Wellensang
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Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
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Juli 2009
Ha Ka, Öffentliche Bilder - Betrachtungen zum Klischee. Frankfurt a.M. 2009. Originalausgabe.
von Helga Rougui

ein vampir ist bleich
ihm läuft ein feiner roter streifen blut aus dem mundwinkel
er guckt wild und faucht
und spitze eckzähne sprengen seinen mund

ein franzose trägt baskenmütze
und ein – hart erkämpft – preisgebundenes baguette unterm arm
und sein alltag ist revolution

ein lehrer ist allwissend
und besserwisserisch
er hat schon mittags frei und endlos lange sommerferien
in denen er rein gar nichts tut

ein schüler ist faul und frech
und vergißt immer seine hausaufgaben
und hat dafür die unmöglichsten ausreden
wie auch fürs zuspätkommen
im arbeitsleben werden die ihm später was erzählen
von wegen piercing und lange haare

ein türke kann kein richtiges deutsch
seine frau geht drei schritte hinter ihm
und die gehen sowieso irgendwann zurück

ein engel ist sehr blass
und an den rändern ausgefranst
und geschlechtslos

ein gespenst
wallt einher
ist halb durchsichtig
und unerlöst
und man kann hindurchlaufen

eine frau über fünfzig
geht immer mit der besten freundin ins kino
sie reden halblaut miteinander daß es gerade noch stört
bis in den vorspann des films hinein

ein ernsthafter kinobesucher dreht sich um
zu den quatschenden freundinnen
und schickt ihnen ein unfreundliches psssssst in ihr geplauder

ein dicker ißt eigentlich den lieben langen tag rein gar nichts
nimmt aber unerklärlicherweise ständig zu
und nie nie nie läßt er sich erwischen
mit einer portion pommes schranke auf der straße

ein politiker lügt wenn er was sagt
und sagt nichts wenn er was sagt
eine revolution scheitert grundsätzlich irgendwie
ein idealist ist immer ein weltferner spinner
ein penner stinkt und isses alles selber schuld
ein hartz4 empfänger hat drei lukrative nebenjobs und betrügt den staat
ein marokkaner dealt am hauptbahnhof
ein schwarzer hat ein unheimliches gefühl für rhythmus
oder ist ein diktator und betrügt sein volk
(oder sitzt im weißen haus aber das gehört nicht hierher)
ein ausländer ist krimineller als ein inländer
eine frau kauft pausenlos schuhe
und zieht sich alle fünf minuten die lippen nach
ein mann fragt niemals nach dem weg
ein model kokst und kotzt
und behauptet daß es so was von auf schokolade steht

ein schreib-lust schreiber hat mal wieder keine idee
versteht das thema nicht recht hat aber eine folge von bildern im kopf
aus denen sich notfalls eine geschichte zusammenflicken ließe

ein klischee nach dem anderen lärmt in seiner plattheit vor sich hin
es ist richtig und falsch zugleich
und es soll gebrochen sein
o je
hier ist tiefgang vonnöten
der schreib-lust schreiber ist in nöten
die wahrheit ist uneinsichtig und unhandlich
das klischee unendlich übersichtlich und praktisch
also warum sich auf einen bruch einlassen
warum den menschen überfordern
besser eine einfache sicherheit als viele unsichere überlegungen

so wurde schon manches volk verdummt
also warum vom erfolgsrezept abrücken

ungebrochen also und
erhobenen hauptes
strebt das klischee seiner letzten station entgegen

die reise endet in einem vortragssaal
und der schreib-lust schreiber ist im begriff seinen offenbarungseid zu leisten

das klischee freut sich
und überlebt
und überlebt
und überlebt

und überlebt

---

Mit diesen Worten endete die Dichterlesung.
Die Autorin faltete ihre Blätter zusammen, tosender Beifall brandete auf, das zahlreich erschienene mondäne Publikum stellte die Champagnergläser ab und erhob sich, und es gab Standing Ovations ähnlich denen bei der Oscarverleihung.
Die Autorin erhob sich ebenfalls und verbeugte sich, immer wieder, ihre langen blonden Haare fielen ihr vors Gesicht, ihr korallenrot bemalter Mund leuchtete, wenn sie lächelte, dichte lange dunkelgetuschte Wimpern klappten auf und nieder, und das paillettenbestickte Designer-Kleid, das ihre apfelförmigen Silikonbrüstchen und ihr graziles langbeiniges orangenhautfreies Figürchen sanft umspielte, spiegelte die Lichter der Halle des MOMA wieder, und der Beifall wollte und wollte nicht enden.
In der ersten Reihe ihr Gatte, überirdisch schön, dunkelhäutig, reine Melodie, erfolgreich, der sie anstrahlte und stolz auf sie war.
Und sie dachte – wie herrlich, diesmal habe ich versucht, etwas zu präsentieren, was vielleicht nicht meine Domäne ist, aber auf schreib-lust kann jeder mitmachen, so auch ich, und schaut, wo ich jetzt bin, und ich trete hier in einer völlig ungewohnten Rolle auf, präsentiere Gedanken und Überlegungen statt Glitzerfummel und die Newest Fashion – und das Publikum?

Dasselbe wie immer.

Sein Beifall gilt dem Model, seiner blonden Mähne, seinem süßen Stupsnäschen und seinem nichtvorhandenen Hirn.

Letzte Aktualisierung: 07.07.2009 - 14.13 Uhr
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