Wellensang
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Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
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Juni 2009
Die Prüfung
von Sylvia Seelert

„Hüte dich vor dem Damamunga!“
Seine Zungespitze zischelte in mein Ohr, als er mir die Worte zuflüsterte. Stanus’ Augen waren furchtsam geöffnet, die grünen Pupillen tellergroß geweitet. Aufgeregt hüpfte er von einem Bein zum anderen, zerrte dabei an den Lumpen, die seinen mageren, verdrehten Körper umhüllten. Retortenbaby Z-80B2078-A war einem Strahlenunfall zum Opfer gefallen und als Ausschussware deklariert worden. Mein Vater und die PACE-Organisation hatten ihn und weitere seiner Art aus den Labors der Gentronic Cooperation befreit und ihn dadurch vor der Vernichtungskammer bewahrt. Z-80B2078-A erhielt den Namen Stanus und einen Biochip, der ihn als Angehörigen der Dienerkaste auswies.
„Herrin, passt gut auf euch auf. Stanus hat Angst!“
Seine Klauen gruben sich in meine Toga. Mühsam löste ich sie wieder von der kostbaren Synthetikseide.
„Alles wird gut, Stanus. Wir schaffen das schon!“
Stanus blickte mich zweifelnd an, während ich mit einem breiten Lächeln seine, aber auch meine Zweifel wegzuwischen versuchte. Schließlich nickte er beruhigt.
„Stanus wird warten und wachen“, sprach er und setzte sich mit gekreuzten Armen auf den staubigen Boden.
Ein Gong dröhnte durch die Halle. Tief und dunkel, so dass es mich bis in die Knochen hinein schüttelte.
„Sechziger, tretet ein!“
Das Tor zur Kathedrale der Erleuchtung öffnete sich. Mit mir traten weitere weißgewandete Prüflinge ein. Wir alle hatten in diesem Jahr die Schwelle zur Sechzig überschritten. Nun mussten wir beweisen, dass wir noch immer ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft waren. Eine Gesellschaft, die an knappen Ressourcen litt. Ein Ergebnis der Erderwärmung. Der Meeresspiegel war gestiegen und hatte fruchtbares Land überspült. Die Sonne brannte heiß und erbarmungslos, so dass die Wüsten bis nach Europa gewandert waren.
Leben bedeutete Arbeit und Sterben Verwertung. Organe, Fleisch, Wasser. Friedhöfe gab es schon lange nicht mehr. Im alles umspannenden Datennetzwerk CENTER wurden Fotogalerien zum Gedenken an die Lieben eingerichtet. Stillstand war ökonomisch nicht tragbar.
Rote Flaggen mit Schwert und Sichel schmückten den Gang zum Großen Saal. Das Zeichen der herrschenden Technokraten. Auf den steinernen Säulen flammten Sprüche auf. Arbeit bis zur Auflösung. Effizienz sichert Überleben. Dein Tod rettet zehn Leben.
Ein Mitsechziger blickte mich ängstlich an. Wirre, graue Haare umrahmten ein knochiges Gesicht mit grauen Augen.
„Ob wir hier lebend wieder herauskommen?“
„Nur Mut“, antwortete ich ihm.
„Aber wenn ich nicht mehr effizient bin?“
Er rührte mit seinen Worten an meiner eigenen Angst. Was sollte ich ihm antworten? Du stirbst, wenn du die Prüfung nicht bestehst und sie keine Aufgabe mehr für dich finden? Niemand wusste, was mit denen geschah, die durchfielen. Sie wurden nie wieder gesehen.
Behutsam nahm ich seine klamme Hand in die meine.
„Nur Mut!“, bestärkte ich ihn erneut und ließ meinen Blick und mein Lächeln in ihn versinken. Wie zuvor bei Stanus’ wirkte es und er lächelte zaghaft zurück.
„Ich bin Zenos.“
„Tamira.“
Wir nickten einander zu und Zenos verschwand wieder in der Menge.
Schließlich öffneten sich vor uns die breiten Flügel des Bestimmungssaals. Schwarzgewandete mit grimmigen Blicken leiteten uns zu Tischen, an die wir mit Elektroden angeschlossen wurden. Ein Summen ertönte und ich spürte, wie Energie durch meinen Körper floss, mein Innerstes durchleuchtete und zu Tage beförderte. Ein Stöhnen entfuhr mir und fand ein Echo in hundert weiteren Kehlen. Es war mir, als ob ich nackt vor Millionen Augen stand, die prüfend Körper und Geist befingerten, um den Wert der Ware herauszufinden. Manche von uns schrien und weinten. Ein Jammern und Klagen hing bedrückend in der Luft.
Der Energiefluss riss ab und ich brach erschöpft über meinen Tisch zusammen.
Analysis in progress – so leuchtete es rot inmitten der Halle auf. Ein Balken zeigte den Fortschritt an.
„Ich habe es nicht geschafft …“
„Das ist mein Ende …“
„Was soll das hier alles? Das ist barbarisch!“
„Ich will leben …“
„Fuck the system …“
Ein Murren, Wispern und Wimmern breitete sich aus. Der Zweifel war überall spürbar.
Eine Hand fasste schüchtern nach meiner Schulter. Es war Zeno.
„Und? Was hast du gefühlt?“
„Zuversicht“, sagte ich bestimmt.
„Wirklich? Ich fühlte mich ganz klein und bedeutungslos. Nur der Tod gibt mir noch einen Sinn!“
„Irgendwann sicherlich“, erwiderte ich, „Aber nicht heute! Nur nicht die Hoffnung verlieren!“
Zeno musterte mich skeptisch.
„Du bist so anders. Hast du keine Angst?“
Erstaunt hob ich die Augenbrauen.
„Natürlich habe ich Angst. Ich wäre kein Mensch, wenn ich sie nicht hätte. Alles nur zur richtigen Zeit. Wenn das System entscheidet, dass ich zur Endauswertung muss, dann werde ich traurig sein. Denn ich hätte gerne länger gelebt. Und doch habe ich gelebt. Wenn mein Ende Leben bedeutet, so ist es gut.“
„Ich zweifele ein System an, das über mich bestimmt und mir sagt, wann ich zu sterben habe!“
Zeno ballte die Faust und schlug sie auf den Tisch.
„Ich will leben!“
Ja, ich wollte auch leben. Unbedingt. Für einen Moment war ich in Versuchung, ebenso wütend auf den Tisch zu schlagen. Dann löschte ein kurzer Impuls in meinem Kopf jeden weiteren Gedanken aus.
So zuckte ich nur mit den Schultern und wandte mich von dem unglückseligen Zeno ab. Meditierend wandelte ich durch die Halle und blendete Geräusche sowie Geruch von Angst und Zweifel, die mich umgaben, einfach aus.
Eine Sirene holte mich aus meiner Kontemplation.
„Auswertung beendet“, dröhnte es durch den Saal. Die Schwarzgewandeten verwiesen uns wieder auf die Plätze.
„Hundert kamen. Zwanzig werden gehen. Achtzig bleiben.“
An achtzig Tischen leuchtete eine gelbe Lampe auf.
„Achtzig, steht auf und folgt den Hütern.“
Erleichterung machte sich unter ihnen breit, wispernd und lachend verließen sie den Raum. Gerettet, hörte ich sie flüstern und sah sie mitleidig auf uns blicken. Dann schlossen sich die Türen.
Panisch und ungläubig schauten wir uns gegenseitig an. Nicht ich! Den stummen Aufschrei las ich spiegelgleich in den Gesichtern der anderen. Schweiß umwickelte meine Hand. Was wird nun kommen?
„Seht, was Euch bestimmt ist!“
Ein Kartenstapel wurde mitten in den Raum projiziert. Nach und nach deckte sich jede Karte auf. Ich sah mich auf der Karte, sah meinen Namen und darunter stand … new level: Supervisorin.
„Der Damamunga hat entschieden. Ihr dürft gehen und weitere zehn Jahre leben.“
Ein Raunen ging durch unsere Reihen. Gehen bedeutete also bleiben.
„Legt eure rechte Hand auf den Sensor und euer Biochip wird mit dem entsprechenden Update geladen.“
Draußen wartete Stanus auf mich und fiel mir sogleich erleichtert um den Hals, sobald er mich sah.
„Das war knapp“, sprach er mit Tränen in den Augen.
„Der Damamunga war euch schon so nahe gekommen. Aber ich habe die Herrin gerettet.“
„Zeig es mir“, forderte ich ihn auf.
Schon spulte ein Film rückwärts in meinem Kopf ab. Zeno, nur eine Maske. Der Impuls in meinem Kopf, zweifach – einmal aushorchend und dann beschützend. Ich verstand. Das System hatte nichts finden können, Körper und Geist waren konform. „Guter Stanus!“
Ich drückte den Mutanten an meine Brust. Telepath und Empath in einem. Er war der beste Raub meines Vaters gewesen, der das Überleben meiner Familie sicherte. Verborgen unter den Augen des Systems werden wir weitere wie ihn züchten. Und eines Tages wird Altern wieder Leben bedeuten. Stanus, mein Bruder.

Letzte Aktualisierung: 25.06.2009 - 22.47 Uhr
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