Der Cousin im Souterrain
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Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Mai 2009
Einmal Lehrer, immer Lehrer
von Ingo Pietsch

Lehrer Hans-Werner Friedrichs betrat seinen Klassenraum. Seit über dreißig Jahren unterrichtete er jetzt schon Schüler.
Sein Blick fiel auf die Bahnhofsuhr mit dem lauten Minutenzeiger.
Pünktlich wie immer, dachte er. Er zog die Tür hinter sich zu. Gleichzeitig mit dem Einrasten des Schlosses, sprang auch der Minutenzeiger der Uhr um. Es war jetzt 7.55 Uhr.
Lehrer Friedrichs sah kurz in die Runde der wartenden Schüler und machte sich dann auf den Weg zu seinem Pult.
Tisch und Stuhl mochten nicht einmal halb so alt sein wie er, doch waren sie durch den Gebrauch stark abgenutzt und ausgeblichen.
Friedrichs legte seine abgewetzte Ledertasche vor sich hin und sagte in das Klassenzimmer hinein: „Guten Morgen!“
Gefolgt wurde die Begrüßung von der Sonne, die den Raum mit ihren Strahlen erwärmte und alles in ein helles Licht tauchte, sodass er in Versuchung geriet, die Jalousien zu herunter zu lassen.
Dann überlegte er es sich anders, denn es würde ihnen allen gut tun, sich ein wenig zu sonnen.
Das Licht ließ Hans-Werner Friedrichs grauen Haare golden schimmern.
Insgesamt wirkte der Lehrer zeitlos. Glattrasiert und kaum Falten. Hinzu kam der ernste Blick, der im Gegensatz zu seinen Grübchen stand, die nur ein Zeichen von Freundlichkeit sein konnten. Und das war er auch. Er wirkte wie jemand um die fünfzig, in Wirklichkeit aber konnte er schon viel älter sein.
Noch zu seiner Kleidung: dazu gehörten weiche Lederschuhe, eine blaue Jeans und ein beiges Hemd mit schwarzem Karo-Muster.
Ohne ein weiteres Wort kramte er aus seiner Aktenmappe das Klassenbuch heraus und schlug es auf.
In der Brusttasche seines Hemdes befand sich seine Lesebrille, die in einem Etui gut verstaut war. Mit geübten Handgriffen saß sie im Nu auf der Nase.
Mit einem Finger fuhr er die einzelnen Spalten der Anwesenheitsliste ab. Den größten Anteil der Felder machten die Fortschritte der Schüler aus, die sie erzielten.
Zu Friedrichs herausragendsten Fähigkeiten, die er sich in all den Jahren angeeignet hatte, waren das Beobachten und das Dokumentieren.
Viele seiner Kolleginnen und Kollegen waren von seiner Auffassungsgabe begeistert, und fragten ihn oftmals um Rat, wenn sie Schwierigkeiten mit einem Schüler hatten.
Nach Schulschluss würde er seine handschriftlichen Notizen aus dem Klassenbuch in seinen Laptop übertragen.
Anfangs war dieser überdimensionierte Taschenrechner ein echtes Grauen gewesen. Aber nach einiger Routine vereinfachte er das Lehrerleben ungemein.
Hans-Werner Friedrichs notierte sich ein paar Gedanken und schob das Buch bei Seite.
Was für gesittete Schüler er doch jetzt hatte – im Gegensatz zu früher.
Erst waren es nur lange Haare und zerschlissene Kleidung. Dann kamen Tätowierungen und Piercings, wo die gut sichtbar waren. Es folgten Tätowierungen und Piercings an Körperstellen, die Friedrichs gar nicht wissen wollte.
Heute verlor gerade in den Sommermonaten der Begriff Bekleidung seine Haut bedeckenden Eigenschaften. Früher hatte es für das gleiche Geld mehr Stoff gegeben. Und Oberteile reichten sogar bis mindestens zum Bauchnabel.
Früher war man sicher nicht so „locker“ gewesen.
Friedrichs wusste, dass sich ständig alles änderte. Besonders die Äußerlichkeiten waren einem permanenten Wandel unterworfen.
Aber das herausstechendste Merkmal der heutigen Jugend war wohl die Respektlosigkeit.
Das war keine Modeerscheinung, sondern hatte es schon immer gegeben. Doch jetzt war sie eskaliert.
Entstanden aus Wut auf die Gesellschaft, die vielen keine berufliche Perspektive bot, die kein oder nur ein durchschnittliches Abitur hatten.
Friedrichs war ein Nachkriegskind gewesen. Aufgewachsen zwischen Trümmern und Ruinen, hatte auch er Hoffnungslosigkeit durchlebt. Er kannte das Gefühl, der Verlorenheit, der Armut, der ständigen Angst vor der Zukunft. Und trotzdem war er nie respektlos gewesen. Das Wort, das aus seiner Zeit wohl am Nächsten gekommen wäre, nannte sich schlicht und einfach „frech“.
Ab und zu war er mal erwischt worden, wie er aus Nachbars Garten Kirschen oder Pflaumen gestohlen hatte.
Als kriminell konnte man das sicher nicht bezeichnen.
Heute allerdings führte die Resignation zu verbalen Übergriffen auf Lehrkörper, zerstochene Autoreifen und zur Provokation, in dem auf dem Schulhof mit Raubkopien gehandelt und mit Drogen gedealt wurde.
Wenn jemand dafür verantwortlich war, dann konnten es nur die Lehrer sein, die angemessene Noten für die entsprechenden Leistungen gaben – und nicht die Schüler, die die wirklichen Opfer waren.
„Ein Satz heiße Ohren“ reichte dafür nicht mehr aus.
Dafür hatte Friedrichs jetzt die perfekten Schüler: sie beschwerten sich nicht, sie mussten nie zur Toilette und sie telefonierten nicht im Unterricht.
Hans-Werner Friedrichs war für sein Alter noch gut in Schuss. Er hatte es sich schon früh angewöhnt Sport zu treiben. Und spätesten als Ende der Siebziger die Ölkrise das Land regierte, wurde er zum leidenschaftlichen Fahrradfahrer.
Außerdem waren seine beiden Hauptfächer Sport und Biologie.
Im Gegensatz zu seinen jungen Kolleginnen und Kollegen war er kein Fachidiot, sondern er konnte bei allen Themen mitreden.
Nur mit der neuen Rechtschreibreform konnte er sich absolut nicht anfreunden.
Friedrichs war inzwischen aufgestanden und hatte seine Schüler fast einmal umrundet.
Wie viele Kilometer hatte er wohl auf diese Art und Weise zurückgelegt? Wie viele paar Schuhe durchgelaufen?
Auch hatte er dutzende Lehrerinnen und Lehrer kommen und gehen sehen. Einige waren schon in ihrem ersten Jahr nach ihrem Studium auf nimmer Wiedersehen verschwunden. Der Stress durch Schüler war nicht zu unterschätzen.
Man konnte nicht einfach so den Schulstoff „durchziehen“. Schulungsinhalte und Schüler mussten aneinander angepasst und ergänzt werden. Das war mühlselige Planung. Natürlich mussten die Schüler gefordert werden. Ohne Fleiß kein Preis.
Immer wenn Friedrichs einen seiner ehemaligen Schüler traf, bedankte er sich bei ihm, für das, was er bei ihm gelernt hatte.
Ein anderer Grund für das Ausscheiden aus dem aktiven Dienst waren Schwangerschaften. Drei Viertel der Lehrkörper an Friedrichs Schule waren Frauen. Da die meisten verheiratet waren, trugen sie so geschwollene Doppelnachnamen. Obwohl das abgenommen hatte, da es nur noch Lebensabschnittspartner gab.
Gerüchte in einer Schule waren so schnell im Umlauf, dass die betreffende Person oftmals die letzte war, die wusste, worum es eigentlich ging.
Friedrich machte sich nichts aus irgendwelcher Nachrede.
Er galt als zuverlässig und kompetent. Auch seine neuen Schüler würden davon profitieren.
Hans-Werner Friedrichs betrachtete sie, wie sie auf ihren ausrangierten Pulten standen:
Bonsai-Bäume. Dies war sein Hobby. Und er hatte alle Zeit der Welt dazu.
Seine kleine Baumschule und er war sozusagen der Klassenlehrer.
Einmal Lehrer, immer Lehrer.

Letzte Aktualisierung: 10.05.2009 - 00.29 Uhr
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