Anna starrte auf die leblose Form. Karls Haut und die wenigen Haare hoben sich kaum von der Bettwäsche ab. Das Beatmungsgerät zerhackte die Stille.
Jemand klopfte. Anna drehte sich zur Tür und kniff die Augen zusammen.
„Frau Kern, Sie sind ja noch da.“ Dr. Weber trat an ihre Seite. „Sie sollten heimgehen. Ihr Mann ist stabil und ich glaube nicht, dass er in den nächsten Stunden aufwacht.“
„Sie haben recht.“
„Möchten Sie hier schlafen? Oder damit warten ...“
Sie nickte. „Bis es zu Ende geht. Ja.“ Behutsam strich sie Karl über die Stirn. „Liebster. Ich komme morgen wieder. Du bist gut aufgehoben. Ich wünsche dir eine gesegnete Nacht.“ Anna nestelte nach ihrem Stock.
„Warten Sie.“ Dr. Weber reichte ihr den Arm.
„Danke.“
Anna lag lange wach, zum ersten Mal seit siebenundfünfzig Jahren allein im Ehebett. Ihr Hochzeitsgeschenk, das Gesellenstück ihres Bruders, aus polierter Eiche. Das Möbelstück glänzte wie am ersten Tag. Holz alterte nicht, wenn man es pflegte; im Gegensatz zu Menschen mit ihrer runzeligen Haut, abgenutzten Gelenken und einem Herz, das nicht mehr schlagen wollte. Bei diesem Gedanken brannten Annas Augen. Sie holte Luft, ihr Seufzer endete in einem Schluchzen. Ob Karl je wieder neben ihr liegen würde? Irgendwann fiel sie in einen unruhigen Schlaf und träumte, Karl hätte sich im Wald verirrt; sie musste ihn suchen, konnte aber kaum laufen.
Am nächsten Morgen klingelte ein fremder Mann.
„Kurierbrief. Unterschreiben Sie bitte hier.“ Notariat Wilke. Den Namen hatte sie noch nie gehört. Vor dem Kaffee würde sie ihn nicht öffnen. Während sie frühstückte, lag der Umschlag auf dem Tisch und schien sie anzustarren. Das Brot schmeckte wie Pappe, der Kaffee glich bitterer Galle. Sie räumte ab und nahm den Brief hoch. Vorsichtig schlitzte sie das Kuvert auf. Ein weiterer Umschlag kam zum Vorschein. Diesem entnahm sie mehrere Bögen. „Oh“, entfuhr es ihr. Ungläubig starrte sie auf das große H mit der abgebrochenen Spitze. Das war auf Karls Schreibmaschine getippt, auf der er ihr immer Gedichte verfasst hatte! Ihr Herz flatterte und ihr Gesicht wurde warm. Das Papier tanzte in ihren zitternden Händen. So ging das nicht. Den Brief in der einen, den Stock in der anderen Hand, humpelte sie zum Sofa. Dann begann sie zu lesen.
„Meine liebste Anna!
Wenn Du diese Zeilen liest, muss ich dem Tod nahe sein. Ich habe nicht den täglichen Anruf an Notar Wilke getätigt, was ihn veranlasst hat, Dir diesen Brief zu senden. Wir schreiben das Jahr 1999. Aufgeschreckt durch meinen Herzinfarkt habe ich ihn verfasst; über Wochen entworfen und heute, da Du mit dem Seniorenclub unterwegs bist, werde ich ihn abtippen.
Oh Anna! Ich muss Dir etwas beichten, was zu Lebzeiten einzugestehen mir der Mut fehlte. Oh flüchtende Worte, umherirrender Geist. Noch heute treibt es mir die Schamesröte ins Gesicht.
Du weißt es nicht, liebste Anna, aber kurz vor unserer Hochzeit wäre ich beinahe aus Deinem Leben verschwunden. Wie soll ich Dir begreiflich machen, was ich selbst nicht verstehe? Du, innig geliebte Frau, Mutter meiner Kinder. Welche Worte der Rechtfertigung gibt es? Keine! Manch eine Begegnung dauert Augenblicke und wirkt ein Leben lang nach; den kurzen Rausch einer Leidenschaft bezahlen wir mit bitterster Reue.
Anna schluckte. Eine Träne rann ihre Wange hinab. Das war sie also gewesen, die Marie. Diesen Namen hatte Karl manche Nacht gerufen, in der er sich unruhig im Bett herumgewälzt hatte, schwitzend, stöhnend, fast krank. Anna hatte nie zu fragen gewagt. Tief in ihrem Inneren suchte sie, was sie empfand. Sie konnte es nicht benennen; alles fühlte sich gedämpft an, ihre Gefühle in Watte gepackt. Eifersucht? Nein, nicht nach so langer Zeit. Er hatte sich selbst genug gestraft.
Da klingelte es Sturm. Sie humpelte zur Wohnungstür. Theo, der Zivi, stand auf ihrer Matte. „Frau Kern, Dr. Weber schickt mich. Ihr Mann ist aufgewacht. Es kann ein Zeichen sein für Besserung, aber auch ...“ Er sah zu Boden.
„Ich verstehe.“ Sie nahm den Mantel vom Haken, die Tasche von der Kommode und folgte dem Jungen.
Karl lag da, wie sie ihn verlassen hatte; den Oberkörper leicht erhöht, einen Sauerstoffschlauch in der Nase, aber seine Augen waren offen. Anna setzte sich auf den Stuhl und nahm seine Hand, die sich anfühlte wie kaltes Wachs. „Karl, hier bin ich.“ Er drehte den Kopf, es kostete ihn viel Kraft. Seine Augen brauchten einen Moment, um klar zu werden, dann erschien ein schwaches Lächeln auf seinen blauen Lippen. „Anna“, flüsterte er. „Der Brief?“
„Ja, ich habe ihn gelesen.“
In seinen Augen glitzerte es. Er holte Luft, stieß sie aus; setzte erneut an und hauchte ein einziges Wort. „Verzeih.“
Sie beugte sich hinunter, küsste sein Gesicht, die Träne, die sich ihren Weg über die runzelige Haut bahnte, die trockenen Lippen.
„Oh Karl, natürlich verzeihe ich. Du bist mir ein guter Ehemann gewesen, wir haben wunderbare Jahre geteilt. Du hast den Mut zum Geständnis, wenn auch spät, gefunden. Wie könnte ich dir nicht verzeihen? Mein geliebter Karl.“
Das Lächeln auf seinen Lippen strahlte wie früher, als er ein junger Mann gewesen war. „Ich liebe dich“, sagte er mit überraschend fester Stimme. Drei Atemzüge folgten, dann hob der Brustkorb sich ein letztes Mal und sank langsam in sich zusammen. Ein schriller Pfiff ertönte aus dem Monitor an der Wand.
„Oh Karl.“ Jetzt rannen ihr die Tränen, sie legte den Kopf auf seine Brust und schluchzte wie ein kleines Kind. Die Tür wurde aufgerissen, jemand stürmte in den Raum und schaltete das Pfeifen ab. Sie hob den Kopf, verschwommen erkannte sie Dr. Weber. Er fasste nach Karls Hand und schüttelte den Kopf.
„Er ist ganz friedlich entschlafen. Müssen Sie ... muss ich her weg?“
„Nein. Nehmen Sie sich die Zeit, die Sie brauchen. Klingeln Sie, wenn wir etwas für Sie tun können.“
Wortlos nickte sie. Der Arzt verließ den Raum.
Anna stand auf, humpelte zum Waschtisch und holte die Haarbürste. Behutsam glättete sie Karls weiße Strähnen, zog das Nachthemd und die Bettdecke zurecht. Als letztes schloss sie mit einer sanften Bewegung seine Augenlider. „Adieu Karl. Ich weiß, dass wir uns bald wiedersehen werden.“
Sie trocknete sich das Gesicht ab und griff nach dem Rufknopf.
Letzte Aktualisierung: 25.08.2009 - 15.54 Uhr Dieser Text enthält 10152 Zeichen.