Mainhattan Moments
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August 2009
Der Brief
von Patricia Kohnle

Liebe Biggi, 19. Februar 1986
na, das war eine Überraschung, als ich heute Morgen den Briefkasten öffnete und einen schrillen Umschlag vorfand. Absender: Biggi Keinath. Keinath? Dieser Nachname sagte mir nichts; aber Biggi … dieser Umschlag passte zur schrillen Biggi, meiner besten, verrücktesten Studienfreundin aller Zeiten. Nun bist du, gerade du, doch noch "in den Hafen der Ehe eingelaufen" und erwartest "erzkonservativ" dein erstes Kind. Alter schützt vor Torheit nicht ;)
Ich hätte dir gerne eine ähnliche Überraschung präsentiert, etwa, wie aus mir, dem absoluten Familienmenschen, eine flippige Aussteigerin wurde, aber … Mit Lothar bin ich immer noch zusammmen. Wahrscheinlich würdet Ihr Euch heute genauso wenig verstehen wie vor zwölf Jahren … Ihr zwei Dickköpfe, die Ihr mich vor die Entscheidung zwischen Euch beide gestellt habt. Und jetzt hast du dich nach so langer Zeit trotzdem bei mir gemeldet. Ich freue mich so! Als ich deinen Brief las, war es mir, als würden wir wieder in der "Alten Schleuse" bei einem Bierchen zusammen hocken und stundenlang diskutieren, bis uns die Kneipenwirtin unerbittlich hinaus schmeißt.
Als ich schwanger wurde, hat sich alles geändert. Du erinnerst dich noch an das kleine, verschrumpelte Kerlchen, nicht mehr als eine Handvoll? Inzwischen ist Ulle beinahe so groß wie Lothar; und du weißt ja, der ist schon eine lange Latte.
Ob ich anschließend die Karriereleiter ansteuerte? Ja, so könnte man es auch nennen: Familienkarriere. Es ist gar nicht so einfach, den Alltag mit vier Kindern zu managen. Du hast richtig gelesen: mit vier Kindern. Anna ist inzwischen zehn Jahre alt; ihr fliegt das Lernen nur so zu. Trotzdem ist sie praktisch begabt und hilft mir viel im Haushalt. Denise, unser Nachzügler, ist unser "Wonneproppen" und ein Baby, noch einmal so richtig zum Knuddeln und Genießen! Nur Jan, er ist jetzt fünf Jahre alt, kostet mich meine letzten Nerven. Vor kurzem wurde ADS - Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom - bei ihm festgestellt. Er ist ein richtiger "Zappelphilipp".
Du musst dir vorstellen, wir gehen einkaufen. Im Einkaufswagen liegt das Baby, selig schlafend in seiner Wippe. Ich stehe, ganz stolze Vierfachmutter, am Käsestand. Neben mir Jan. Er könnte sich wohlerzogen für die geschenkte Käsescheibe bedanken. Pustekuchen! Jan reisst sich los, jagt durch die Gänge, dass die aufgestapelten Werbeangebote nur so ins Wackeln geraten. Ich hinterher, mit Baby und Einkaufswagen. Witzig die Vorstellung, nicht?! Das Baby schreckt bei meinem Tempo aus dem Schlaf hoch und schreit, erbärmlich. Hast du schon einmal die missbilligenden Blicke der Umstehenden in deinem nassgeschwitzten Rücken gespürt, während sie verächtlich flüstern: "Die hat ihre Kinder auch nicht im Griff."
Dabei haben sie sogar Recht. Ich habe Jan "nicht mehr im Griff"… nicht, wenn er kopfüber in den Gartenteich plumpst; nicht, wenn er die Klopapierrollen ins WC stopft; nicht, wenn er Farbe über den Tisch kippt; nicht, wenn sich aufgebrachte Kindergartenmütter am Telefon über ihn auslassen; und schon gar nicht, wenn er morgens um 5.00 Uhr in seinem Zimmer kickt. Um 5.00 Uhr!!! Eine Stunde zuvor hatte mich Denise geweckt.
Und dann verlor ich die Beherrschung. Ich packte ihn, schüttelte ihn und schrie aus Leibeskräften, die Hände zu trommelnden Fäusten gepresst, mich selbst vergessend. Es war, als hätte sich ein gemütlicher Bummelzug in einen dahin rasenden Intercity verwandelt. Die vorbeifliegende Landschaft verwischte. Ich nahm sie nicht mehr wahr. Die Notbremse war außer Kraft und der Zug folgte seiner Eigendynamik … bis er entgleiste. Ich wachte erst auf, als ich das Blut sah und in Jans leere Augen blickte.
Eine Schranke war in mir durchbrochen. Immer öfter verwandelt sich der Zug in diese unkontrollierbare Maschine. Das Hemd, die Hose sind schnell über die Abdrücke der Finger gezogen.
Aber gestern sprach mich die Erzieherin an. Jan wirke zur Zeit so verschlossen. Woran das liegen könne? Ich murmelte etwas von neuem Baby und Geschwisterrivalität und schon schien alles im Lot zu sein.
Inzwischen ist es 1.00 Uhr. Die Nacht wird wieder kurz sein. Mich fröstelt. Wo bleibt der warme Sommerregen? Wo bleibt der warme Sommerregen, der mich endlich tanzen lässt mit ausgebreiteten Armen auf der, vom Morgentau benetzten, Wiese? Wo bleibt der warme Sommerregen, der meine Seele nährt und sättigt mit Freude, so, dass ich die einzige aufbrechende Blüte am verkrüppelten Strauch nicht wieder abreiße, sondern sie mit zitternden Händen zärtlich umfasse. Wo bleibt der warme Sommerregen, der in mir Hoffnung wachsen lässt wie eine kleine, aufzüngelnde Flamme, die sich aufbäumt gegen das nasse, modrige, verfaulende Holz der Wut und Scham. Wo bleibt der warme Sommerregen? Wo, Biggi? Wo?
Sei lieb umarmt
deine Monia
Ob du mir noch eine letzte Chance gibst, trotz alledem, und mir noch einmal schreibst?


6. August 2009

Hallo Frau Keinath,

ich bin Jan. Jan Bürlitz. Ein Sohn ihrer Freundin Monia. Ihre Freundin starb am 27. Juni aufgrund ihrer Medikamentenabhängigkeit. In ihren Sachen fand ich einen Brief an Sie, den ich Ihnen beilege. Sie hatte ihn nie abgeschickt.
Sie kennen mich aus dem Brief. Inzwischen studiere ich. Ich funktioniere. Sie bekam es doch noch gut in mich hinein geprügelt.
Grüße
Jan Bürlitz

PS: Hätten Sie geantwortet?


Der Briefverkehr war hiermit beendet.
© Patricia Kohnle

Letzte Aktualisierung: 04.08.2009 - 16.37 Uhr
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