Zuerst einmal weg von diesem tristen Ort“, sagte er bedrückt.
Ich schaute noch einmal zurück und betrachtete die Stelle, an der wir bis vor wenigen Sekunden noch gesessen hatten. Obwohl es nicht sehr stark regnete, war der Boden dort bereits völlig benässt. Erst jetzt bemerkte ich den großen, dunklen Fleck, in dem ich anscheinend die ganze Zeit gesessen hatte. Auch die Menschen um uns herum machten einen großen Schritt darüber. Schnell überprüfte ich meine Kleidung, doch sie schien nichts abbekommen zu haben.
Der Mann zog mich kurz zur Seite, um eine junge Frau vorbeizulassen, die uns entgegenkam.
Sie würdigte uns keines Blickes. Stattdessen sah sie zu Boden und ich bildete mir ein, Tränen in ihren Augen zu erkennen. Mir fiel der kleine Blumenstrauß auf, den sie in den Händen hielt. Etwas an ihr kam mir vertraut vor und so konnte ich nicht umhin, ihr hinterher zu schauen. Sie hockte sich neben den Fleck und lehnte die Blumen an die Hauswand.
Ich legte meinen Kopf schief, denn ich versuchte ihre Geste zu begreifen. Ohne zu wissen warum, wanderte mein Blick an der Wand nach oben und ich hatte das merkwürdig vertraute Gefühl, zu fallen.
Doch die Stimme des Mannes, der mich noch immer stützte, drang beruhigend an mein Ohr: „Na komm! Oder willst du hier bleiben?“
„Nein“, sagte ich schnell. Etwas in mir war sich ziemlich sicher, dass dieser befremdliche Ort nicht zum Verweilen gedacht war.
Wir kehrten der Frau den Rücken und ich ließ mich erschöpft in die Ungewissheit davontragen.

Letzte Aktualisierung: 16.04.2009 - 10.23 Uhr
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