Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
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Juni 2009
Hinter dem roten Gartentor
von Michael Pick

Ich wage nicht einzuschätzen, ob ich eine schöne Kindheit hatte. Oder eine glückliche. Schönheit und Glück und noch ein paar andere wundersame Worte, sagte Mama, sind wie Schmetterlinge.
Sie fliegen von Blume zu Blume und besuchen uns ohne Einladung - verlassen uns, ohne zu fragen. Sie haben das leichteste Leben auf der Welt, denn sie suchen nicht, sie lassen sich treiben, wohin es ihnen gefällt. Manchmal glaube ich, auch Mama war ein solcher Schmetterling, eine, die im Leben floss.
Es gab Tage, da galoppierte sie wie ein wildes Pferd durch alle Zimmer unseres Hauses, und entließ die interessantesten Worte in die Welt.
Ich hätte sie gerne gefragt, welche Bedeutung diese Worte hatten, doch jedesmal nahm Vater meine Hand und brachte mich in mein Zimmer. Er strich mir über das Haar und setzte eine traurige Maske auf sein Gesicht. Danach ging er zurück zu Mama und versuchte ihr die Sache mit den wundersamen Worten auszureden.
Ich hatte keine Freunde, wie andere Kinder sie hatten. Das lag daran, dass ich nicht auf die Straße zum Spielen ging. Auf der Straße gab es auch viele böse Wörter. Oft standen sie vor unserem Haus und zeigten mit dem Finger auf Mama und mich. Lachten und grinsten. Ich verstand nicht, welche Bedeutungen in ihnen lagen, doch mochte ich sie nicht und hielt mich von ihnen fern.
Lieber ging ich mit Mama in den Garten hinter dem Haus. Der Garten war so groß, dass ein Elefant sich dreimal zu jeder Seite wälzen konnte, ohne die Lebensbäume zu berühren. Es gab einen Zugang von der Straße, durch das kleine rote Gartentor. Es musste sehr traurig sein, denn eine schwarze Kette hielt es fest verschlossen.
Unser Garten war eine große Wiese mit einem Apfelbaum in der Mitte. Wenn uns danach war, und das geschah oft, liefen Mama und ich auf die Wiese, warfen uns in das Gras und rollten, bis wir vor Lachen nicht mehr konnten. Oder lagen auf dem Rücken und beobachteten die Wolken.
Mama und der Garten waren sehr sehr gute Freunde. Wenn Mama besonders froh war, summte sie ihr Lieblingslied und streichelte mir über das Haar, bis ich einschlief. Sie gab dem Garten den Namen Damamunga.
Es kam der Tag, an dem Mama und die Schmetterlinge mich verließen. An diesem Morgen trug mein Vater die Maske mit den toten Zügen. Auf der Straße vor unserem Haus hielten zwei Kutschen. An diesem Morgen schrie Mama so laut wie nie zuvor.
Vater ließ fremde Männer in unser Haus. Sie trugen hässliche weiße Jacken und hatten auch für Mama eine dabei. Vater hielt mich an den Schultern fest, als sie Mama fortbrachten. Sie schrie nicht mehr mit dem Mund, nur noch mit den Augen. Nur für mich: Damamunga! Dann fuhr Mama mit den Männern fort.
In der zweiten Kutsche saß eine Frau, mit einem hässlichen schwarzen Kleid. Sie hatte auch eines für mich dabei. Wir fuhren an der kleinen roten Gartenpforte vorbei. Ich winkte Damamunga, dem Apfelbaum und der Wiese und auch den Lebensbäumen zu und versprach, bald wiederzukommen.
Das Schicksal und das Leben hatten andere Pläne für mich.
Es war im Winter, das ich Damamunga wiedersah. Das kleine rote Gartentor hatte sich von der schwarzen Kette befreit. Die Wiese trug eine Decke aus Schnee und der Apfelbaum neigte grämlich zu Seite. Mir taten die Beine weh vom langen Wandern.
Ich hatte gehofft, Damamunga würde lebendig, wenn ich vor ihm stand.
Ich hatte gehofft, einen Schmetterling zu treffen, der von Blüte zu Blüte flog.
Ich hatte gehofft, mich von Mama verabschieden zu können.
Wer sah schon einen Schmetterling im Winter?

Letzte Aktualisierung: 23.06.2009 - 13.28 Uhr
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