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Mai 2009
Kirschblütenfest
von Hajo Nitschke

„sa-ku-ra---, sa-ku-ra---, no-ja-ma mo sa-to mo---“ x ¹

Takumi hat den Arm um ihre Schultern gelegt. Beide lauschen dem Sakura-Lied, das aus vielen Kehlen in die einsetzende Dämmerung schallt. Seine melancholische Pentatonik mit ihrem markanten Tritonus legt sich wie süßer Tau auf das Blütenmeer. Lässt sich von diesem weiß und rosa färben. Hanami. Kirschblütenfest.

„mi-wa-ta-su ka-gi-ri---“ x²

Scheinwerfer werden eingeschaltet. Bestrahlen die Kirschbäume des Schulhofs. Blüten an den Zweigen, Blüten auf dem Boden. Auch auf einigen Dächern. Ein aus Milch und hellem Blut gewebter Teppich, so weit der Blick reicht. Wie weit? Miyus Augen wandern zu den Sternen, die – vereinzelt und erst schwach sichtbar – ihre ewig gleiche Bahn ziehen. Was kommt dahinter? Es muss die Erkenntnis sein. Das Nirwana, würden ihre buddhistischen Pflegeeltern sagen. Entrinnen aus dem ewigen Kreislauf: Mitgefühl, Versenkung und die fünf Tugenden, so lernte es Miyu.

„ka-su-mi ka ku-mo-ka--- a-sa-ki ni ni-o-u---“ x³

Miyu schaut den fast ein Jahr älteren Takumi verstohlen an. Seine Augen leuchten, als strahle aus ihnen bereits der erste Schein einer aufgehenden Sonne. Verlangend drückt er sie an sich. Doch sie weiß, sie werden jetzt gehen. Mit der Bahn nach Hause fahren. Jeder in seins. Denn obwohl schon spät, ist „es“ noch zu früh. Nur kein böses Karma, wenn auch die Sehnsucht schmerzt. Miyus erste Periode hat kürzlich eingesetzt. Obwohl sie ihre unreine Haut bedrückt und das Tampontragen lästig fällt, ist sie glücklich. Zur Frau geworden. Einen Freund haben, um den sie die anderen Mädchen beneiden. Exzellente Leistungen. Nichts wird dem Eintritt in Oberschule oder Senior-High-School im Wege stehen. Dann das College. – Noch einmal der Blick in den frühen Abendhimmel. Die Sterne ziehen her und ziehen hin mit der Genauigkeit eines Uhrwerks. Wer mag es so genial konstruiert haben? Buddha, der Erleuchtete?

* * *

Sie sitzt in der Bahn, auf dem Weg nach Yanaka, dem alten Stadtteil. Die Familie lebt dort in einer traditionell eingerichteten japanischen Kleinwohnung. Vor einem Jahr zog man in die Weltmetropole Tokio. Prajna, die Weisheit selbst, muss Regie geführt haben. Herrn Takahashis Gehalt ist einträglich, auch seine Frau hat einen Job. Und dann Takumi! Ach, Takumi, wie anders hätte ich dich sonst finden können? Miyus Herz klopft bei dem Gedanken an die zärtlichen Berührungen. Die Umarmungen. Nur ein Tisch trennt sie, die seit Monaten mehr Augen füreinander als für die Lehrerin haben. Oder für die PCs.

Im Rattern der Räder erinnert sie sich an den Wechsel zur Chugakko, ihrer Mittelschule im Stadtviertel Shibuya. Vor einem Jahr, ebenfalls Ende April, Frühlingsanfang, Beginn des neuen Schuljahres. Durch einen Kirschblütenregen treten die Schüler ein. Sakura, die Kirschblüte, das Symbol für die Zerbrechlichkeit weiblicher Schönheit. Doch Miyu fühlt sich jetzt begehrt und stark, seit sie Takumi liebt. Es muss sich bewahrheitet haben, was sie über den Kirschblüten-Regen sagen: Sie ist eine Gesegnete.

Vorstellung in der Lehrerkonferenz, dann in der Turnhalle vor der gesamten Schülerschaft. Zuletzt in der eigenen Klasse. Noch schüchtern, noch allein, wie meistens zuvor. Aber dann Anschluss. Hina, Ayake, Haruka, mit ihr zusammen ein ausgelassenes Quartett. Gemeinsam durch dick und dünn. Zusammen lernen, zusammen in die Pausen und nachmittags in die AGs oder Clubs. Vereint leiden, sich vereint freuen. Und gemeinsam kichern über Hinas Erfahrungen mit ihrem ersten Dildo. Oder über Ayakes unsterbliche Liebe. Ausgerechnet zu einem medienpräsenten NATO-General, dem sie noch nie persönlich begegnet ist.

‚Und verrat es keinem!’ ‚Nein, ich schwör’s.’ ‚Hast du gesehen? Der Kuuki …’ ‚Du und Kuuki? Ich glaub es nicht!’ ‚Mir läuft ja der Hayoto nach.’ ‚Und mir der Takumi!’ Da war es raus. Ja, Takumi, der Schwarm ihrer Mitschülerinnen, hat irgendwann nur noch Augen für Miyu. Auf einer Woge des Glücks treibt sie durch den Rest des ersten Schuljahres.Und dann dieser Tag. Heute. Die heimlichen Küsse, als sie über das Blütenparkett wandern und einen Moment unbeobachtet sind. Worte der Liebe, mit denen Miyu höchstens in ihren Träumen gerechnet hätte.

Yanaka. Sie steigt aus. „Wie war es?“, fragt Frau Takahashi, als sich ihre Pflegetochter zu ihnen auf die Kissen am Tisch niederlässt. Abendessen. Aufgewärmt, denn heute ist es spät geworden. Etwas roter Kaviar, in Seetang gerollt. Ein Schälchen Reis, Maultaschen. Miyu legt die Stäbchen beiseite. Erzählt, indem sie auch den goldenen Buddha auf der Vitrine in ihr Auditorium einschließt, von einem wunderschönen Fest. Verkaufsstände, Gemüsesuppe, Premium-Sake für die Erwachsenen. Gar eine Eisdiele, denn es ist Frühling. Wettkämpfe. Sieger im Seilziehen natürlich die Gruppe Takumis. Gesänge und Tänze. Zeremonien, die Mitwirkenden in festlichen Trachten. Der Rektor in einem roten, bis zu den Knöcheln reichenden Kimono. Und natürlich Kirschblüten. Kirschblüten, die alles in rosa schimmernden Schnee tauchen.

Die Takahashis sind angetan von der Schilderung. „Ist es dir mit diesem Jungen denn ernst?“ Sie nippt an ihrem Bancha, dessen Duft und dezenten, feinen Geschmack sie so mag. Um wie viel intensiver aber als der grüne Tee war der Genuss von Takumis Küssen gewesen: „Ernster kann es nicht sein. Er hat gesagt, ich sei schöner als die Kirschblüten. Und dass er mich immer lieben wird.“ – Herr Takahashi schaut auf sein Multifunktions-Armband. Drei Tatami-Matten werden zum Schlafen hergerichtet. Die Wohnstube verwandelt sich in ein Schlafzimmer. Buddhas Kirschblüten-Segen wacht über ihnen. Und über allem kreisen die Sterne in stoischer Ruhe. Wie aufgezogen. Unbeeindruckt und gelassen wie Erleuchtete.

* * *

Am nächsten Tag. Unterricht in Kalligrafie, dann Altjapanisch. Frau Sayaka, die Klassenlehrerin, scheint verärgert. Die Schüler sind unsicher. Das japanische Schulsystem ist streng. Frau Sayaka ganz besonders. Sie stammt aus der Sayo-Baureihe. Ein humanoider weiblicher Roboter in sechster Generation. Das von Dutzenden Mini-Motoren gesteuerte Latexgesicht über der cremefarbenen Bluse hat alle Freundlichkeit verloren. Wirkt unnahbar und kalt.

Miyu kennt den maschinellen Fortschritt aus dem Fach Modernes Japanisch. Nach dreizehn Jahren Arbeit war an der Universität Tokio der Prototyp dieses aus Metall und Kunststoff, Kabeln und Chips erschaffene Wunderwerk entstanden. Im Jahr 2009, Saya konnte damals nur vom Bildschirm aus agieren, hatte die Presse weltweit darüber berichtet. Nachdem Maschinen schon vorher als Messehostessen, an Rezeptionen und bei Alten- und Krankenpflege zum Einsatz gekommen, als Kampfroboter beim Militär verwendet oder im Haushalt in den Dienst genommen worden waren, nun die erste vollautomatische Pädagogin der Welt. Unfehlbar, nie krank, keine Bezahlung. Hatte der erste Bautyp nur die Anwesenheit zu registrieren oder Aufgaben zu stellen und zu zensieren vermocht, war Saya im Laufe der letzten dreißig Jahre zu einer Vollkommenheit gereift, welche die Bildungslandschaften vieler Länder in Verzückung geraten ließ. Manche finanziellen Probleme einer alternden Gesellschaft waren gelöst. Ungelöst jedoch in diesem Augenblick noch die Ursache für Frau Sayakas Missfallen.

„Takumi Watanabe! Vortreten!“ Was ist das? Takumi erhebt sich langsam. Alle Augen richten sich auf ihn. Seine Blicke suchen Miyu. Obwohl Solidaritätsbezeugungen untersagt sind, macht sie eine beruhigende Geste (‚Ich bin bei dir’). „Miyu Sato! Ebenfalls vortreten!“ Die Freundinnen sind beunruhigt. Haruka blickt mitleidig. Hat er sich zu häufig ein Nickerchen im Unterricht gegönnt? Aber die Lehrer dulden dies doch, indem sie den Schlafenden nicht wecken. Es ist sogar üblich, sich auf diese Weise gelegentlich zu erholen. Oder? Vielleicht wurde das Klassenzimmer nicht gesäubert? Mülleimer nicht entleert? Schulhof nicht gefegt oder Toiletten nicht gereinigt? Aber Takumi ist in dieser Woche nicht eingeteilt. Oder doch? Ist womöglich etwas mit der Schuluniform? Seine Eltern haben ihm doch gerade für 1.500 Yen eine neue gekauft, in dem schlichten, ungemusterten Weiß-Blau der Schule. – Jetzt betritt sogar Rektor Tanaka den Klassenraum. Baut sich vor Miyus Freund auf. Totenstille.

„Takumi Watanabe! Dein jährlicher Kontroll-Check ist seit zwei Tagen überfällig. Schau am Daten-Server nach! Du bist unzuverlässig, junger Freund! Sofort zum Wartungsterminal und aufladen! Im Übrigen einen Tadel eintragen, Frau Kollegin!“ Herr Tanaka demonstriert den Checkup am eigenen Armband. Streift es ab, klappt es auf. Allerdings nicht am Display, sondern an dessen Rückseite! Berührt einen Touch-Sensor. Unwillkürlich greifen viele der fast vierzig Mitschüler an die Handgelenke. Ayake nickt erleichtert. Auch Haruka und Hina scheinen beruhigt. Die Armbänder! In ihren unterschiedlichsten Ausführungen und Farben bekommen sie eine überraschend neue Bedeutung. Miyus Herzschlag stockt. Seit einem Jahr auf dieser neuen Schule, aber wohin ist sie hier geraten? Sie begreift erst allmählich. Takumi! Er auch? Das eigene Band hängt plötzlich mit Zentnergewichten am Arm. Ein Verdacht steigt auf. Zu jedem Geburtstag schenkt ihr der Pflegevater ein neues. Mit unterschiedlichstem Design, aus verschiedenen Ländern. Zuletzt eine Seiko-24. Er ist doch nicht …? Er hat doch nicht etwa…? Der Körper zittert, leicht geben die Knie nach.– Lähmendes Entsetzen, sie wagt den Gedanken nicht zu Ende zu denken. Aber mechanisch, wie in Trance, nimmt sie die Seiko ab. Wendet das Gehäuse.

* * *

Man sieht zu diesem Zeitpunkt in Japan die Sterne nicht. Aber sie sind da, werden zum Abend wieder wahrzunehmen sein. Auf ekliptischen Bahnen, die ein Erleuchteter vorprogrammierte. Mit der Präzision eines Uhrwerkes. Mit der Unfehlbarkeit eines Großrechners. Kühl sind sie, die Sterne. Und kalt ist Prajna, die Weisheit.




x ¹ „Kirschblüte, Kirschblüte, in den Feldern und Hügeln und Dörfern

x ² so weit das Auge reicht

x ³ wie Nebel, wie Wolken durftend, glänzend in der aufgehenden Sonne

Letzte Aktualisierung: 24.05.2009 - 15.42 Uhr
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