Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
Kinder können nicht nur grausam sein, sie sind es auch! Diese Erfahrung musste ich machen, als ich mich nach den Sommerferien in der fünften Klasse einer Gesamtschule wiederfand. Statt dörflichem Grundschulidyll, das ich kannte, herrschte hier die raue Wirklichkeit. Hatte es in der Grundschule gereicht, lieb und nett zu sein, so galten in der höheren Schule andere Regeln.
Man hatte cool zu sein! Man redete anders, lachte anders und es ging um diese Mädchen-Jungen-Sache. Mit Schule hatte das wenig zu tun.
Ich darf nicht vergessen: Um cool zu sein, musste man sich mit Musik auskennen. Meine Unwissenheit wurde leider sofort erkannt. Wie es sich für eine Gesamtschule gehörte, mussten wir uns zu Beginn des Schuljahres in diesen pädagogisch wertvollen Tischgruppen zusammenfinden. Selbstverständlich durften wir uns einen individuellen Namen dafür aussuchen. Und bei der Auswahl eines solchen Namens machte ich den entscheidenden Fehler. Durch ein unbedachtes „Ich weiß nicht“ zu dem New-Kids-One-The-Block-Namensvorschlag wäre ich fast aus der Gruppe geflogen. Eine Katastrophe!
Dann hätte ich einer anderen Gruppe zugeordnet werden müssen, eine Zwangszuweisung sozusagen. Da hätte ich gleich die Schule wechseln können. Also nannten wir unsere Tischguppe New-Kids-One-The-Block. Es gibt Schlimmeres, oder?
War ich in puncto Gruppenzugehörigkeit gerettet, blieb schnell das Problem mit den Jungen. Jeder fand irgendwen gut. Jeder wollte mit irgendwem gehen oder eben auch nicht. Ich war ein Problem. Ich fand niemanden gut und ich wollte auch mit niemandem gehen. Wenn wenigstens jemand mit mir hätte gehen wollen, aber nein, Pech gehabt. Ob es an der Brille und der Zahnspange gelegen hat? Vielleicht, aber leider war ich auch ausgesprochen gut in der Schule. Eine Leistungsgesellschaft wie die unsere sollte jetzt aufschreien: „Leider, aber warum leider?“
Na, weil gute Noten uncool waren. Mal ehrlich - ein Mädchen mit Brille und Zahnspange und guten Noten war doch kaum zu ertragen. Wenigstens galt ich nicht als Streberin. Da kam der rebellierende Gesamtschüler in mir durch, der eine Autorität zwar erkennt, aber ihr nicht immer den nötigen Respekt entgegen bringt. Wahrscheinlich hat mich das gerettet. Ich wurde toleriert.
In der siebten Klasse passierte es dann; zu dieser ganz bestimmten Zeit im Jahr kurz vor den Sommerferien. Die Noten standen fest und der Unterricht verkümmerte zur reinen Formsache. Wir hatten Pause. Ich saß auf meinem Tisch und ließ die Beine in der warmen und verbrauchten Luft hin und her baumeln. Plötzlich stürmte Mara herein und ihr schriller Aufschrei übertönte den ohnehin lauten Geräuschpegel. Mit geröteten Wangen blieb sie vor mir stehen.
„Ich hab ihn gesehen.“
Mit ihn meinte sie Timo. Mara hüpfte in ihrem roten Schottenröckchen - die waren unglaublich „in“ zu der Zeit - auf und ab. Ich weiß nicht warum, aber ich war ausgerechnet mit dem beliebtesten Mädchen der Klasse befreundet.
Aha, wird der eine oder andere jetzt denken, warum wohl? Aber wir waren wirkliche Freundinnen. Ich weiß es, weil wir heute noch befreundet sind. Und an den Hausaufgaben kann es nun ja nicht mehr liegen.
Ich versuchte ein wenig Begeisterung für Mara aufzubringen, obwohl ich nicht verstehen konnte, was so toll daran war, einen Jungen aus dem Jahrgang über uns zu sehen. Nur zu sehen, versteht sich. Ich bin ehrlich, so ganz verstehe ich es immer noch nicht.
„Und?“, wollte ich wissen.
Mara sah mich verständnislos an.
„Ich hab ihn gesehen“, wiederholte sie mit strahlenden Augen, als wäre meine Frage kompletter Blödsinn. Immerhin brachte ich ein lahmes „Toll“ zustande. Mara verdrehte die Augen und setzte sich zu mir. Ihr linker Ellbogen stieß mir in die Rippen.
Sie deutet mit dem Kopf zu Marcel hinüber. Ein großer, schmaler Junge, der mit seinen dunklen Haaren und den braunen Augen bereits den einen oder anderen „Willst-Du-mit-mir-gehen-Brief“ bekommen hatte. In diesem Schuljahr waren solche Briefchen allerdings nur noch peinlich.
Es war nicht nur die Zeit vor den Sommerferien, sondern vor allem die Zeit, in der Marcel seine Einladungen zur Geburtstagsparty verteilte. Wer cool war, war auf dieser Feier. Ein wenig wie in diesen amerikanischen Serien.
Ich wollte nicht neben Mara sitzen, wenn sie ihre Einladung bekam, nur um selbst leer auszugehen. Aber es war zu spät. Marcel stand schon vor uns.
Er trug eine dieser weiten Gangsterhosen und ein braunes T-Shirt mit einem Druck drauf, der mir nichts sagte. In der linken Hand hielt er die begehrten Zettel.
„Hey“, er räusperte sich leicht, als wollte ihm die Stimme versagen.
Mara strahlte ihn mit ihrer fröhlichen Art an, während ich vermutlich einen säuerlichen Gesichtsausdruck aufgesetzt hatte.
Heute kommt es mir so vor, als hätte Marcel sich in Zeitlupe bewegt, aber das ist natürlich Unsinn. Mit seiner Rechten zog er eine der Einladungen aus dem Stapel und reichte sie, na wem schon, Mara.
„Hier, ich feier in den Ferien.“
Unschlüssig, wohin ich gucken sollte, entschied ich mich letztlich für das Fenster. Einen unangenehmen Moment lang herrschte Stille.
„Du kommst auch, oder?“
Zu schnell ließ ich den Blick zurück vom Fenster zu Marcel gleiten. Nur ein paar Zentimeter trennten mich von der Einladung in seiner Hand. Ein weißes Blatt Papier, an dessen oberen Rand große, fette Buchstaben das Wort Party formten. Ich muss nicht erwähnen, dass ich die letzten zwei Jahre nicht eingeladen war, oder?
Langsam nahm ich das Blatt an mich. Angestrengt versuchte ich, mein inneres Lächeln nicht an die Oberfläche vordringen zu lassen.
„Mal sehen.“
Nach zwei Jahren Ausbildungslager in Sachen Coolness wusste ich, was ich zu sagen hatte.
Marcel schlurfte weiter und zog den herben Duft seines Deos hinter sich her.
„Du kommst doch?“
Mara sah mich entgeistert an. Anscheinend funktionierte der Trick sogar bei ihr.
„Du kommst!“
„Mal sehen.“
Natürlich kam ich. An sich mag diese kleine Geschichte völlig unbedeutend sein, aber wer die Vorgeschichte kennt, muss mich verstehen. Mein Leben war gerettet. Ich war cool. Ich sollte noch erwähnen, dass meine Zahnspange und die Brille der Vergangenheit angehörten. Wer jetzt dachte, ich bekomme auch noch den Klassenliebling, den muss ich enttäuschen. Aber ab und zu wurden wir wirklich für ein Paar gehalten.
Letzte Aktualisierung: 11.05.2009 - 15.48 Uhr Dieser Text enthält 6355 Zeichen.