Der himmelblaue Schmengeling
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Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
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Juni 2009
Ein neuer Typ
von Hajo Nitschke

Der verdeckte Sensor hat reagiert. Exakt die üblichen 37,9 Grad, beinahe zu wenig, um schon von Fieber zu sprechen. Aber hochgradig alarmierend. Blitzschnell reißt Elmar das Schild hoch. Der Ankömmling, der unwillkürlich einen Blick auf „Schliemens + 4,7 %“ geworfen hat, zuckt die Schultern und geht gleichgültig Richtung Ausgang. Elmar versperrt ihm den Weg, weist sich aus und bittet ihn in das Zelt des Bundesseuchenamtes: Verdacht auf Damamunga-Fieber. Es ist heute bereits der zwanzigste Fall, und nur drei Reisende erwiesen sich als nicht infiziert. Immer wieder zeigt der Schnelltest seine Zuverlässigkeit. Der bekannte stiere Blick und das reflexhafte „Kaufen!“, oder „Verkaufen!“ beispielsweise bei „Saat-AG – 1,24%“, würde bedeuten, dass der Betreffende sauber ist, nicht kontaminiert. Interesselose Reaktionen wie eben sind jedoch sicheres Indiz für eine Ansteckung mit diesem hochinfektiösen neuen Typ.

Es gibt in beschränktem Maße bereits einen Impfstoff. Er reichte jedoch zunächst nur für einen Teil von Regierung, Polizei und Grenzschutz sowie die Mitarbeiter der Seuchenbehörden. Zudem bietet Flamitu keinen hundertprozentigen Schutz. Und die Betreuung der unzähligen Erkrankten übersteigt schon jetzt alle logistischen Möglichkeiten. Ein Albtraum ist wahr geworden. Elmar hält sich für immun, da die vorgeschriebenen Eigenkontrollen bisher negativ verliefen: Die täglichen Aktienkurse erregen unverändert seine Aufmerksamkeit. Dass bis zur flächendeckenden Versorgung mit Flamitu noch fast drei Wochen vergehen werden, so das Paul-Kehrlich-Institut, vergrößert jedoch die öffentliche Besorgnis. Auch seine. Und die Gefahr einer Mutation wächst von Tag zu Tag.

Er schaut nach zwei Stunden wieder vorbei: Ja, der Mann ist tatsächlich positiv. Mit einem gemischten Gefühl aus Faszination und Entsetzen wirft Elmar einen Blick auf das gespeicherte Bild. Unter dem Mikroskop erscheint das kugelförmige Virus mit seinen relativ spärlichen langen Stacheln harmlos. Schwer vorstellbar, dass dieses kleine Partikel eine solche, inzwischen pandemische, Wirkung auslöst. Was sich jedoch unter der knappen Bezeichnung B/I3Q6 verbirgt, entstammt der Büchse der Pandora. Der Erreger dockt mit seiner Proteinhülle an den Zellen des Wirtskörpers an, wo er seine Nucleinsäure freisetzt, um die Wirtszellen umzufunktionieren. Das Ergebnis ist zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber allem lebenserhaltenden Finanziellen. Oft auch eine abstoßende Gutmenschtümelei, wobei je nach Fall mal das eine, mal das andere überwiegt.

Dem bemitleidenswerten Opfer hier wurden hundert Euro hingelegt: Er griff nicht danach. Auch nicht nach einem Tausender. Ließ die aktuelle DAX-Kurve links liegen. Interessierte sich weder für Optionen noch Renditen. Verschmähte das verlockende Derivate-Angebot eines Hedgefonds. Nur noch der Form halber die Gegenprobe: Ein Artikel über die gerechte Verteilung der Mittel und die Rettung der Umwelt weckte sofort das Interesse, ebenso eine scheinbar zufällig aufgeschlagene Stelle der Gideonbibel: Darin wird empfohlen, sich seines Reichtums zu entledigen und das Geld den Armen zu geben. Ein besonders schwerer Fall mit gleichzeitiger Ausprägung beider Krankheitssymptome: Erschreckend, aber noch nicht die allgemein befürchtete Mutation. – Elmar nimmt den Befund an sich. Fall Nr. 20 ist für die menschliche Gesellschaft vorerst verloren.

Vor fünf Wochen hatte es begonnen. Gläubiger strichen ihre Forderungen, Banker verschenkten Geld, anstatt es gegen Zinsen zu verleihen. Der eine oder andere Politiker forderte Streichung sämtlicher Schulden der Entwicklungsländer. Unvorstellbar! Zum Glück gab es immer noch verantwortungsbewusste Entscheidungsträger, die solchen Auswüchsen einen Riegel vorschoben. Die zum Beispiel jeden Hedgefonds an die Kandare nahmen, der plötzlich all diese kreativen Spekulationen unterließ und kein Risiko mehr einzugehen bereit war. Zu welchem Chaos hatte die Infektion nicht trotzdem geführt! Die ganze um den Globus schwappende Geldblase war in Gefahr. Die zivilisierte Welt geriet in Panik. Aber dann konnte das deutsche Robert-Loch-Institut das gefährliche Virus isolieren. Konnte es mit verschiedenen spezifischen Antikörpern typisieren. Ein erster, vorläufiger Impfstoff und ein Verfahren zum direkten Nachweis des Erregers folgten. Die Welt atmete auf. Die Menschen wurden gar leichtsinnig. Obwohl die Übertragung durch Tröpfcheninfektion erfolgt, legten viele Mundschutz und Handschuhe wieder ab. Reinigten ihre Hände nicht mehr sorgfältig. Das äußerst kontagiöse Virus wütete umso verheerender. Die Führung der Finanzgeschäfte konnte zuletzt nur noch von einem immunen Kern gewährleistet werden, den es aber noch in fast allen Ländern gab. Wenn nur diese Sorge vor einer Mutation nicht wäre.

Elmar macht es sich zuhause bequem. Feierabend. Irgendwie fühlt er sich heute Abend unwohl. Da ist so ein Ziehen in der Brust. Die Arbeit zermürbt ihn. Ob die Menschen bei der Pest im Mittelalter ähnlich gelitten haben? Irgendjemand schrieb einen Roman über dieses Kapitel. Wer war es noch? Er kennt sich da nicht so aus, aber der Titel könnte heute wieder passen. Es war beklemmend: Nach amerikanischem Vorbild sind auch in Europa christlich-fundamentalistische Gruppen aktiv. Die erste von ihnen versammelte sich bald vor dem Kantonsspital in Basel, wo ein Polizeiaufgebot die Patienten der Isolierstation vor ihrem Eifer schützen musste. Aber selbst der Heilige Vater stimmt inzwischen in das Urteil ein, hier sei eine Strafe Gottes über die sündenverderbte Menschheit gekommen. Umkehr tue not. Hin zu den bekannten alten Tugenden. Wieder mit den anvertrauten Pfunden wuchern, wie es sich für den getreuen Knecht gezieme. Und jede Nächstenliebe habe ihre Grenze dort, wo sie den Mitmenschen träge mache, anstatt ihn zur Eigenverantwortung zu erziehen.

Müde blättert Elmar den einzig vorhandenen Lesestoff durch, die gesammelten Pressemitteilungen. Das Damamunga-Virus, ursprünglich wohl aus den Sümpfen Tansanias stammend. Erster Ausbruch der Epidemie in New York, wo von einem auf den anderen Tag die Wall Street zusammenbrach, weil die meisten Börsenmakler kein Verlangen mehr nach ihrem Job zeigten. Innerhalb weniger Tage erreichten die Symptome die Börsen in London, Brüssel, Madrid und Moskau. In Tokio musste der Nikkei-Index unvorstellbare Tiefen durchwandern, in New York waren die Kurse nur durch einen Gewaltakt der Bank of America zu halten. Während in Frankfurt der TecDAX regelrecht implodierte, musste die Swiss Exchange den Bankrott anmelden.

Wie ein Flächenbrand breitete sich das Fieber aus. Das Schwinden jeglichen Interesses an den Finanzmärkten nahm beängstigende Dimensionen an. Eines Tages gründete die Deutsche Bank unter Leitung von Josef Wackermann zusammen mit einigen internationalen Großbanken unter Einsatz des halben Eigenkapitals und des kompletten Gewinns ein Wohlfahrtskonsortium. Es verschrieb sich der Rettung einer angeblich gefährdeten Umwelt und Bekämpfung der weltweiten Armut. Das war der Moment, da die WHO Alarmstufe Sieben ausrief. Seither arbeiten landauf, landab alle Behörden zusammen, um der Seuche Einhalt zu gebieten. Einführung der Meldepflicht. Aufklärungsprogramm „Wie schütze ich mich vor Damamunga?“ oder „Woran erkenne ich die Symptome?“ und „Was tun im Falle einer Ansteckung?“ Gewaltige Anstrengungen sind erforderlich, auch wenn sie die Kräfte der Beteiligten schier überfordern.

Wieder dieses Ziehen. Dazu ein Druck im Kopf. Elmar greift nach einer Aspirin. Ein Blick auf die heutige Aktienkurve, die wie immer neben dem Fernseher angebracht ist. Hannoversche Rück + 1,37 %. Bayrische Leben -2,1 %. Hüssen-Stahl-AG -2,8 %, aber – sensationell! – Wiener Löwen + 4,4 %! Alles in Ordnung, die Reflexe stimmen. Sorgfältig vermerkt er die Kontrolle in der Check-Liste. Übermorgen muss er sie wieder dem Leitungsteam vorzeigen. Die Tablette scheint zu wirken, allerdings nur bedingt. Er fühlt sich entspannt, spürt aber immer noch etwas Wehes in der Brust. Und irgendetwas ist in seinem Kopf. Will raus. Elmar nimmt die Aktien-Tabelle von der Wand. Beginnt auf ihrer Rückseite zu schreiben. Wie unter einem inneren Zwang. Erst langsam, dann immer schneller:

Der du die Menschen zittern lässt,
oh höre, Sumpf von Tansania:
Du sendest Leiden, sendest Pest,
doch nicht mehr lang’, das glaub ich fest
bei allen Heiligen und bei Maria.


Es strömt aus ihm heraus. Wie aus dem Nichts fliegt es ihm zu, Zeile für Zeile. Obwohl er noch nie ein Gedicht verfasste. Seine Ex hatte diese Abneigung gegen jede Art von Lyrik gehasst, aber er ist nun mal ein nüchterner, sozusagen staubtrockener Zeitgenosse. Ordnerweise sachliche Berichte, Faktenanalysen, Statistiken und Tabellen finden sich in seinen Regalen. Seuchen-Fachliteratur, aber kein Goethe oder Schiller, kein Shakespeare. Und richtig, kein Camus. „Die Pest“, das war von ihm. – Elmar, der sonst nur dienstliche Berichte und Trendanalysen zu Papier bringt und dessen einziger nennenswerter Prosatext seinerzeit in drei Sätzen an seine Ex bestanden hatte („Bin froh, dass du fort bist. Such dir einen Lyriker. Mir steht danach nicht der Sinn, Elmar“), skizziert Ideen und Stichwörter. Dann holt er die Kontrollliste für die nächste Woche hervor, um auf ihrer Rückseite eine Kurzgeschichte zu schreiben. Die erste seines Lebens.

Letzte Aktualisierung: 25.06.2009 - 11.22 Uhr
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