Honigfalter
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August 2009
WĂŒrzburg 1952
von Bernd Kleber

Verurteile keinen Menschen und halte kein Ding fĂŒr unmöglich, denn es gibt keinen Menschen, der nicht seine Zukunft hĂ€tte, und es gibt kein Ding, das nicht seine Stunde bekĂ€me.
(Talmud)


Er sah auf seine HĂ€nde, die rissig waren und nicht mehr zu gebrauchen.
Die Straßenbahn ruckelte.
Er kippte gegen den jungen Mann und spĂŒrte, wie dessen Muskeln ihn abfederten. So stark war er auch einmal gewesen.

„Die Fahrkarten!“

Er erschrak, zuckte zusammen, diese strenge Stimme! Das war doch ... nein ... absurd ...
Zitternd kramte er in seiner Manteltasche, tastete ungeschickt. Drei Finger steif an seiner rechten Hand, unnĂŒtz und krumm, zu oft gebrochen, mehrfach falsch zusammengewachsen. Er fand den Fahrschein, hielt ihn fest.

„Sie mĂŒssen mir die schon geben, die Karte, oder meinen Sie, ich kann hellsehen?“

Er fuhr erneut zusammen. Das ist er! Er sah hoch. Blitze stieben durch seinen Kopf. Er sah in das Gesicht, das ihm vertraut war wie das eines Verwandten.
Verwandt mit dem Tod.

„Wenn die ungĂŒltig ist, mĂŒssen Sie aussteigen und Strafe zahlen. Ausweis!“, herrschte der Kontrolleur eine Dame an.

Sein Puls stieg. In seinem Gehirn dröhnte es. Bilder beschwor die Stimme herauf.

Ein Schuss zischt an seinem Kopf vorbei. Der Kamerad neben ihm, rosa Dreieck, bricht zusammen. Ihm bleibt die Luft weg, keinen Atemzug macht er mehr. Nur nicht auffallen.
Es klatscht erneut, drei Reihen vor ihm sackt Erwin, roter Winkel, weg. Lachen! Monströses, kaltes Lachen. UngerĂŒhrtheit! Da! Krach!
Wieder einer, der im sich rot fĂ€rbenden Weiß endet.
Der Schnee liegt schon zwei Zentimeter auf den Schultern der MÀnner, aber niemand bewegt sich. Er weint. Unbeachtet laufen die TrÀnen.
Ein Stöhnen. Horst liegt am Boden. Hunde bellen. Bellen, als wĂŒrden sie Luft zerfleischen.
Ruhe! Die Stimmen nicht zu verstehen, die auf dem Wachturm gesprochen werden. Wegtreten! Überlebt. Dieses Mal.


„Du da! Die Fahrkarte! Aufwachen!“

Der Kontrolleur schrie drei Reihen vor ihm einen Jungen an.

Angezeigt hatte er ihn nach Kriegsende, als einziger Überlebender. Ohne Erfolg. Keine Beweise. Auf dem Gerichtsflur grinste der Freigesprochene hĂ€misch.

Er sieht ihn vor dem Krematorium. Rauch steigt dort unentwegt auf. Es riecht widerlich sĂŒĂŸ und angesengt.
Nein! Der hetzt den Hund los! Japsend mit gefletschten ZĂ€hnen stĂŒrzt der sich auf ihn. Er fĂ€llt auf den RĂŒcken, ein Stein rammt sich in seine Nieren. Mit beiden HĂ€nden hĂ€lt er den Hals des schnappenden Fleischfressers. Der Hundespeichel geifert ihm ins Gesicht. Er darf dem UngetĂŒm jetzt nicht nachgeben, drĂŒckt dessen Schlund fest zu. Die Kreatur bĂ€umt sich auf, beginnt zu jaulen. Schinder-MĂŒller schreit vom Turm: „Loslassen! Lass das Tier los oder ich knall dich ab, du Drecksau!“
Ein Schuss in die Luft. Er lĂ€sst los. Die Bestie sackt leblos auf ihm zusammen. Schinder-MĂŒller rennt, schreit. Erreicht seinen reglosen Hund.
Mit wutverzerrter Fratze prĂŒgelt er mit dem Gewehrkolben los. Schmerzen wie Funken durchzucken ihn. Wie oft? Er kann es nicht zĂ€hlen. Der Stiefel quetscht seinen Unterarm. Der Gewehrkolben zertrĂŒmmert Mittelhandknochen und Finger. Seine Sinne schwinden.
Dass er nicht stirbt, verdankt er barmherzigen HĂ€ftlingen, die ihn in die Baracke zerren, fĂŒrsorglich aufpĂ€ppeln.


Die Hand war nie wieder geworden. Eine verdorrte Wurzel.

„Sie da, muss ich denn jeden einzeln auffordern? Die Fahrkarte!“, donnerte Schinder-MĂŒller.

Das Gericht hatte befunden, dass Schinder-MĂŒller nur einen untergeordneten Dienst getan hatte, nicht befehlsfĂŒhrendes Organ gewesen war, nie selbst GrĂ€ueltaten ausgefĂŒhrt hatte. Aussage gegen Aussage. Keine anderen Zeugen aus der Zeit.
Kein Wunder, waren alle hin, erfroren, erschossen, verhungert, verbrannt. Und dann der letzte Marsch.

EiseskĂ€lte, Schneesturm. Man kommt nicht weiter. Die Russen schon zu hören. Schreie! Befehle! Hinknien! Vor die Senke! Sie knien davor, sehen hinunter. Einige beten. Andere jammern. Manche beißen hörbar die ZĂ€hne aufeinander. SchĂŒsse, immer wieder SchĂŒsse. ER schießt!
Fallen. Ein langer Fall, tief und weich. Stunden vergehen.
Er lebt! Krabbelt aus einem Berg Leiber, gefrorener Leiber. Auf allen Vieren bis in dieses Dorf.


Nun traf er ihn hier wieder, FahrgÀste schindend, das Schwein!

„Hallo, Sie!“ Ein Schubs. Er zuckte zusammen, „Sie, die Fahrkarte! Kenn® ich Sie nicht?“

Der Mann sah hoch und stand langsam auf, seine taube Hand in der Tasche umklammerte die Fahrkarte. Die Bahn schaukelte. Er lehnte sich gegen Schinder-MĂŒller. Der schubste ihn zurĂŒck. Auge in Auge. Kurve. Schienen quietschten.

Die TĂŒr reißt auf! Nur ein Stoß! Woher nimmt er die Kraft? Ein Auto bremst kreischend. Ein Holpern. Die Bahn bremst auch.
Joachim Noah Rosenbaum steigt aus und geht fort, wÀhrend die Schaulustigen sich sammeln ...

... und es gibt kein Ding, das nicht seine Stunde bekÀme.

Letzte Aktualisierung: 08.08.2009 - 11.58 Uhr
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