Das Ruhrgebiet ist etwas besonderes, weil zwischen Dortmund und Duisburg, zwischen Marl und Witten ganz besondere Menschen leben. Wir haben diesem Geist nachgespürt.
Andrew Lawless war sich sicher, dass er den Fall gewinnen würde. Vor ihm, auf seinem Schreibtisch, lag ein Aktenkoffer. Und in ihm befanden sich die endgültigen Beweise, dass der Mafioso Al Dente unschuldig war. Zumindest sagten das die Zeugenaussagen aus, die Lawless heute Abend bekommen hatte.
Er öffnete seinen Aktenkoffer, dessen Schlösser erstaunlich schwergängig waren. Auch wirkte der Koffer im Licht seiner Tischlampe viel zu neu, als dass er schon fast ein Jahr alt war.
Als Lawless den Deckel aufgeklappt hatte, erwarteten ihn keine unterschriebenen Zeugenaussagen. Im Innern befand sich ein grauer, backsteingroßer Klumpen mit einem klischeehaften C-4-Aufkleber. Zwei Drähte, ein roter und blauer, führten zu einem LED-Display, welches auf 015 stand und plötzlich auf 014 herunter zählte.
Automatisch griff er zu dem Talisman in seinem Jackett. Ein rotes Halstuch, das ihm seine Frau zu seinem ersten gewonnen Fall geschenkt hatte.
Das Display stand bei 013, als es Lawless zu dämmern begann, dass die Explosion das gesamte Stockwerk pulverisieren würde. Weglaufen war zwecklos, er befand sich im zwanzigsten Stock des Gebäudes, in dem seine Kanzlei untergebracht war. Den Koffer aus einem Fenster werfen brachte ebenfalls nichts: sie ließen sich nicht öffnen und waren zudem noch aus bruchsicherem Glas.
In Sekundenbruchteilen flog das Leben des Anwaltes vor seinem geistigen Auge dahin.
Schon als er ganz frisch von der Harvard-University ins Berufsleben eingestiegen war, musste er feststellen, dass man sich von Ehrlichkeit nur kleine Brötchen kaufen konnte.
In der eher unbekannten Kanzlei, in der er tätig war, bekam er hauptsächlich Fälle, die sich mit Falschparken oder Taschendiebstahl beschäftigten. Also eher Bagatellverfahren. Nach nur fünf Minuten wahren Verhandlungen dann meist auch schon zu ende.
Die gewonnen Fälle hielten sich mit den verlorenen so ziemlich die Waage.
Lawless hatte ein geregeltes Einkommen und war überall gern gesehen.
Die Wendung in seinem Leben kam dann auch ziemlich schnell mit Marco Frascati. Ein Kleinkrimineller und das unterste Glied in der Mafia-Kette.
Der stand er wegen bewaffneten Raubüberfalls vor dem Richter. Die Strafakte wegen anderer Delikte war so dick, dass der Gerichtsdiener Mühe hatte, sie herein zu tragen. Irgendwie war es Frascati gelungen, immer mit einem blauen Auge davon zu kommen.
Lawless hatte schon bei ihrem ersten Gespräch gewusst, dass der Fall mehr als fünf Minuten in Anspruch nehmen würde.
Vom Benehmen bis hin zur Kleidung und den vielen Goldketten, unterschied er sich von dem, wie man die Mafiosi allgemein kannte.
Angesichts der Akte hatte es Lawless gewundert, dass Frascati noch keinen längeren Gefängnisaufenthalt hinter sich hatte.
Ihm war auch zu Ohren gekommen, dass seinem Vorgänger die Lizenz als Anwalt wegen Korruption entzogen worden war.
Aber Lawless hatte keine Angst.
Die bekam er erst, als der Fall zu kippen begann und sich eine mehrjährige Haftstrafe anbahnte.
Lawless hatte erst vor kurzem geheiratet und seine Frau erwartete ein Kind.
Frascati erpresste ihn damit, dass seiner Familie etwas zustoßen würde, wenn er nicht frei kam.
Er besaß schon lange kein Gewissen mehr, zumindest was seine Arbeit betraf.
Dabei ging es in diesem Fall mit Al Dente „nur“ um Geldwäsche. Einige Zeugenaussagen würden den Mafioso wieder einmal aus der Gefahrenzone bringen. Für Geld war das alles kein Problem.
Bestechung bedeutete Lawless gar nichts mehr.
Mit dem ausführlichen Wissen über das Rechtssystem wurde der Fall abgewiesen und Frascati blieb auf freiem Fuß.
Lawless wurde gut bezahlt, doch eigenes Rechtsempfinden und sein Ansehen hatten ziemlich gelitten.
Mehrmals noch konnte Lawless Frascati vor dem Gefängnis bewahren, bis dieser eines Tages von der Konkurrenz, den Grissini-Brüdern, erschossen wurde.
Es ging vor Gericht nur noch darum, ob man Recht bekam und nicht, ob man recht hatte.
Der Anwalt fühlte sich befreit und wollte einen möglichst großen Abstand zur Mafia gewinnen, wenn nötig sogar weit weg ziehen.
Die Grissinis gehörten dem Prosciutto-Clan an, dessen Oberhaupt der Mafioso Al Dente war.
Eines Abends wurde der Anwalt auf dem Weg nach hause freundlich aber bestimmt in eine schwarze Limousine gedrängt und in die City gefahren, wo er Al Dente persönlich traf.
Der hatte von seinen Erfolgen erfahren und konnte ihn mit Hilfe von ein paar Fotos von Lawless Kind und Frau, einem hohem Gehalt und einer eigenen Kanzlei dazu überreden, für die Prosciuttos tätig zu werden.
Und so kam es, dass Lawless als gerissener und gewissenloser Anwalt bekannt wurde, der fast jeden Prozess gewann und dafür sämtliche Gesetzeslücken dafür ausnutzte.
Seine Plädoyers waren gefürchtet und die Staatsanwaltschaft zuckte auch nur bei Nennung seines Namens zusammen.
Lawless hatte noch ein Gewissen, aber sobald er seine Kanzlei betrat oder vor Gericht stand, schaltete er es ab.
Das schadete auch der Beziehung zu seiner Frau, die durch die Medien mitbekam, für wen er arbeitete. Er war zwar ein guter Vater, aber seine Frau entfremdete sich mehr und mehr.
Lawless machte sich durch seine Arbeit eine Menge Feinde, im Gericht wie in anderen Mafia-Kreisen.
Um seine eigene Sicherheit und die seiner Familie brauchte er sich allerdings nicht zu sorgen, die war im Arbeitsvertrag fest verankert.
Und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sich rächen würden.
Andrew Lawless hatte sich heute Abend mit Al Dente getroffen, um die letzten Details der Zeugenaussagen zu besprechen.
Für Al Dente war es natürlich kein Problem, käufliche Zeugen zu finden, die aussagten, er wäre zum Zeitpunkt des Geschehens ganz woanders gewesen.
Die schriftlichen Erklärungen nebst Unterschriften wurden Lawless bei dem Geschäftessen übergeben.
Er wollte die Papiere anschließend in die Kanzlei bringen und dort im Tresor deponieren.
Anscheinend war es seinen Feinden gelungen, den Koffer irgendwie unbemerkt auszutauschen.
Jetzt saß er vor dem explosiven Inhalt und starrte auf das rückwärts laufende Zählwerk.
Er war allein im Büro und wenigstens das tröstete ihn.
Lawless begann auf einmal so zu schwitzen, dass Rinnsäle von seiner Stirn flossen und auch seine Hände wurden feucht.
Er hatte noch acht Sekunden und er musste sich nur zwischen Rot und Blau entscheiden, wenn es denn funktionierte.
007. Tausend Gedanken schossen Lawless durch den Kopf. Er dachte an seine wunderschöne Frau, an sein Kind, das er vielleicht nie mehr wiedersehen würde. Ihm kam in den Sinn, welchen Fehler er gemacht hatte, als er die Seiten des Gesetzes wechselte.
Würden die vielen Menschen, die seinetwegen unrecht behandelt worden waren, ihm verzeihen können? Würde Gott das tun?
006. Lawless griff in die Schublade unter seinem Schreibtisch. Dort hatte er einen Brieföffner in Springmesserform deponiert.
005. Die Klinge sprang heraus.
004. Die Sekunden schienen sich zur Unendlichkeit zu dehnen und die Zahlen bewegten sich wie in Zeitlupe. Rot oder blau?
003. Blau oder rot?
002. Welchen?
001. Rot. Andrew Lawless entschied sich für den roten Draht, nahm ihn in die linke Hand und durchtrennte ihn mit dem Brieföffner in seiner rechten…
Letzte Aktualisierung: 18.08.2009 - 08.26 Uhr Dieser Text enthält 7152 Zeichen.