Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
Eines Tages stand ein Ă€lterer Herr vor der Praxis Dr. Bartes und fragte nach einem Weg. Er trug eine altmodische Frisur und stotterte. Dr. Bartes lud ihn in seine Praxis ein. Er freute sich auf den Besuch, denn seit im SĂŒden der Stadt ein junger Psychologe eine neue Praxis eröffnet hatte, liefen ihm seine Patienten weg. Nun fand jemand zu ihm, mit dem er sprechen konnte.
Dr. Bartes bot ihm einen Tee an. Obwohl ihm die Geduld fehlte, zuzuhören, weckte eines seine Aufmerksamkeit. Der Mann sprach manchmal einen Satz, sich anhörte wie: âDhama mungaâ. Er zeigte ihm ein Bild und ein StĂŒck Papier, von dem er etwas vorlas. Es war ein Gedicht und es handelte von groĂer Liebe und dem Tod. Der stotternde Vortrag aber trĂŒbte den Genuss des schönen Gedichtes. Dr. Bartes holte eine Flasche Schnaps, goss ein und stieĂ mit ihm an. Der Mann schluckte den Inhalt des Glases hinunter wie eine Tablette. âDaa-da-da-dankeâ, sagte er.
Nach einiger Zeit sprach der Mann, ohne dass es sich vorher angekĂŒndigt hatte, flieĂend. DafĂŒr lallte er ein wenig. Dr. Bartes freute sich. Sie sprachen ĂŒber das Leben und den Weg, nach dem der Mann ihn gefragt hatte und dass der Weg beschwerlich sei, denn die StraĂe gab es schon lange nicht mehr in der Stadt. Da es bereits spĂ€t war, bot Dr. Bartes ihm an, in seiner Wohnung ĂŒber der Praxis zu ĂŒbernachten. Der Mann willigte ein und bald darauf begaben sie sich zur Ruhe. Erst als Dr. Bartes einschlief, erinnerte er sich daran, dass er vergessen hatte, ihn nach dem seltsamen Satz zu fragen. So schlief er ein und trĂ€umte schlecht.
Am nĂ€chsten Morgen war der Gast bereits gegangen. Er hatte keine Nachricht hinterlassen, doch es war abgewaschen. Keine Spur von einem Besuch am letzten Abend. FĂŒr Dr. Bartes war es eine Einbildung. Er hatte eine Zeitschrift gelesen und ging frĂŒh zu Bett, wie jeden Abend. Er erinnerte sich sogar daran, dass er das Licht ausmachte. Doch als er seine Bar öffnete, um sich seinen Morgendrink zu mixen, sah er an seiner Schnapsflasche, dass er sich irrte. FĂŒr einen Moment hatte er sich an etwas nicht Dagewesenes erinnert, obwohl er den letzten Abend noch gut in Erinnerung hatte. FĂŒr ihn war es ein interessantes PhĂ€nomen und er begann, sich mit damit zu beschĂ€ftigen.
Eine Woche spĂ€ter veröffentlichte er einen Aufsatz. Er habe eine neue Krankheit entdeckt, das Damamunga-Syndrom. Es bezeichnete den umgekehrten Fall einer Amnesie, nĂ€mlich dass man sich an Ereignisse erinnern konnte, die so nicht stattgefunden hatten. Menschen mit dieser Krankheit litten an GlaubwĂŒrdigkeitsverlust, ein schweres Symptom, das zur Ausgrenzung dieser Kranken fĂŒhre. Andere hingegen integrierten ihr Umfeld in ihre Erinnerungen, so dass ganze soziale und wirtschaftliche Gruppen von dieser Krankheit ergriffen wurden.
Trotzdem einige Wissenschaftler an seine Entdeckung zweifelten, erreichte sein berufliches Leben eine neue QualitĂ€t. Er erhielt Einladungen, auf Tagungen zu sprechen. Und er sprach. Er sprach ĂŒber Ereignisse, die nur in der Fantasie existierten und ĂŒber Menschen, die sich in allen Einzelheiten daran erinnern konnten, auch an ganze LebenslĂ€ufe. Sogar in GeschichtsbĂŒchern fand er Ereignisse, die nur dieser Krankheit entsprungen sein konnten. Je mehr er sprach desto mehr hörte man ihm zu. Die SĂ€le wurden voller. Immer gröĂer wurde die Menschentraube um ihn, die sich aus Ărzten, Journalisten, Politikern und anderen nach Wissen dĂŒrstenden Menschen zusammensetzte.
Die Patienten kamen wieder in seine Praxis, denn ein Entdecker hat den Segen Gottes und kann kein schlechter Arzt sein.
Nach manchen NĂ€chten wachte er auf und glaubte, gerade gesprochen zu haben. Ein Wort, das er zu kennen schien, das ihn langsam, aber stetig in unergrĂŒndliche Tiefen hineinzog. Morgens erinnerte er sich kaum daran. Er fĂŒhlte sich gut, denn er konnte den Menschen wieder helfen, was ihm neue Lebensenergie gab, und machte sich deshalb keine Gedanken darĂŒber.
Eines Tages, ein Jahr war seit dem seltsamen Besuch vergangen, hatte er einen ruhigen Arbeitstag, da erschien wieder der Herr in seiner Praxis. Dr. Bartes erkannte ihn und bot ihm gleich einen Schnaps an. Der Mann jedoch schien sich nicht mehr an ihn zu erinnern. Er fragte noch einmal nach dem Weg, erzĂ€hlte von dem MĂ€dchen, das er liebte und las ihm das Gedicht vor. Dr. Bartes hörte ihm aufmerksam zu, doch der Satz wollte dem Manne nicht entweichen. Als er nach einigen SchnĂ€psen wieder flieĂend sprach, ging Dr. Bartes zur Sache. âIch bin nun ein berĂŒhmter Arztâ, sagte er, âund das habe ich nur Ihnen zu verdanken. Vielleicht erinneren Sie sich an mich, vor einem Jahr... Wenn Sie damals nicht in meine Praxis gekommen wĂ€ren...â Er hielt inne, seine Augen glĂ€nzten und der Mann lĂ€chelte. âIch habe eine Krankheit entdeckt, und ich gab ihr einen Namen, den Sie mir damals nannten: Damamunga. Sagen Sie bitte: Was heiĂt das?â âIch habe ihn genannt?â, fragte der Fremde und fuhr fort: âNun, abgesehen davon, dass Sie ihn falsch aussprechen, und das ist auch gut fĂŒr Sie, denn die richtige Aussprache macht Sie zu seinem Diener: Er ist ein Geist der TĂ€uschung.â âEin was?â, fragte Dr. Bartes und wunderte sich selbst ĂŒber diese Frage, denn er hatte sie verstanden. Der Mann lĂ€chelte und hielt ihm sein leeres Glas entgegen. Dr. Bartes schenkte ihm ein. âIch meine, aus welcher Kultur kommt er? Ich habe vorher noch nie von ihm gehört. ErzĂ€hlen Sie mehr von ihm!â Der Mann neigte den Kopf, rieb den Rand des Glases langsam an seiner Lippe, als könnte er sich nicht entschlieĂen, das zu tun, was er jetzt tun wollte. In seinen Gedanken schien er weit, weit weg zu sein.
âIch glaube, dies ist unsere letzte Begegnungâ, begann er lĂ€chelnd. âVor vielen Jahren wollte ich eine Reise machen. Ich kaufte ein Schiff und wollte die Menschen und Kulturen dieser Welt kennenlernen. Als ich die HĂ€lfte der damals bekannten Welt erkundet hatte, trug mich ein Sturm auf eine Insel. Sie lag irgendwo zwischen den Philippinen und dem australischen Kontinent. Dort traf ich ein Volk, welches mich wieder gesund pflegte. Am Tag des Abschieds sollte ich ein MĂ€dchen mitnehmen. Es war auf die gleiche Weise dorthin gekommen wie ich und man wollte es offenbar loswerden. Doch sie war bereits einem der Eingeborenen versprochen. Er wollte mit mir kĂ€mpfen, der weise HĂ€uptling aber lieĂ das MĂ€dchen entscheiden und sie entschied, wieder in ihre Welt zurĂŒckzukehren. Daraufhin sprach der JĂŒngling einen Fluch aus. So wie er betrogen wurde, sollte auch ich betrogen werden. Dabei rief er einen alten Geist, den man nur selten heraufbeschwört, weil seine Macht unberechenbar ist. Oft weiĂ man selbst nicht, dass man in seinen FĂ€ngen steckt. Dann ist es unmöglich, jemals von ihm loszukommen. Der weise HĂ€uptling konnte nichts dagegen tun, denn dieser Geist ist einer der wenigen Geister, die jeder Unkundige heraufbeschwören kann. Nur seinen Namen darf man nicht aussprechen, deshalb lassen die meisten der Eingeborenen die Finger von ihm.
Ich fuhr mit dem MĂ€dchen in meine Heimat und wir versuchten, ein glĂŒckliches Leben zu fĂŒhren. Sie wurde alt, ohne Kinder zu hinterlassen und irgendwann hielt ich nur noch ihren Staub in meinen HĂ€nden.â
Dr. Bartes hatte bis zum Schluss der Rede gelauscht. Er glaubte nicht, was er hörte, und doch drĂ€ngte es ihn, mehr zu erfahren. âAber was macht dieser Geist? Warum darf man seinen Namen nicht nennen?â âDas erfahren Sie leider erst, wenn Sie es nicht mehr wollen. Sie sollten Ihre Neugier zĂŒgeln, Herr Doktor.â Dr. Bartes vermochte es nicht, aus dem Mann, der einen sehr zufriedenen und vergnĂŒgten Eindruck machte, mehr herauszubringen. Nicht nur seine Zunge hatte sich gelockert, und tief in sich selbst spĂŒrte er, dass dessen Stimmung nicht am Schnaps lag. Er bedankte sich fĂŒr die schöne Geschichte und schlug vor, zu Bett zu gehen, denn es war bereits nach Mitternacht. Er nahm das groĂzĂŒgige Angebot an und verschwand sogleich ins GĂ€stezimmer.
Dr. Bartes lag noch lange wach in seinem Bett. Ihn beunruhigte, wie seltsam der Mann sich benommen hatte. Er wagte es nicht, einzuschlafen. Er glaubte nicht an Geister: Er war Mediziner und glaubte an die Krankheiten. Vielleicht suchte er eine ErklĂ€rung fĂŒr dieses seltsame Wort und bildete sich diese nur ein? Hatte er ein Recht, die Krankheit nach ihm zu benennen? War alles nur ein Traum? Er wollte nachsehen, ob der Mann noch in seinem Zimmer war, doch eine wohlige Schwere legte sich auf ihn und die MĂŒdigkeit wiegte ihn in den Schlaf. Und in dieser Nacht trĂ€umte er sehr schlecht.
Am nÀchsten Morgen war der Gast verschwunden. Nichts erinnerte mehr an ihn, sogar die Schnapsflasche war weg. Er tauchte auf und verschwand wieder, wie ein Geist. Mit einer seltsamen Gelassenheit verschwendete er keinen Gedanken mehr an den Fremden, der beinahe hÀtte sein Freund sein können.
Er machte sich ein FrĂŒhstĂŒck und die Sonne, die eben noch ins GĂ€stezimmer geschienen hatte, stand jetzt auf der anderen Seite. Dabei war es erst frĂŒh am Morgen. Er schaute aus dem Fenster. Es wurde schon dunkel. Minuten spĂ€ter wurde es wieder hell. Dann Mittag, dann Nacht. Er wartete ab, schĂŒttelte immer wieder mit dem Kopf. Nach einigen SonnenaufgĂ€ngen war er sich sicher, krank zu sein. Er trat vor das Haus und sog die frische, kalte Morgenluft ein. Jetzt fĂŒhlte er sich wieder stark. Die Sonne blieb an ihrem Platz, es war alles gut. Zufrieden ging er wieder ins Haus, zog sich einen Mantel ĂŒber und wollte spazieren gehen. Doch als er das Haus verlassen wollte, war es wieder dunkel. Seine Gelassenheit wich. Seine Glieder zitterten und er setzte sich. Es musste schlimmer sein, als er angenommen hatte. Gleich morgen frĂŒh musste er zum neuen Psychologen. Er ĂŒbernachtete vor der HaustĂŒr, fĂŒr den Fall, dass er doch nicht krank und dies ein neues PhĂ€nomen sei, das auf seine Untersuchung wartete. Als es hell wurde, fragte er bei einem Nachbarn nach dem Weg. Der schaute ihn verstĂ€ndnislos an, schĂŒttelte mit dem Kopf, sagte etwas von Betteln und verschwand wieder. Dr. Bartes rief ihm wĂŒtend hinterher: âD-Da-Da-ma-ma-munn-ga-aaâ.
Letzte Aktualisierung: 27.06.2009 - 15.45 Uhr Dieser Text enthält 10149 Zeichen.