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Noch vor einer Stunde hatte Anna im Matheunterricht gesessen. Und nun stand sie in dieser alten Hütte und war umgeben von Regalen und Tischen, auf denen die seltsamsten Dinge standen. Das Tageslicht drang nur spärlich durch die schmutzigen Fenster. Die Luft war geschwängert von den fremdartigsten Gerüchen. Auf dem Gestell direkt neben ihr befand sich ein schlangenförmiges Glas, das Kräuter zu enthalten schien. Nur, dass diese Kräuter sich bewegten und sie ansahen. Anna schloss die Augen und atmete tief ein. Sie musste sich beruhigen. Schließlich war sie aus einem bestimmten Grund hierher gekommen.
»Bist du bereit?«, fragte der alte Mann. Anna hielt die Luft an und nickte, die Augen noch immer geschlossen. Einen ewig erscheinenden Moment geschah nichts. Dann hörte sie den Zauberers das Wort sagen, das sie hoffentlich zu ihrem Vater bringen würde: »Agnumamad!«.
Anna öffnete vorsichtig die Augen und sah alles um sich im Nebel versinken. Doch kurz drauf wurde es wieder hell und sie konnte Bäume, Wiesen, einen Bach und einige Hütten erkennen. Die Sonne strahlte am Himmel. Die Luft war erfüllt vom Duft zahlloser Blumen. – Das Haus des Zauberers war verschwunden.
»Ich habe es geschafft«, jubelte Anna. Sie war endlich auch in jener Welt, in die ihr Vater vor einem Jahr verschwunden war. Lange hatte sie suchen müssen, bis sie den alten Zauberer gefunden hatte. Ein Hinweis auf einer Internetseite hatte sie zu ihm geführt. - Aber das war nun seltsam fern. Genauso wie ihr Zimmer, ihre Freundinnen, die Schule und - ihre Mutter.
Anna versuchte den Gedanken zu verdrängen, dass ihre Mutter sich nun auch um sie sorgen würde. Darüber hatte sie lange nachgedacht. Sie und niemand anderes konnte ihren Vater retten - und genau das würde sie tun.
Plötzlich hörte sie Hufgetrappel hinter sich. Reiter! Und sie kamen näher. Erschrocken sah Anna sich nach einem Versteck um. Schnell! Wenn es stimmte, was Vater von dieser Welt erzählt hatte, dann war es besser, sich nicht von Berittenen erwischen zu lassen.
Keine Sekunde zu spät sprang sie hinter ein Gebüsch. Mindestens zwanzig schwer bewaffnete Reiter preschten an ihr vorbei. Anna sah, wie sie ihre Schwerter zogen und auf die kleine Ansammlung von Hütten zugaloppierten. - Erschrocken blickte sie ihnen nach.
Was ging da vor?
Kurz darauf war die Luft erfüllt von Schreien, dem Weinen von Kindern und dem Lachen der Soldaten. Alles schien nur einen Augenblick zu dauern. Dann herrschte Stille. Kein Geräusch drang mehr an Annas Ohren. Sie sah die brennenden Häuser, sah die Soldaten davon reiten, die Menschen an Seilen hinter sich herzogen. Mit Tränen in den Augen starrte sie auf die lodernden Reste des kleinen Dorfes.
Als sie sicher war, dass die Soldaten fort waren, kam sie aus ihrem Versteck und ging zu den Überresten der Hütten. Brandgeruch erfüllte die Luft. Sie war wie in Trance. So etwas hatte sie bisher nur in Filmen gestehen. Aber dies war Wirklichkeit gewesen. Von der Ansiedlung war kaum etwas geblieben. Unentschlossen stand sie da. Was wollte sie hier? Die Bewohner waren entweder tot oder verschleppt. Es gab nichts für sie zu tun. Sie musste ihren Vater finden und irgendwie in ihre Welt zurückbringen.
»Vielleicht finde ich etwas, das ich brauchen kann«, dachte sie. Vorsichtig ging sie zwischen den Hütten umher. Die Hitze des Feuers biss ihr ins Gesicht. Einmal trat sie fast auf die Leiche eines Mannes. Schnell trat sie zur Seite und wandte den Blick ab. Ihr wurde übel.
Nach und nach fand Anna einige nützliche Dinge: ein Messer, einen Schlauch, den sie mit Wasser füllen konnte und etwas Brot. Das alles steckte sie in einen Lederbeutel, der ein Drachenwappen trug. Einer der Soldaten musste ihn verloren haben.
Sie wollte gerade gehen, als sie ein Wimmern hörte. Es kam aus einer Hundehütte. Langsam trat Anna näher heran, blickt hinein und sah in die von Angst erfüllten Augen eines etwa Zehnjährigen Jungen. »Bitte«, flüsterte er, »töte mich nicht.«
Anna reichte ihm ihre Hand. »Ich tue dir nichts. Komm raus. Die Soldaten sind weg.«
Es dauerte eine Weile, bis der Junge Vertrauen zu ihr fasste. Doch schließlich kam er zu dem Schluss, dass er vor dem blonden Mädchen, das nur wenige Jahre älter war als er, keine Angst haben musste.
Da es langsam dunkel wurde, suchten die beiden Unterschlupf in einem etwas abseits stehenden Schuppen, der verschont geblieben war. Der Junge, dessen Name Kegir war, erzählte, dass die Soldaten seinen Vater getötet, seine Mutter und seine beiden Schwestern verschleppt hätten.
»Aber warum denn nur?«, fragte Anna..
Kegir lächelte bitter. »Man merkt, dass du von weit her kommst. Sonst wüsstest du, dass der Drache Futter braucht«.
Anna sah ihn überrascht an. »Was denn für ein Drache? «
»Natürlich der fürchterliche Damamunga«, antwortete Kegir.
Er berichtete, dass der König vor gut einem Jahr einen Pakt mit dem Drachen geschlossen hatte. Dafür, dass er mit ausreichend Menschenfleisch versorgt wurde, verwüstete er nicht mehr das Land und erfüllte bisweilen Aufträge des Herrschers. Man erzählte sich, dass ein Fremder aus einem fernen Land eine wichtige Rolle bei diesem Bündnis gespielt habe.
Anna blickte entsetzt auf. »Dann sollen alle an diesen Drachen verfüttert werden? «.
Kegir antwortete nicht. Er nickte stumm und sah zu Boden.
In der Nacht konnte Anna kaum schlafen. Zu viel ging ihr durch den Kopf. Wie sollte sie ihren Vater finden? Lebte er überhaupt noch? War er gar der Gefangene des Königs? Und was sollte aus Kegirs Familie und den anderen Dorfbewohnern werden?
Im Morgengrauen brachen Anna und Kegir auf. Sie hatten beschlossen, der Spur der Soldaten zu folgen und wenigstens zu versuchen, die Dorfbewohner zu befreien. Anna hatte zudem das Gefühl, dass sie so etwas über das Schicksal ihres Vaters würde erfahren können.
Da der Boden feucht und die Spuren der Pferde gut zu erkennen waren, war es ein Leichtes den Weg zu finden, den die anderen gegangen waren. Zum Glück kannte Kegir sich gut mit Tieren und Pflanzen aus. So trieb er immer wieder etwas Essbares auf. Anna wäre ohne ihn verhungert. Schließlich war sie in der Großstadt Berlin aufgewachsen und hatte noch nie einen Hasen gejagt oder Pilze gesammelt.
Nach drei Tagen, an denen sie fast ohne Pause gelaufen waren, kamen sie zu einem Gehöft. Auf dem Dach wehte eine schwarze Fahne mit einem blutroten Drachen. Einige Soldaten standen am Hoftor.
»Ich glaube, wir haben sie gefunden«, sagte Anna.
Kegir nickte. »Heute Nacht schleichen wir uns hinein.«
Anna sah ihn verblüfft an. Sie hatte noch nie einen so mutigen Zehnjährigen gesehen. Die Jungen, die sie in diesem Alter kannte, waren fast ausnahmslos Raufbolde, die entweder vor ihren Spielkonsolen herumhingen oder Mädchen ärgerten.
Sie suchten sich ein Versteck und ruhten sich aus, bis die Dämmerung herein brach. Die Soldaten schienen völlig sorglos zu sein. Anna und Kegir sahen nur einen Wächter, der aber schlief. Von den anderen war lautes Grölen zu hören. Vermutlich betranken sie sich.
Erst als es völlig dunkel war, machten Anna und Kegir sich auf den Weg. Schnell waren sie an dem schlafenden Wächter vorbei und gelangten durch eine kleines Tor in das Innere des Gehöfts. Sie waren kaum drinnen, als sich Schritte näherten. Die beiden schafften es gerade noch, sich hinter einer Wassertonne zu verstecken. Ein Soldat kam torkelnd und leise vor sich hin singend heran, verrichtete seine Notdurft und verschwand wieder.
»Das war knapp.«, flüsterte Kegir. Zur Antwort zeigte Anna auf einen Schuppen, aus dem leises Weinen zu hören war. »Dort müssen die Gefangenen sein«, sagte sie.
Leise schlichen die beiden im Schatten der Gebäude zum Schuppen. Er war nur mit einem einfachen Holzriegel verschlossen. Anna zog das Tor auf und erstarrte, als ein durchdringendes Quietschen ertönte. Sie hielten den Atem an. Die Soldaten feierten unverändert weiter. Offenbar hatten sie nichts gehört. Anna nickte Kegir zu und sie schlichen vorsichtig in den Schuppen. In der Dunkelkeit waren nur die schemenhaften Umrisse der Gefangenen zu sehen.
»Mutter«, flüsterte Kegir, »Samia, Emina. Seid ihr hier?« Seine Stimme zitterte. Einen Moment später lag sich die Familie in den Armen. Langsam kamen auch die anderen dazu. Fassungslos standen sie da und betrachteten die Neuankömmlinge.
Vor allem Anna sahen alle interessiert an. »Wer bist du?«, fragte ein kleiner Junge.
»Sie heißt Anna und kommt von weit her«, antwortete Kegir für sie. »Nun lasst uns schnell von hier verschwinden, bevor die Soldaten etwas merken!«
Anna ging voran, gefolgt von Dorfbewohnern. Den Abschluss bildete Kegir. Sie schlichen den Weg zurück, den sie gekommen waren und erreichten ohne Probleme den Wald. Sie hatten es tatsächlich geschafft. Die Gefangenen waren befreit.
Doch in Sicherheit waren sie noch lange nicht. Sie durften nicht bleiben, sondern mussten schnell weiter.
Anna ging zu Kegir, der bei seiner Familie stand. »Ich gehe nicht mit euch.«
»Was willst du tun?«, fragte er.
»Ich suche meinen Vater. Und ich glaube, dass ich ihn finden werde, wenn ich zur Hauptstadt gehe.«, antwortete sie. »Könnt ihr mir den Weg beschreiben?«
Besonders von Kegir fiel Anna der Abschied schwer. Sie umarmte ihn und sagte Lebewohl.
»Wir sehen uns wieder«, antwortete Kegir, »Bis dahin wünsche ich dir viel Glück«.
Anna machte sich auf den Weg, um ihren Vater zu finden. War er dieser Helfer des Königs? Um das herauszufinden musste sie tiefer hinein in das Land, das nun gemeinsam von dem König und dem Drachen Damamunga beherrscht wurde.
Letzte Aktualisierung: 26.06.2009 - 00.19 Uhr Dieser Text enthält 9612 Zeichen.