Futter für die Bestie
Futter für die Bestie
Gruselig geht's in unserer Horror-Geschichten-
Anthologie zu. Auf Gewalt- und Blutorgien haben wir allerdings verzichtet. Manche Geschichten sind sogar witzig.
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April 2009
Gebrandmarkt
von Bettina Kenter

Tag für Tag diese Angst. Die Angst, ihnen wieder in die Hände zu fallen.

Jetzt wandle ich durch die Straßen; gepflegte Straßen, sauber und ordentlich; eilige Menschen; man grüßt mich; grüßt mich wieder; doch ich bin gebrandmarkt; eine Fremde; fremd für alle Zeit.
Als ich das erste Mal ihnen in die Hände fiel, war ich jung.
Mein Verbrechen? Noch Jahre später träumte ich, ich würde hingerichtet, verurteilt wegen eines Sexualdelikts; und während ich die Stufen zum Hinrichtungsplatz hinaufschritt, war die größte Angst, wer nun sorgen würde für mein neugeborenes Kind? Es gelang mir, ihnen zu entrinnen. Ein Mensch, der Erbarmen hatte, half. Geld vermag vieles. Auch Glück war dabei. So gelang uns die Flucht. Dass ich ihnen nie wieder, dass ich ihnen niemals mehr in die Hände fallen würde, das hoffte ich.
Die Vorübereilenden grüßten, und ich, eine Fremde nun, grüßte zurück.
Dann kam einer und nahm uns das Dach über dem Kopf.
Welches Gericht hätte nicht geglaubt dem angesehenen, wohlhabenden Mann? Und wer hätte nicht misstraut einer gebrandmarkten Fremden? So wurden wir vertrieben. Ich fragte und suchte und klopfte an Türen und flehte um Obdach für mich und mein Kind, doch niemand wollte uns beherbergen; und niemand wollte mich noch kennen; und niemand grüßte mich noch. Wohin? Wohin mit dem Kind? Ein Mensch, der Erbarmen hatte, half. Geld vermag alles. So fanden wir ein neues Zuhause. (Und dass ich nie wieder, dass ich niemals mehr Gefahr laufen würde, obdachlos zu werden, das hoffte ich, gewiss.)
Ein neues Zuhause. Doch zu welchem Preis!
Tagelöhnerin war ich; war ich schon immer gewesen; doch immer schwerer war es nun, Arbeit zu finden auf den Sklavenmärkten der Welt. Woher sollte ich nehmen, was nötig war? Wie es erdienen? Tagelöhnerin war ich; vogelfrei, ohne Sicherheit, ohne Schutz.
So verdingte ich mich zu jedem Preis und für jede Tätigkeit.
Doch die Löhne wurden geringer und die Tätigkeiten unwürdiger, Jahr für Jahr. So, schließlich, diente ich Männern, um Schutz zu geben und Sicherheit, Tag für Tag, meinem Kind. Das Tageslicht sah ich selten. Sah ich jahrelang fast nie. Wie in Ketten saß ich in meinem dunklen Verlies. Der Apfelbaumgrün vor dem Haus sagte mir, dass schon wieder ein Winter vergangen war, noch einer, schon wieder einer; und im Frühjahr flüsterte mir das Apfelbaumblütenrosa vom Leben. Ich wollte den ... wie soll ich sie nennen? ... nicht wieder in die Hände fallen; nicht noch einmal. Doch wer teilt mit denen, denen alles schon genommen ist, vor allem die Zukunft? Die Kosten stiegen und die Karglöhne sanken weiter und die Reichen im Land wurden noch reicher und die Armen noch ärmer und die Jahre vergingen und das Kind wurde groß und zog in die Welt, um beizutragen zu einer besseren. Krank, dem Tode näher als dem Leben, verließ ich alles, zog von hier nach dort (weil das Leben dort günstiger war), und von dort nach hier (weil es dort keine Arbeit mehr gab). Doch nun, da ich kein Kind mehr zu versorgen hatte, wollte ich nicht Männern mehr dienen. So fiel ich doch wieder ihnen in die Hände, den argen, den ... wie soll ich sie nennen?
Sie blickten verächtlich und gaben mir gerade so viel, dass niemand ihnen würde nachsagen können, sie ließen Menschen verhungern; doch selbst um Essen zu kaufen, war das Wenige zu wenig; zu wenig allemal für Papier und Tinte und Briefmarken. So beraubten sie mich meiner Stimme. Und sie zwangen mich, Tätigkeiten zu erlernen, die ich besser beherrschte als jene, die mich sollten lehren; und zwangen mich, Tätigkeiten zu verrichten, für die meine Knochen nicht taugten, Knochen, die kaputt waren vom Schleppen zu vieler Lasten, Lasten, die anderen zu schwer gewesen waren. Als ich aufbegehrte, ließ man mir noch weniger, so dass ich betteln musste um das Nötigste.
Und grußlos eilten vorüber, die mich nun nicht mehr kennen wollten – denn wer teilt mit denen, denen alles schon genommen ist, vor allem die Zukunft?
Auch meiner Freizügigkeit war ich beraubt; nicht mehr frei bewegen durfte ich mich; unfreie Freigängerin nun, musste ich Meldung tun, wann immer ich mein Dorf verlassen wollte. Und erbarmte sich jemand und lud mich zum Essen ein, so musste ich auch dies melden, melden den arglistigen, argen... wie soll ich sie nennen? ... damit sie den Preis des Gastmahls errechnen und von mir zurückfordern konnten in Münze. Denn das war nun Gesetz: dass die besser Gestellten nicht einmal ein Mittagessen mehr schenken durften den Ärmsten der Armen.
Ja, seid Ihr denn wahnsinnig? Das können doch Menschen nicht Menschen antun?!
Jetzt wandle ich wieder frei durch die Straßen; viel Glück war dabei.
Wieder blüht der Apfelbaum. Meine Tochter ist eine Frau geworden, daheim in der ganzen Welt. Frei wandle ich durch die Straßen; man grüßt mich; doch ich bin eine Fremde geblieben. Und möchte schreien: Es ist mitten unter euch! Ja, hört denn niemand?! Hier ist es, hier! Seht ihr nicht die junge Frau, verstummt in Hoffnungslosigkeit, wankend vor Müdigkeit? Hört ihr nicht das Weinen des Kindes, das kein warmes Essen hat und keinen Freund? Merkt ihr nicht den Menschen, der da friert mitten unter euch, weil sein Zuhause ungeheizt ist und so kalt wie seines Nachbarn Herz?
Seht ihr nicht? Hört ihr nicht? Merkt ihr nicht?
Nein. Niemand hört. Niemand will hören. Will glauben.
Die Menschen, die dahinhasten auf den Straßen, sie fürchten sich; fürchten insgeheim, dass auch sie selbst den ... wie soll ich sie nennen? ... in die Hände fallen könnten, denn jeden kann es nun treffen und jede. Und wer den Gehetzten berichten will von kalten, schlaflosen Nächten oder von der Furcht, Haus und Hof zu verlieren, vom Verlassensein oder vom Schlangestehen um Essen, von der Entwürdigung, der Demütigung, der Ohnmacht, der Entrechtung ... dem sagen sie: „Aber uns geht es doch gut! Siehst du nicht, wie gepflegt unsere Straßen sind? Wahrhaftig, wir können nicht klagen!“ Und sie eilen noch schneller, um ihre Haut zu retten. Doch wenn ihr glaubt, ihr könntet entrinnen, indem ihr schneller und schneller lauft, so lasst euch sagen: Es nützt nicht! So haltet doch ein!! Seht doch! Immer mehr werden es, die sich müssen beugen der Willkür und ernähren von mildtätigen Gaben; und immer mehr sind gezwungen, Arbeiten zu verrichten, für die sie nicht taugen; immer mehr sind es, die gezwungen sind zum Fron und verkaufen müssen ihre Lebenszeit, Stunde um Stunde, für Sklavenlohn; immer mehr, die vertrieben werden von Haus und Hof, und die da bitten müssen Anwälte, ihnen beizustehen um Gotteslohn vor Gericht, doch wird das Gericht ihnen beistehen?
Abertausende sind es, Millionen bereits, und es werden noch mehr.

Ja, seid ihr denn wahnsinnig? Das können doch Menschen nicht Menschen antun?!

Gerade jetzt wandle ich frei durch die Straßen, gerade jetzt grüßt man mich freundlich; gerade jetzt habe ich Papier und Tinte und Briefmarken; gerade jetzt kann ich meine Stimme erheben. Doch ich bin bleibe eine Fremde; auf immerdar fremd; und ich fürchte den Tag, da ich ihnen erneut in die Hände falle, den argen ...
... ARGEn.
Deutschland
im Jahr 2009

DIE FAKTEN
· Alleinerziehende Mütter sind in besonderem Maß dem Risiko ausgesetzt, den ARGEn in die Hände zu fallen. · Auch bei Wohnungsverlust (etwa durch Spekulanten) droht Abhängigkeit von den ARGEn. · Die ARGEn dürfen, seit Prostitution nicht mehr „sittenwidrig“ ist, Frauen nun auch in den Bereich „sexuelle Dienstleistungen“ vermitteln; da verschreibt sich manch Hilflose dem Unzumutbaren lieber ohne Behördenaufsicht. · ARGEn-Abhängige können oft nur mit Hilfe der Armentafeln überleben. · „Eingliederungsvereinbarungen“ der ARGEn sind de facto Diktate zur Zwangsarbeit. Unterschrifts-Verweigerung führt seit Neuestem zwar nicht mehr zur Kürzung des Regelsatzes, der ohnehin weniger als das Lebensminimum darstellt, der Inhalt der EV kann nun aber durch einen Verwaltungsakt angeordnet werden, gegen den juristisch vorzugehen ungleich schwerer ist. · Die Ärmsten der Armen in diesem Lande genießen keine Freizügigkeit; sie dürfen ihre Heimatgemeinde nicht länger als einen Werktag verlassen, ohne dies den ARGEn zu melden. · Jedes 10. Kind in Deutschland ist abhängig von den ARGEn. · Selbst unvermeidbare Wohnkosten werden von den ARGEn oft nicht anerkannt, so dass ARGEn-Abhängige Millionenbeträge, die ihnen widerrechtlich vorenthalten werden, selbst aufbringen müssen. Nur: wie? Oder umziehen. Nur: wohin? · Die Ärmsten der Armen in diesem Lande sind gesetzlich dazu verpflichtet, eine Mahlzeit, zu der sie eingeladen werden, den ARGEn zu melden; für ein Frühstück – beispielsweise – sind (entsprechend dem Regelsatz) 88 Cent zurückzuerstatten. · Die elektronische Fußfessel für Langzeit-Arbeitslose wurde bereits 2005 ins Gespräch gebracht. · Arme als Rattenfänger einzusetzen (1€ pro gefangener Ratte) hat ein Politiker 2009 öffentlich vorgeschlagen.

Deutschland
im Jahr 2009

Letzte Aktualisierung: 04.04.2009 - 19.00 Uhr
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