Futter für die Bestie
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Gruselig geht's in unserer Horror-Geschichten-
Anthologie zu. Auf Gewalt- und Blutorgien haben wir allerdings verzichtet. Manche Geschichten sind sogar witzig.
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Mai 2009
Klassentreffen
von Michael Pick

Zwischen zwei Rechnungen lag ein rosafarbener Briefumschlag. Er war an sie direkt adressiert: Lisa Peters, Libellenweg 4 in Klempau. Handschriftlich stand es geschrieben. Lisa drehte den Brief und als Absender las sie: Dörte Jähn, Allee der Freiheit, Berlin. Post aus Berlin, von Dörte.
Lisa erinnerte sich gut an Dörte. Blond und sportlich; wo sie war, war die Mitte und das Lachen, lautes Lachen. So eine war Dörte. Vor zwanzig Jahren. In Berlin lebte sie also. Raus aus der Kleinstadt. Sie war schon immer unternehmungslustig gewesen.
Was sie wohl wollte? Lisa überschlug die Zeit: zwei Jahrzehnte, seit sie sich zuletzt gesehen haben. Doppelt so lang, wie sie sich gekannt hatten. Die Schule war zu Ende gegangen und wie freigelassene Tauben, waren sie in alle Richtungen losgeflogen. Eine Dekade waren sie unzertrennliche Freundinnen gewesen und dann: Ein neues Leben; keine Zeit für Schulfreundschaften.
Lisa beschloss, sich und dem Brief eine Pause zu gewähren. Zum Mittag kam Michael aus dem Büro vorbei. Lisa erzählte nicht von dem Brief, Michael fragte nicht. Sie trug ihn wie einen Schatz in ihrer Hosentasche. Dass er ihr Geheimnis war, gab Lisa ein Stück Macht über Michael.
Als Michael wieder ins Büro gefahren war, atmete Lisa auf. Der rosafarbene Umschlag lag nun vor ihr. So verschlossen, umgab ihn ein Zauber, ein kribbelndes Gefühl der Ungewissheit, viel zu schön, um es zu schnell zu verlieren. Doch dann griff sie fest zu und riss das Kuvert an der Seite auf. Eine Karte fiel heraus, auf die ein Foto geklebt war. Ein Foto aus dem Abschiedsjahr, das Abschlussbild ihrer Klasse. Die Schüler verkleidet und Lisa kannte noch alle beim Namen.
Sie klappte die Karte auseinander. Eine Einladung zum Klassentreffen. Die Karte in ihrer Hand zitterte. Lisa las sie ein zweites Mal. Wie fröhlich Dörte schrieb. Die Worte flogen nur so über das Papier. Wie oft haben wir zusammen gelacht.
Ein Monat Frist. Ein Monat, um zwanzig Jahre aufzuholen. Vielleicht sollte sie gar nicht hingehen. Niemand wusste etwas von dem Brief – außer ihr. Niemandem musste sie etwas erklären – außer sich selbst.
Sie schleuderte den Brief von sich. Eine Falle. Als ob Dörte wusste. Was wusste?, fragte Lisa sich. Es wäre gut, noch eine Chance zu haben, zwanzig Jahre zurückzudrehen und nur das zu tun, was man sich erträumt hat. Ob die anderen ihre Träume von damals erfüllt haben? Bin ich die Einzige oder bin ich wie alle?
Lisa fand keine Antwort auf diese Frage. Sie grübelte bis in die Nacht hinein, als Michael längst neben ihr im Bett lag. Seine regelmäßigen Atemzüge wurden von Mofageknatter unterbrochen. Lachen klapperte durch die Dunkelheit, bis in ihr Schlafzimmer. Irgendwo in der Nacht summte eine Frau eine traurige Melodie und träumte, das dünne Sommerkleid über die Schulter gerutscht.
„Michael?“, Lisa lugte aus dem Fenster, „Michael, schläfst du schon?“
„Hmh“, Michael knatterte wie das Mofa, „die Frage lässt sich schwer mit JA beantworten.“
„Weißt du noch – früher?“
„Wann früher – vor einer Minute oder vor zehn Jahren? Kannst du dich nicht genauer ausdrücken?“
„Wir haben uns heimlich auf dem Trockenplatz getroffen – weißt du noch?“
Möglich, dass Michael nachdachte.
„Das muss lange her sein. Heute würde ich das nicht mehr aushalten. Ich bekomme sowieso zu wenig Schlaf. Die Arbeit, du weißt schon“, Michael schnaufte, als wäre er eben vom Trockenplatz gekommen.
„Das waren Zeiten! Schule, Ferien, du und ich – unzertrennlich! Voller Pläne.“
„Und? Haben wir es nicht zu etwas gebracht? Wir sind doch wer! Nun schlaf aber endlich. Morgen muss ich früh aufstehen.“
„Wie wäre es, wenn wir durch die Nacht laufen – nur du und ich, wie früher?“
„Hör jetzt auf“, Michael drehte das Gas auf und knatterte lauter, „Was vorbei ist, ist vorbei. Lass mich jetzt endlich schlafen!“
Lisa begann mit den Schultern zu zucken – mehr als einmal. Michael drehte sich auf die andere Seite. Tiefe, gleichmäßige Atemzüge. Das Mofa war aus, das Lachen erstickt, das Lied zu Ende. Lisa trocknete ihre Tränen im Kissen.
„Weißt du denn nicht mehr? Unsere Träume? Von Freiheit, von dem Guten, dass wir in die Welt tragen wollten, dem Edlen, was wir vorleben sollten – hast du das alles vergessen?“
Vier Wochen später traf Lisa Dörte und die anderen.
Ein gutes Gefühl.

Letzte Aktualisierung: 18.05.2009 - 16.07 Uhr
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