Die Erinnerung an die Lehren des Meisters von Katka Jäger
Damals schien noch alles möglich zu sein. Die Stunden im Kunstraum gehörten dabei zu den glücklichsten in meinem Leben. Wir saßen auf mehreren Holzstühlen verteilt im Halbkreis, die Skizzenblöcke neben oder vor uns, Licht und Wärme genießend, die im Sommersemester reichlich durch die schrägen Kellerfenster zu uns drangen. Überall roch es nach Künstlerfarben, irgendwie auch nach Holz, Kreide oder Leim. Wir waren meistens etwa fünfzehn Studenten, und er – der Forchheimer Maler, Lehrer, Dozent und Kunstprofessor. Wendelin Kerner stand ruhig vor uns – manchmal auch in seinem weiß-grauen Ateliermantel – und stimmte uns vor jedem Zeichenunterricht mit seiner tief sanften Stimme auf die Kunst ein. Wie ein Zenmeister versucht, die Leere, das Denken im Nichtdenken zu vermitteln, so versuchte Kerner uns auf das Loslassen einzustimmen, um frei zu sein, Menschen oder Dinge zu skizzieren.
Immer wieder nahm der Professor dabei neue Themen auf, wie Kitsch oder Kunst, Subjekt und/oder Objekt, Verpackungsgesellschaft oder Sicherheitsdenken. Gedanken, Worte, Stimmungen – alles in ruhigem Tonfall, alles infrage stellend, alles so zu sehen, daß es Gesetze gibt. Auch für die Kunst.
Ich wollte nicht wirklich Lehrer werden. Ich wollte Maler sein – wie er. Wendelin Kerner war bereits nach dem ersten Semester mein ganz privater Meister. Und ich meinte bald zu bemerken, daß er mich anders behandelte als andere. Daß ich bald so etwas wie ein persönlicher Schüler für ihn war. Auch, weil er mich ab und zu zur Seite nahm, oder mich bei sich behielt, wenn die anderen Studenten schon gegangen waren. Er wußte oder spürte zumindest, was ich damals war: ein verschütteter Vulkan, begierig auszubrechen – im kreativen Sinn.
„Sie können jemand sein, wenn Sie nur wollen!“, sagte er leise. Das waren Worte, die ich liebend gern hörte, aufsog wie ein Schwamm, der plötzlich in einen Eimer Wasser geworfen wurde. Kerner wies mich in die Kunst der Kommunikation ein, so zu sprechen, daß man das Gesagte auch gleich tippen könne. Und er warnte mich bei allem vor den Gefahren. Es nicht zu schaffen. Auszubrennen wie ein vom Blitz getroffener Baum, der immer noch mächtig dasteht – optisch, aber Innen leer ist, im Sinne von leer ohne jegliches Zen. „Bis fünfzig müssen Sie es geschafft haben!“, das waren einer seiner letzten Tipps, die er mir auf meine lange Reise mitgab.
Wir sollten uns leider nie wiedersehen. Obgleich ich in Gedanken immer wieder in diesem Kellerraum bin, mit schwarzer Kohle oder warmem Rötel Porträts zeichne, auf Striche, Formen und Strukturen achte, mich vergesse, um im fertigen Bild da zu sein. Wenigstens dort.
Jetzt sitze ich als Gast im Atelier meiner Freundin Conny Tse. Ich zahl ihr etwas Geld, damit ich bei ihr und bei hellem Licht malen kann. Ich bin weit über fünfzig inzwischen. Entspannt, aber müde.
Sie, gut zehn Jahre jünger, einmal geschieden, zwei Kinder, hat das Atelier, aber kein Geld. Ich hab etwas Geld, aber kein Atelier. Nur die Erinnerung an meinen Meister. Und daß ich mit der Rückkehr zum Malen vielleicht endgültig meine letzte Chance habe, jemand zu sein – für mich selbst, und auch für andere.
„Wir können uns die Miete ja teilen!“, schlägt Tse vor, und ich weiß den Vorschlag zu schätzen. Aber ich weiß auch, wie schwierig das werden kann mit so einer GbR. Und ich spüre instinktiv, daß schwarze Vögel über unseren Köpfen kreisen. „Ich überleg mir deinen Vorschlag“, sage ich, dann packe ich meine Farben und Pinsel zusammen – und geh wieder nach draußen.
Regen – Regenschauer – Wind – Wärme – Spätsommer – Gedanken, die sich nach Sommern sehnen, die längst vergangen sind. Ich laufe über sich kräuselnde Wasserpfützen hinweg, über glänzenden Asphalt, über verwehte Zeitungsblätter, vorbei an wichtig tuenden Gebäuden, die aber nur Kälte ausstrahlen.
Vermutlich bin ich in sämtliche Fallen hineingestolpert, vor denen mich Kerner einst gewarnt hatte. Und nicht nur einmal. Sagte es Henry Miller nicht so? „Du machst immer wieder die gleichen Fehler, nur jedes Mal mit noch größerer Lust!“ Vielleicht wollte ich Wendelin nur beweisen, daß mir die Fallen nichts ausmachen können, daß ich alles wegstecken kann. Ohne zu bemerken, daß ich mich selbst wegsteckte – in eine Alltagsarbeit mit Fließbandcharakter. Seit Jahren bewege ich mich in Hohlräumen wie ein verbrannter Baum. Frank, ein Freund, nannte es „mein Asyl“. In dem aber doch immer wieder auch Lichter auftauchen, kleine Hoffnungen, wie Mandy.
Mit ihr sitze ich jetzt bei strahlendem Sonnenschein in einer kleinen Seitenstraße, an einem kleinen Tisch eines wirklich kleinen Ristorante. Und genieße den Wein, die Pizza, die einen Teig hat, wie ich ihn seit einem Toscanaurlaub kenne. Die Toscana – da verbrachte Wendelin seine letzten Jahre. Ich hätte ihn besuchen können. Aber ich bin nicht auf die Idee gekommen, ihn zu suchen. Als ich auf diese Idee kam, war es viel zu spät.
Dafür kommen seine Worte von früher zu mir. In letzter Zeit immer häufiger. „Malen Sie keine Comics!“, hatte er zu mir gesagt, „... das versaut Ihre Strichführung, Ihren ganzen Stil ...“ Ich schaue Mandy an, eher unauffällig, denn ich will sie nicht bedrängen. Wendelin hätte sie gern gemalt, da bin ich mir sicher. „Du mußt Bewerbungen schreiben, wenn Du aus deiner Arbeit rauswillst!“, rät sie mir. Wir stoßen mit den Weinkelchen so zusammen, daß sie hell erklingen.
Vielleicht vertreiben wir gerade ein paar störende Geister. Kerner gehört allerdings nicht dazu. Er begleitet mich, als ich zu Fuß nach Hause laufe. „Stecken Sie erst einmal in einer Tretmühle, dann kommen Sie nur sehr schwer raus. Wenn überhaupt ...“. Damals habe ich das nicht glauben wollen. Jetzt weiß ich, wie sehr er Recht hatte.
Plötzlich hat dich das System. Du hast einen Job, regelmäßiges Einkommen, hast eine Wohnung, zahlst Miete, hast ein Auto, zahlst Steuer, Du bekommst einen Dispokredit, einfach so (weil Du ein „guter Kunde“ geworden bist), Du bekommst mehr Gehalt, kaufst mehr und kommst aber immer weniger zu Dir selbst. Dann kommen weitere Notwendigkeiten hinzu. „Du kaufst Dir sofort ein Handy!“ Das war praktisch ein Befehl einer Freundin, damit wir immer erreichbar sind. Die Schreibmaschine mußte ich gegen den Computer austauschen. Ich war über diesen Austausch mindenstens so unglücklich wie einst Bukowski. Und ich kann mir nicht vorstellen, daß Wendelin einen Computer in der Toscana stehen hatte. Er hat immer versucht, sich aus diversen Systemen herauszuhalten. Ich aber bin mittendrin. Und ich vermisse nicht nur das Klappern der Schreibmaschine, das Leben mit einem normalen Telefon, das Leben ohne Handy und ohne zu offensichtliche Kontrollen – durch wen auch immer.
Es fängt wieder zu regnen an. Ich hab eine neue Leinwand dabei, Acrylfarben und Tücher. Minuten später sitze ich in Tse´s Atelier, höre Pink Floyd und beginne damit, die Grundfarbe Weiß aufzutragen. Das Handy bleibt abgeschaltet.
Letzte Aktualisierung: 19.08.2009 - 10.03 Uhr Dieser Text enthält 7060 Zeichen.