Das mit 328 Seiten dickste Buch unseres Verlagsprogramms ist die Vampiranthologie "Ganz schön bissig ..." - die 33 besten Geschichten aus 540 Einsendungen.
Jochen Kolhäs sah aus wie ein oberflächlicher junger Mann, und genau das war er. Die Wände seines Zimmers hatte er mit Postern von Paris Hilton und Lukas Podolski beklebt, zum Teil deshalb, weil das den Schimmel abdeckte, der von hinten durch die Wand drang. In seinem CD-Player lag die neueste Scheibe von Dieter Bohlen, die pausenlos lief und das Hämmern der Autowerkstatt schräg gegenüber, das Jochen auf die Nerven ging, übertönte.
Die ganze arbeitende Bevölkerung ging ihm auf die Nerven, denn er war arbeitslos. Nach dem Abgang von der 9. Klasse hatte er ein paar Mal die Mühe auf sich genommen, Bewerbungen zu schreiben, doch als nur Absagen ins Haus flatterten, begann er an dieser abendfüllenden Tätigkeit zu zweifeln. Daher hatte er beschlossen, lieber Big Brother zu schauen, als sich weiter mit dem Heraussuchen von Firmenadressen und dem schweißtreibenden Formulieren von Bewerbungsbriefen zu beschäftigen.
Er war sowieso chancenlos. Das lag an seinem Notendurchschnitt von 4,8, der niemandem einen Freudenschrei entriss. Andererseits hielt Jochen wenig von einem Schulsystem, das Auswendiglernen belohnte, eigenständiges Denken hingegen übelst bestrafte.
Und zu guter Letzt gab er der Gesellschaft die Schuld, die sich nicht um ihn kümmerte: Die Leute vom Arbeitsamt waren Idioten; die im Bäckerladen an der Ecke ebenfalls (seit sie ihn beim Klauen erwischt hatten); und die Müllmänner, die dienstags die Tonne leerten, aber den Müllsack, den Jochen dazugestellt hatte, einfach stehen ließen, gehörten ins Gefängnis.
Wenn man’s genau nahm, musste man alles, worauf’s im Leben ankam, selber machen.
Den Müll rausbringen.
Durchs TV-Programm zappen.
Ein Mädchen anbaggern.
Letzteres hatte Jochen vor ein paar Wochen in Angriff genommen, als ihm Anita über den Weg gelaufen war. Anita Lohmüller hatte ihn von Anfang an begeistert. Mit ihren blonden Haaren und den zahllosen Tätowierungen, die strategisch über ihren ganzen Körper verteilt waren, entsprach sie genau dem Schönheitsideal, das er sich mit Hilfe von RTL, DMAX, Reality-TV und verschiedenen Doku-Soaps zusammengeschustert hatte.
Zwei Wochen später waren sie zusammen: Sie, die arbeitslose 19-jährige Frisörin, und er, der arbeitslose … nun ja, Schulabgänger.
Die Probleme begannen, als Jochen seine frischgebackene Freundin mit nach Hause nahm. Sein Vater (eine Mutter gab es im Haushalt Kolhäs schon seit Jahren nicht mehr) machte Rabatz und warf sie hochkant hinaus. Das »blonde Luder« wollte er nicht mehr sehen, die »hängt dir nur ein Kind an, und dann kannste blechen, bis du schwarz wirst«, und »außerdem wollen die Weiber nur dein Bestes: dein Geld«. Also raus mit der Schickse! Auf Nimmerwiedersehen!
Doch selbst wenn der Vater aus Erfahrung sprach, betrübte das den Sohn.
In dieser schicksalsträchtigen Nacht, in der zudem dunkle Wolken aufzogen und es in Strömen regnete und blitzte und donnerte, als würde das Jüngste Gericht mit einem Paukenschlag eingeleitet oder eine Wagner-Oper aufgeführt werden – in dieser Nacht, in der Jochen schlaflos in seinen Klamotten auf dem Bett lag und an die Decke starrte, bildete sich der Entschluss, dass er etwas unternehmen musste.
Sein Vater war ohnehin nur noch ein Relikt. Der Alte hatte doch keine Ahnung, was heutzutage lief. Die Zeiten hatten sich geändert! Leute, die 1965 auf die Welt gekommen waren, waren einfach nicht mehr up-to-date. Heute liefen DSDS und Dschungelcamp, und nur weil’s das damals noch nicht gegeben hatte, verteufelte der Alte das.
Kurz: Er wurde nicht mehr benötigt. Nicht von ihm, nicht von seinem Arbeitgeber, der ihn vor zwei Jahren an die frische Luft gesetzt hatte, nicht vom Staat, der ihm ohnehin bloß noch irgendwelche Sozialhilfen bezahlte, woran sich bis zu seinem Lebensende nichts mehr ändern würde.
Würde ebendieses Lebensende um einige Jahre vorgezogen, könnte der Staat ihm doch nur dankbar sein.
So dachte Jochen an diesem Abend, als der Regen an seinem Fenster herunterlief und sich die Lichter der Straßenlaternen in den Regenbächen spiegelten.
Und dann wusste er auch, wie er es machen würde.
Hyoszamin war im Körper nicht nachzuweisen. Krimisucht zahlte sich also doch aus. Heutzutage war der Durchschnittsbürger durch das Dauerfeuer von Luminol, Äthanol, Latexhandschuhen, Fingerabdruckdateien, Verbrecherdatenbanken, DNS und desgleichen so gut ausgebildet wie ein forensischer Ermittler.
Er googelte ein bisschen, dann hatte er alles beisammen, was er benötigte. Den schwarzen Schierling, der zu Hyoszamin werden sollte, vermutete er am Fuße einer Mauer beim Schuttplatz. Die Pflanze benötigte äußerst stickstoffhaltigen Boden. Und nachdem er die Fotos genau studiert hatte, fand er sie rasch und konnte sie zweifelsfrei identifizieren.
Das Gift befand sich im Samen des Schierlings, und 15 Samenkörnchen genügten, um ein Kind töten. Sein Vater war größer und schwerer als ein Kind, also sammelte Jochen 50 Samen, um ganz sicher zu gehen.
Zuhause trocknete er sie auf dem Sims drei Tage lang. Dann zerrieb er sie. Das Pulver ließ er wieder einige Tage lang trocken.
Während er das alles vorbereitete, hatte er seinem Vater gegenüber Gutwetter gemacht. Er hatte Zeit mit ihm vor dem Fernsehgerät verbracht und über seine Witze gelacht, tat, als wäre er endlich der brave Sohn geworden, den der Alte sich immer gewünscht hatte.
Dann nahte der Abend.
Sein Vater hatte im Wohnzimmer eine Gerichtsshow laufen, und Jochen bot sich an, Bier zu holen. Weil sich’s in Gemeinschaft besser trank, brachte er sich auch eine Flasche mit. Er hatte sie schon in der Küche geöffnet und in die eine das Pulver rieseln lassen. Wenn man an der Flaschenöffnung roch, konnte man nichts feststellen. Alles war in Butter.
Doch gerade, als er sich neben seinen Vater setzen wollte, hörte er das leise Klopfen am Glas.
Anita!
Er stellte die Bierflaschen auf dem Tisch ab, wobei er sich den Standort der vergifteten genau merkte.
Anita sah verzweifelt aus, ihre Nase triefte.
»Bin daheim rausgeflogen«, sagte sie, noch während sie durchs Fenster reinkletterte.
»Ich, äh …« Jochen wusste nicht, was er sagen sollte.
Sie war ganz durchgefroren.
»Meinst du, du könntest noch mal mit deinem Vater reden? Wir könnten zusammen wohnen, bis ich was anderes habe.«
»Zum Teufel, wer redet da?«, brüllte in diesem Moment der Vater aus dem Wohnzimmer, und noch ehe Jochen oder Anita es sich versahen, verdunkelte ein Schatten das Licht des Hausgangs. Kolhäs stand in der Tür.
»Meine Güte, Mädchen!«, rief er. »Wie siehst du denn aus?« Ein Frühling, der keiner war, war in einen Sommer übergegangen, der keiner zu werden drohte, und obwohl schon Ende Juni war, herrschten draußen gerade mal zwölf Grad. Sie musste sich den ganzen Tag lang auf den Straßen herumgetrieben haben, so durchgefroren war sie.
Nun setzte Kolhäs zu einem Redeschwall an, den niemand von ihm erwartet hätte:
»Es tut mir leid, dass ich damals grob zu dir gewesen bin. Habe mir oft Vorwürfe gemacht. Vor allem, nachdem der Jochen seit Tagen ein so lieber Junge ist. Ich hätte euch beide niemals anschreien dürfen. Nimmst du meine Entschuldigung an, Mädchen? Wie heißt du überhaupt? Komm doch mit ins Wohnzimmer.«
Anita kam gar nicht nach, all seine Fragen zu beantworten. Nein, sie war ihm nicht mehr böse. Ja, er hatte richtig gehört, sie war von zuhause rausgeflogen.
»Selbstverständlich kannst du bei Jochen im Zimmer schlafen«, verkündete Kolhäs und legte den Arm väterlich um die neugewonnene Tochter.
Sie hatten schon die Wohnzimmertür erreicht, als er über die Schulter rief: »Bring’ noch ’ne Flasche Bier, Jochen!«
Jochen flitzte in die Küche, riss Bierflasche und Flaschenöffner heraus und ließ den Kronenkorken spicken.
Als er das Wohnzimmer erreichte, war es bereits zu spät. Kolhäs hatte die eine Flasche in der Hand, Anita die andere.
Jochen wäre vor Schreck beinahe tot umgefallen.
Heiter führte sein Vater den Flaschenhals zum Mund und nahm einen kräftigen Zug. Gerade, als Anita es ihm nachtun wollte, fiel Jochen ihr in den Arm und küsste sie so heftig, dass seine Bierflasche zu Boden fiel.
»Jaja, die Jugend«, sagte Kolhäs mit glasigem Blick. »Zwanzig sollte man nochmals sein!« Er setzte die Flasche erneut an, dann waren Dreiviertel des Inhalts in ihn hineingewandert.
Mit einem Rülpsen stellte er die Flasche auf den Tisch zurück.
»Ahh, mir wird speiübel!«, murmelte er und sank aufs Sofa.
Im nächsten Moment drang ein Gurgeln aus seinem Bauch, das sogar das Gerichtsurteil übertönte, das Richter Alexander Holt verkündete.
Anita lachte, als Kolhäs die Augen verdrehte.
Jochen sah ihn nur entsetzt an.
Im nächsten Moment schnellte Kolhäs wie von der Tarantel gestochen hoch und sauste aus dem Zimmer.
»Er geht zum Sterben aufs Klo«, sagte Jochen und nahm Anita die Bierflasche ab. Nachdem er einen kräftigen Schluck genommen hatte, meinte er: »Das tun wir uns nicht an. Stell den Fernseher lauter!«
Nach einer Viertelstunde war sein Vater noch nicht tot, vielmehr tauchte er unvermittelt ihm Türrahmen wieder auf.
»Hallihallo, da bin ich wieder. War nur Durchfall. Bekomme ich immer, wenn ich das Bier zu schnell trinke.«
Anita stellte blitzschnell das Knutschen ein und rutschte von Jochen herunter, und Jochen sah seinen Vater mit glasigen Augen an.
»A-aber …«
»Rutscht mal rüber, ihr zwei. Ich will mich auch hinsetzen.«
Anita rappelte sich auf und stellte sich auf die Beine, wobei sie unabsichtlich die Bierflasche wegkickte, die Jochen leergetrunken hatte.
Jochen kam kaum hoch. Irgendetwas schien ihn zu lähmen.
»Ich …«
»Was hast du denn?« Anita zog ihn am Arm, aber er war schwer wie eine Leiche und genauso unhandlich.
Inzwischen tobte in Jochen ein wütender Sturm, der sich von seinen Eingeweiden ausdehnte und langsam bis zu seiner Kehle hoch kroch.
»Du dumme Gans!«, rief er in dem nutzlosen Bemühen, Anita die Schuld an dem Desaster zu geben. Er merkte, wie seine Zunge schwer wurde.
»Du-umme-aans!«
Alles drehte sich vor seinen Augen.
»Da-mama-aaans …«
Der Boden kam rapide näher.
»Dama-mun-ga…«
Er wusste genau, was er ihr sagen wollte, aber es gelang ihm nicht.
Dann erloschen die Lichter.
Letzte Aktualisierung: 28.06.2009 - 01.25 Uhr Dieser Text enthält 10179 Zeichen.