X!aia erwachte, weil sie fror. Sie war in der Hitze beim Ziegenhüten unter dem Akazienbaum eingeschlafen. Jetzt war Nacht, der Vollmond verwandelte die Kalahariwüste in einen unheimlichen Schattenriss und die Hyänen lachten nicht allzu fern. Das neunjährige Mädchen aus dem Volk der San rieb sich die Arme und stand auf. Das Baumwolltuch, das sie um den Körper trug, hatte sich gelockert. Sie zog den Knoten fest, nahm den Zweig in die Hand, mit dem sie gewöhnlich die beiden Ziegen antrieb, und schnalzte leise, um sie anzulocken. Doch nichts geschah. Sie fiel auf die Knie nieder und kroch über das harte, trockene Gras ein Stück aus dem Schutz des Baumes hinaus, um nach ihnen zu sehen. Das Mädchen zischte, als sie die beiden aufgerissenen Kadaver entdeckte, Fell, Schädel und Knochen waren übriggelassen worden. X!aia weinte los. Was würde die Familie sagen? Wo würden sie in den nächsten Wochen die Milch herbekommen? Sie schämte sich für ihr Versagen, es war sicher passiert, weil sie am Vortag die Männer gefragt hatte, ob auch sie das Jagdritual mitmachen dürfe. Sie war ausgelacht worden und hatte die ganze Nacht wach gelegen. Die Götter um Hilfe angefleht, weil ihr Herz das einer Jägerin war.
Jetzt fürchtete X!aia sich, weil sie keine Ahnung hatte, wie sie allein durch die Nacht zum Dorf zurücklaufen sollte, ohne selbst Beute der Raubkatzen zu werden. Eine gute Stunde würde der Marsch dauern, X!aia schniefte, wischte die Tränen ab und machte sich auf den Weg. In gebückter Haltung schlich sie entlang der Dornenbüsche. Überall raschelte und knackte es, doch X!aia bewegte sich lautlos in Richtung des Dorfes. Als sie einen Moment an den Stamm einer Akazie geschmiegt ausruhte, fauchte es hinter dem Baum. Sie fuhr herum, dem Fauchen folgte ein Maunzen, was ihre Neugier weckte. Zwischen den Wurzeln funkelten Bernsteinaugen. Ein Gepardenjunges! Es stakste auf sie zu. Strich um ihre Beine und schnurrte. Sie machte ein paar Schritte, das Waisenkind folgte ihr auf übergroßen Tatzen. X!aia fasste Mut, sie würde das Junge nicht den Hyänen überlassen, sondern es an Mutter statt beschützen!
Unbehelligt erreichte sie das Dorf. Die Buschleute waren in großer Aufregung, denn keiner hatte geglaubt, dass das Kind am Leben war. Die Freude ihres Clans war größer als die Enttäuschung über den Verlust der Ziegen.
„Ein Gepard, der von Menschenhand aufgezogen wird, ist ein großartiger Jagdbegleiter“, rief der Vater, „natürlich kann er nicht wie unsereins die Beute Stunde um Stunde verfolgen, bis die Huftiere vor Erschöpfung zusammenbrechen, aber seine Sprints werden stets für satte Bäuche sorgen!“
Die San jagten einzig durch ihre Ausdauer, sie feuerten den tödlichen Giftpfeil erst ab, wenn das Tier am Boden lag. Der Gepard könnte die Plage der Verfolgung abkürzen.
Als der Vater sich zu dem kleinen Raubtier herunterbeugte, drängte es sich mit aufgerichtetem Schwanz an X!aias Beine, knurrte und legte die Ohren an. Der Gepard stellte sich als Gepardin heraus.
„Du bist nun ihre Mutter“, sagte der Vater, „hüte sie wie dein Leben.“
„Aber Vater, sie ist mein Leben“, antwortete X!aia, ihr war klar, dass die Götter ihr Gebet erhört hatten, hob das Findelkind hoch und ging schlafen.
Das Mädchen gab ihm den Namen Damamunga und ernährte es in den ersten Monaten mit Ziegenmilch, die sie mit dem Versprechen, später viel Beute heranzuschaffen, bei den Nachbarn erbettelte.
Während die Gepardin heranwuchs, duldete sie außer ihrer Pflegemutter keinen in ihrer Nähe. Drei Jahre schon lebte Damamunga Seite an Seite mit X!aia. Die Raubkatze überragte bereits die meisten der erwachsenen San, verhielt sich jedoch genauso friedlich wie alle der Dorfgemeinschaft. Wenn kein Fleisch für sie vorhanden war, schaute sie sich selbst darum um. Dann bewunderten die San das Schauspiel draußen in der Wüste. Die Geschwindigkeit, mit der Damamunga übers Savannengras jagte, die Eleganz des Muskelspiels unterm glänzenden, gefleckten Fell, ihre weiten Sprünge, die aussahen, als flöge sie auf ihre Beute zu, ehe sie auf ihr landete, sie zu Boden riss und mit den Fängen die Kehle bis zum Erstickungstod zudrückte, steigerte den Wunsch der Jäger ins Unermessliche, diese Kraft nutzen zu können.
Um als Erwachsener zu gelten, mussten die Knaben sich bewähren, indem sie ein Tier zu Tode hetzten. Für Mädchen war dieses Ritual nicht vorgesehen, deswegen war es ein großes Problem für die Jäger des Stammes, dass Damamunga nicht von X!aias Seite wich. Man beratschlagte sich, denn auf die Gepardin als Jagdhelferin zu verzichten, wäre schmerzlich gewesen.
Während die Männer ihre Palaver darüber abhielten, hockten die Frauen und Mädchen in einer der Hütten zusammen, die mit Savannengras gedeckt waren. Die Wände bestanden aus bunten Tüchern, gefüllt mit Heu gegen die nächtliche Kälte. Vor dem Eingang lag Damamunga ausgestreckt, den goldenen Blick nach Katzenart ins Nichts gerichtet und gähnte.
Dann holte man X!aia zur Versammlung. Der Älteste sagte: „Du wirst zur Prüfung antreten.“
Sie verschränkte die Arme und antwortete: „Unter einer Bedingung. Ab nun dürfen sich alle Mädchen des Stammes als Jägerinnen beweisen.“
Damit tauchte ein weiteres Problem für die Männer auf, denn das Mädchen ließ keinen Zweifel aufkommen, dass sie nicht weiter verhandeln würde. Der Tumult war groß. Als einer der Jäger die Hand hob, um X!aia zu schlagen, brüllte Damamunga. Der junge Mann zog sich zurück.
Nach einer neuerlichen Beratungsrunde der Ältesten wurde das Dorfgesetz nach X!aias Wünschen abgeändert. Ein großes Fest fand ihr zu Ehren statt, die Frauen lachten sich ins Fäustchen vor Freude.
X!aia begann ihr Lauftraining. Jeden Morgen ging sie mit Damamunga hinaus in die Weite. Sie rannte, bis sie vermeinte, ihre Brust würde platzen. Während die Gepardin gemächlich einherschritt, musste X!aia alles geben, um halbwegs nachzukommen. Ihre Sohlen bluteten von den Schnitten des harten Grases, die Frauen kneteten die verhärteten Muskeln X!aias. Doch von Tag zu Tag wurden ihre Hornhaut dicker, die Beine schneller, das Herz ausdauernder und schließlich stand sie den Jungen in nichts nach. Sie war bereit und das Zeichen für X!aias Aufbruch wurde vom Dorfweisen gegeben. Mit den traditionellen Worten: „Du kommst und du gehst. Aber wenn du wiederkommst, wirst du bleiben“, begann die Initiation des ersten Mädchens aus dem Stamm der San.
Sie ging mit der Gepardin zum „Großen Tanz“, wie die Ausdauerjagd genannt wird, in die Kalahari. X!aia gestattete Damamunga nicht, ihr zu helfen, sie diente lediglich zum Schutz ihrer Herrin. Die Verfolgung der ausgewählten Kudu-Antilope dauerte bis zu deren Zusammenbruch fast vierzig Stunden. Die besten Jäger beobachteten die Hatz als Nachhut und geleiteten X!aia anschließend voller Respekt und mit großem Jubel heimwärts. Damamunga schritt neben ihr her. Beide trugen den Kopf oben, denn sie fühlten, dass sie zwei weibliche Wesen waren, die dem wahren Gesetz folgten.
Golden ging die Sonne über der Kalahari auf, als die Gruppe im Dorf ankam.
Letzte Aktualisierung: 22.06.2009 - 17.10 Uhr Dieser Text enthält 7138 Zeichen.