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Juni 2009
Sind wir noch zu retten?
von Eva Fischer

Er schnallte sich den Gurt fest und blickte hinaus auf das Rollfeld. Die Räder setzten sich von viel Getöse der Motoren begleitet in Bewegung. Der Asphalt neben ihm verwandelte sich in einen grauen Strom. Gleich würde der Augenblick kommen, wo die Maschine ihre Schwere verlor und vom Erdboden abhob.
Adam liebte diesen Augenblick und lehnte sich zufrieden zurück. Endlich ließ er diesen dunklen, kalten, viel zu langen Winter zurück und flog in den sonnigen Süden. Er hoffte, die Wärme würde seiner Beziehung zu seiner Ehefrau gut tun.
Anna saß neben ihm und war in die Lektüre eines Romans vertieft. Im Gegensatz zu ihm schätzte sie das Startmanöver keineswegs, sondern war froh, wenn das Flugzeug ruhig über den Wolken schwebte. Sie unterbrach ihre Lektüre auch nicht, als sie ihre Flughöhe erreicht hatten.
Die Stewardess bot Getränke an. Adam nahm ein Bier. Er wollte sich entspannen, denn er hatte sich eine Woche Auszeit von seiner kleinen Computerfirma gegönnt, die er gemeinsam mit einem Partner führte und die trotz Wirtschaftskrise erfolgreich lief. Er war 36 und stolz, dass er es geschafft hatte.
Das Licht für den Anschnallgurt leuchtete auf, und der Kapitän bat die Passagiere, sich auf Turbulenzen vorzubereiten. Die Maschine rumpelte und holperte, wie ein Lastwagen, der über Schotter fährt. Kaltluft trifft auf Warmluft, dachte Adam und bemerkte belustigt, dass er Mühe hatte, sein Glas an den Mund zu führen. Annas Gesicht schien bleicher geworden zu sein. „Ist alles okay, Liebling?“
Nein, Anna war nicht okay. Es war nicht ihre Idee gewesen, für eine Woche nach Italien zu fahren. Er will einfach nicht akzeptieren, dass mir mein Beruf als Fotografin wichtig ist, und dass ich ihn nicht aufgeben will, nur um Kinder in die Welt zu setzen, dachte sie wütend. Aber vielleicht hat sich das Problem bald von allein erledigt, wenn diese Maschine weiterhin so wackelt. Doch die Turbulenzen hörten so unerwartet auf, wie sie gekommen waren, und das Flugzeug glitt friedlich seinem Ziel entgegen.
Am Flughafen wartete ein Bus auf sie, der sie die Küstenstrasse entlang führte und vor einer Hotelanlage absetzte. Hinter weißen Mauern verbarg sich ein Park mit Palmen, zwischen denen kleine Bungalows verstreut lagen. Orangen- und Zitronenblüten verströmten ihren Duft. Bougainvillen, Margeriten, Geranien setzten einzelne Farbtupfer. Hinten am Horizont glitzerte das Meer und schickte friedlich seine Wellen zum Sandstrand.
„Der Fotograf musste sich nicht viel Mühe geben mit seinem Prospekt“, dachte Anna, als sie ihren Trolley zum Bungalow Nummer 17 rollte. In der Minibar wartete eine kühle Flasche Prosecco auf sie, aber Anna wollte lieber zum Strand, zog ihre Sandalen aus und rannte wie ein Kind durch die Meeresgischt. Adam folgte ihr lachend und für einen Moment war es wieder wie früher, als die Zukunft noch wie eine helle Wolke vor ihnen lag, aus der man Phantasiebilder herauslesen konnte. Sie küssten sich auf ihre salzigen Lippen, begehrten mehr.

Anna ließ das Wasser der Dusche auf ihre verschwitzte Haut fließen. Dann zog sie ihr schlichtes, schwarzes, ärmelloses Leinenkleid an und warf ihren Blazer über die schmalen Schultern, um sich vor etwaiger Abendkälte zu schützen. Adam holte ein gelbes Plastikbändchen aus der Tasche und überreichte es Anna feierlich. „Was ist das?“, fragte sie verwundert. „Das ist die Eintrittskarte für ein Traumbüffet inklusive Getränke nach deiner Wahl“, lächelte er. „Was steht denn da drauf? Damamunga?“, fragte sie stirnrunzelnd
„Klingt afrikanisch, findest du nicht? Bedeutet wohl soviel wie, willkommen im Schlaraffenland!“
„Ganz so originell finde ich diesen Namen nicht, und das gelbe Plastikding ist einfach scheußlich.“
„Es muss eine Woche lang alle Duschen und Meerbäder überstehen, Liebes“, wandte er ein. „Eine ganze Woche lang soll ich dieses Ding tragen? Das ist nicht dein Ernst!“
„Schatz, das ist der Deal bei all inclusive. Du wirst dich schon gewöhnen.“

Der Kellner führte sie zu einem Tisch, wo bereits ein Paar in ihrem Alter saß. „Darf ich Ihnen auch ein Glas Prosecco als Aperitif bringen?“ Adam nickte.
„Hi, ich bin der Jörg aus München und das ist meine Frau Babsi. Ich denke, wir machen es nicht so förmlich. Wir sind schließlich im Urlaub. Und wo kommt ihr her?“ „Ich bin der Adam, und das ist meine Frau Anna. Wir sind aus Hannover.“
Der Kellner stellte die gefüllten Gläser auf den Tisch und sie prosteten sich zu. Babsis Gesicht war schon leicht gerötet. Ihre wohl gerundete Figur ließ darauf schließen, dass sie keine Verächterin lukullischer Genüsse war.
„ Ihr seid wohl neu hier? Das Büffet ist mordspfundig, ihr werdet es sehen. Vorspeisen gibt es hier nur vom Feinsten. Salate in tausend Variationen, tonno alla siciliana, funghi misti in umido, vitello tonnato.” Sie betonte jede Silbe wie die Sängerin einer italienischen Opernarie. „ Hinterher könnt ihr genauso perfekt Italienisch wie wir,“ sagte sie augenzwinkernd. „Das Beste ist der Nachtisch,“ ergänzte Jörg. „Diese Törtchen sind einfach göttlich. Schokolade, Mandeln, Pistazien, Rosenblüten, Orangenblüten. Ich weiß nicht, wie die Italiener das machen, aber dieser Versuchung kann man einfach nicht widerstehen.“ Er strich sich genießerisch mit der Zunge über die Lippen.
„Na, dann wollen wir mal“, schlug Adam vor, der mittlerweile Appetit bekommen hatte. Das Deckenlicht war auf ein Minimum gedimmt. Die Tische zierten weiße Kerzen. Die Auswahl der Speisen war überwältigend. Eine Woche reichte nicht aus, um alles zu probieren. Anna entschied sich für gegrillten Fisch und Salat. Als Nachtisch nahm sie Vanilleeis mit frischer Ananas und Himbeeren. „Ach, du Glückliche, hast keine Gewichtsprobleme wie ich“, stellte Babsi mit einem Blick auf ihren Teller fest. „Ich muss zu Hause erst mal wieder Diät machen, um all die Pfunde wieder herunterzukriegen. Aber daran denke ich heute Abend nicht.“
Die Gespräche der Gäste wurden plötzlich durch Trommeln übertönt. Junge Männer, schwarz-rot gekleidet und makellos schöne Frauen luden zu einem sizilianischen Abend auf der Terrasse ein.
Wie viel Wein sie getrunken hatten, wussten sie nicht, denn der Kellner hatte immer wieder dezent nachgeschenkt. Mittlerweile waren sie beim Grappa, um die feinen Törtchen besser verdauen zu können, aber schon lockten Musik und Tanz.
Babsi forderte Adam auf und Anna wurde von Jörg nach heißen Rhythmen über die Tanzfläche gewirbelt. Zuerst zog Anna ihren Blazer aus, dann ihre Schuhe, und die stets wechselnden Gesichter ihrer Tanzpartner verloren zunehmend an Konturen. Es war ein Rausch, wo sich Raum und Zeit auflösten.

Der Himmel färbte sich mittelmeerblau wie jeden Morgen. Anna saß mit einer Kopfschmerztablette, einer Flasche Wasser und einem großen Milchkaffee neben Adam auf der Terrasse und starrte trübsinnig auf das Meer.
„Wir chillen etwas am Strand und dann sind wir heute Abend wieder fit“, schlug er vor.
Anna zerrte an ihrem Plastikbändchen. Bilder von ausgemergelten dunkelhäutigen Menschen in winzigen Schiffen, die das Meer an Land spülte, tauchten vor ihr auf. Weiß Uniformierte mit abweisenden Gesichtern. Überfüllte Lager, wo die Hoffnung auf ein besseres Leben sich hartnäckig wie Unkraut hielt, allen Erfahrungen zum Trotz.
„Lampedusa ist nur wenige Hundert Kilometer von hier entfernt“, sagte sie tonlos.
„Nun komme mir nicht schon wieder mit deinem Sozialtick!“, entfuhr es Adam wütend. „Willst du ihnen ein paar Antipasti einpacken und schicken? Meinst du davon werden sie satt? Wenn es dein Gewissen beruhigt, du beschäftigst hier jede Menge glücklicher Sizilianer, die für dich kochen, putzen, singen und tanzen.“
„Ich kann diese Bilder nicht ausblenden. Es tut mir leid.“ Das gelbe Plastikbändchen hatte ihrem Druck nachgegeben und glitt von ihrem Handgelenk.

Der kleine Fiat Punto bahnte sich einen Weg bergauf über die staubigen Serpentinen. Anna war froh, dass sie sich einen Leihwagen gemietet hatte, um allein nachzudenken, wie sie es nannte. Um zur Vernunft zu kommen, so hatte es Adam gesehen.
Sie näherte sich einem Bergdorf, das wie ausgestorben in der aufkommenden Mittagshitze vor ihr lag und folgte der einzigen Straße, die sich immer mehr verengte, so dass sie schon fürchtete mit ihrem kleinen Auto stecken zu bleiben. Am Ortsende sah sie ein Hinweisschild: le grotte und folgte ihm.
Zwischen den Stufen wuchs Gras. Es schien, als ob seit dem Mittelalter keiner mehr hier gewesen war, als die Menschen die Steine der Bergwelt zu ihrem Zuhause gemacht hatten.
Sie kletterte von Höhle zu Höhle. Nur das Surren der Insekten durchbrach die Stille. Schweiß rann ihr von der Stirn. Sie nahm eine Flasche Sprudel aus ihrem Rucksack und setzte sich auf einen Felsblock. Das lauwarme Wasser schmeckte ihr köstlicher als der kühle Wein von gestern. Die Kopfschmerzen ließen langsam nach. Sie schaute in das Tal, auf das vielfältige Grün der Baumkronen, auf den Weg, den sie gekommen war. Ein Raubvogel zog seine Kreise am Horizont.
Plötzlich wurde ihr klar. Sie konnte nicht mehr zurück in diese Scheinidylle, in diese Welt der organisierten Fröhlichkeit.
Sie ging zu ihrem Auto, fuhr zurück zum Meer und weiter zur Hafenstadt. Als sie an der Fähre stand, nahm sie ihr Handy.
Wenn er sie verstehen konnte, dann hatten sie noch eine Chance für eine gemeinsame Zukunft.

Letzte Aktualisierung: 02.06.2009 - 23.19 Uhr
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