„Die letzte Chance.“ Professor Bartes schritt vor seinem Pult auf und ab. Wenn er daran vorbeiging, legte er seine Hand darauf und ließ sie dort liegen, bis er sich so weit von ihm entfernt hatte, dass sie herunterfiel. Dann drehte er sich auf beiden Absätzen um und schritt wieder zurück. Hin und wieder hob er den Zeigefinger der anderen Hand. Er streckte ihn so hoch er konnte und warf einen mürrischen Blick auf ihn, bevor er ihn wieder herunter nahm. „Sie sind hier, um die Vielseitigkeit dieser Metapher kennenzulernen.
Was immer Sie darüber lesen, letztlich wird eine Chance als eine Möglichkeit begriffen. Die meisten Definitionen, die Sie finden, verschleiern die Tatsache, dass eine solche vorhanden ist, denn Chancen sind, bleiben wir beim allgemeinen Verständnis, subjektiv wahrgenommene Möglichkeiten. Somit ist eine letzte Chance nicht zwangsläufig eine letzte Möglichkeit.
Denken Sie an einen riesigen Schuldenberg, den Sie glauben, nie abzahlen zu können. Sie sagen: ‘Keine Chance’ und legen Ihre Hände in den Schoß. Sprächen Sie hingegen von Möglichkeiten, begännen Sie, kreative Lösungen zu finden. Wie dem auch sei - in verschiedenen Kulturen hat man jeweils andere Vorstellungen von der letzten Chance. In der fernöstlichen Welt ist sie die finale Inkarnation, in der man sein Karma hinter sich lassen kann. In unserer, westlichen, hingegen der Sommerschlussverkauf. Für Kommunisten gar der Imperialismus, nach dem bekanntlich nichts mehr kommen solle, auf dem man den Kommunismus aufbauen könnte. Für kleinere Gruppen wie Lehrer sind es die zehnten Klassen, für Juristen Termine, für Umweltschützer die Klimakrise. Nehmen Sie, was Sie wollen, doch vermeiden Sie es, von Chancen zu sprechen, denn die sind schnell vertan.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Ich empfehle Ihnen, das Skript und vielleicht auch die Standardwerke zu lesen. Nächste Woche beginnen wir mit einer Klausur.“
Die Studenten, die bis zum Ende ruhig zugehört hatten, wurden wieder lebhaft. Professor Bartes lächelte zufrieden. Eine gute Show, fand er.
Im Dozentenzimmer saß Bartes abseits seiner Kollegen. So gut wie heute hatte er sich lange nicht mehr gefühlt. Er streckte sich und rief: „Ich hoffe, mein Nachfolger ist mindestens genauso gut wie ich!“ Einige drehten sich zu ihm um. „Bist du denn immer noch der Alte?“
Bartes kicherte. „Natürlich. Ich habe etwas mehr Zeit. TB 1 will mich noch studieren, bevor er mich ablöst.“
„Wirklich?“, fragte KF 1 zurück. „Der beobachtet dich doch schon ein halbes Jahr. Unsere Vorgänger hatten nur zwei Monate.“
Bartes wackelte mit dem Kopf. „Ich bin wohl ein schwieriger Fall. Es gibt viel an mir zu entdecken. TB 1 ist eben gründlich.“
„Als ob wir das nicht wären!“, rief KF 1.
„Sie können nichts dafür. Sie sind Kopien und wie Ihre Vorgänger - schlampig.“
„Gut Ding will Weile haben“, sagte SK 1, die Nachfolgerin Susi Kelches. Sie hatte auch deren Gewohnheit, Sprüche zu klopfen, übernommen. „Aber irgendwann ist jeder dran.“
Professor Bartes schnippte mit den Fingern. „Sehen Sie, Susi hätte diesen Kommentar nicht hinzugefügt.“ SK 1 schien erstaunt zu sein und wendete sich wieder dem Pausenbrot zu. „Schlaumeier.“
„Ja, du hältst dich für schlau, was?“, rief KF 1.
„Ich bin gar nicht schlau“, erwiderte Bartes, „aber das hat Ihr Vorgänger auch nicht gewusst.“
„Wie? Willst du behaupten, mein Vorgänger sei dumm gewesen?“
„Nein, nein!“, versicherte Bartes hastig. „Ich meine, Sie funktionieren einwandfrei. Sie sind eine wirklich gute Kopie, dafür brauchen Sie sich nicht zu schämen.“ KF 1 musterte ihn misstrauisch, schwieg aber.
AG 1 stand auf und setzte sich zu Bartes. Dicht an ihn herangedrängt, flüsterte er: „Mein Vorgänger hat mir sein Tagebuch gegeben. Ich verstehe da einige Punkte nicht.“
„Nicht möglich“, sagte Bartes kurz.
„Aber ich muss wissen, was er meint. Ich muss ihn doch kennen.“
„Tagebuch ist geheim. Ich darf das nicht wissen.“
„Ich würde ihn ja gern selber fragen, aber ich sehe ihn nicht mehr. Ich weiß nicht mal, wo er wohnt, wir durften ja keine Adressen austauschen.“
Bartes blickte starr auf sein Stullenpaket.
„Aber ein Treffen, das könntest du einrichten, oder? Hier, denn wir dürfen doch dieses Gelände nicht verlassen.“ Er nahm Bartes’ Hand, wie einst sein Vorgänger Anton Gröll, wenn der um etwas gebeten hatte. „Telefonnummer? E-Mail?“
Bartes schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, AG 1, wir waren nicht so gut befreundet. Mir sind da auch Grenzen gesetzt.“ Er klopfte AG 1 verständnisvoll auf die Schulter und verließ das Zimmer.
In der Dozentenmesse traf er auf seinen eigenen Nachfolger. Er empfand es immer noch als seltsam, sich selbst zu begegnen. TB 1 stellte viele Fragen. Sah er einen Widerspruch, hakte er gleich nach. Er versuchte alles zu verstehen. So kannte sich Bartes seit Langem nicht mehr. TB 1 musste etwas in ihm gesehen haben, was auf diese Beharrlichkeit hindeutete. Ein Programmfehler? Er erinnerte sich, dass er in seiner Jugend alles wissen wollte. Während seines Doktorandums ließ die Neugier nach. Es schien nichts mehr zu geben, was er noch lernen konnte. TB 1 hatte diese Gier nach Wissen neu entfacht und er fühlte sich wieder wie ein Kind. Außerdem glaubte er, für seinen Nachfolger verantwortlich zu sein, denn nur er konnte ihm die Tiefen seiner Persönlichkeit nahebringen. In seinen Einlagen auf seinen Vorträgen hatte er viel Neues in sich entdeckt und er empfand wieder Freude in seinem Leben.
„Hallo Tib“, rief TB 1, „möchtest du mit mir speisen?“
„Mit Ihnen gern, TB 1.“
„Du warst gut vorhin.“ TB 1 nickte anerkennend. „Doch ist es nicht eine Belastung für dich? Irgendwann wird man dich durchschauen. Man denkt ernsthaft daran, dich auszuwechseln.“
„Daran will ich nicht denken“, sagte Bartes ernst. „Obwohl, die könnten mich immer brauchen. Manche fragen mich über meine früheren Kollegen aus, wollen mehr über sie wissen. Wir Menschen brauchen Jahrzehnte, bis wir uns ein wenig kennen gelernt haben, alles andere ist oberflächlich.“ Indem er das sagte, dachte er, dass man mehr Zeit hätte einplanen müssen. Die Geschwindigkeit, die das Projekt vorantrieb, löste Unbehagen in ihm aus. Was wird aus den Studenten, wenn sie keine echten Professoren mehr haben? „TB“, sagte er, „ich bin kein Einzelgänger. Ich liebe die Arbeit hier, doch mit all diesen herzlosen Maschinen macht sie mir keinen Spaß.“
TB 1 wackelte mit dem Kopf. „Das klingt nicht sehr respektvoll, Tib, aber ich verstehe dich“, sagte er. „Mal sehen, was ich machen kann, das Bildungsministerium wird ja nicht jeden einsparen.“
Am Abend traf Bartes in seinem Wohnzimmer auf AG 1. Er erschrak und kurz darauf brüllte er: “Was wollen Sie hier! Wenn das rauskommt, sind wir erledigt!“ Er atmete schwer und wiederholte, wie zu sich selbst: „Wenn das rauskommt, sind wir erledigt.“
Der andere war seinerseits erschrocken, sprach schnell: „Tib, ich bin nicht der Nachfolger. Ich bin es, Anton“, winselte er. „Mir geht es dreckig. Ich hab kein Geld bekommen diesen Monat. Die haben doch lebenslang gesagt, oder? Das haben die doch gesagt, oder?“
Bartes stutzte. „Anton?“
„Ja.“
Bartes schaute ihm lange ins Gesicht. „Entschuldige bitte, ich habe dich nicht gleich erkannt. Setz dich erstmal. Was ist denn passiert? Du redest, als würde die Welt untergehen.“ Es brauchte ein paar Minuten, bis Anton mit Bartes sprechen konnte.
„Deine Adresse habe ich von Susanne bekommen. Ich habe gehört, dass das Projekt für die Privatwirtschaft freigegeben wurde. O Gott, wenn ich daran denke ...“ Er kämpfte sichtlich mit den Tränen. „Mein kleiner Martin ...“
Bartes war wie benommen. Anton schluchzte. Für die Wirtschaft freigegeben? Kein Salär? Martin? Er streichelte zaghaft Antons Arm. „Das wird schon wieder, Anton. Da ist wohl jemandem nur ein Fehler unterlaufen.“ Sogleich schämte er sich, es gesagt zu haben. ‘Martin?’, dachte er, ‘sein Sohn?’ „Du kannst heute bei mir übernachten. Morgen werden wir weiter sehen. Ich brauche nicht in der Universität zu erscheinen, dann können wir zur Mängelstelle gehen.“
Anton nickte. Nachdem er sich beruhigt hatte, schlief er ein. Bartes lag die ganze Nacht wach. Das Bildungsministerium würde so etwas nie zulassen. Das muss ein Irrtum sein. Er hoffte es.
***
Dr. Rautmann, ein Vertreter des Bildungsministeriums, übergab AG 1 das Wort, der erst wartete, bis der Applaus verebbt war.
„Ich bedanke mich bei allen, die ihr Vertrauen in mich gesetzt haben und ich verspreche Ihnen, dass ich mich dessen immer würdig erweisen werde. Wie Sie wissen, müssen wir stets ohne Vorgänger auskommen. Umso erstaunlicher ist es, dass einer von ihnen nach wie vor unter uns weilt. Es hat sich herausgestellt, dass wir vorschnell auf sie verzichtet haben. Professor Bartes zeigte von Anfang an die Notwendigkeit der Beziehungen zwischen uns und unseren Vorgängern. Als erste Amtshandlung als Rektor dieser Universität ist es mir deshalb eine Ehre, Professor Dr. Tiberius Bartes in den Stand des pares inter primus zu erheben. Professor Bartes, kommen Sie bitte auf die Bühne?“
Der Applaus, der jetzt einsetzte, schien endlos. Bartes versuchte ihn zu überhören. Trotz Übung fiel es ihm schwer, ein angemessenes Gesicht zu zeigen. AG 1 hatte ihm den Orden an sein Jackett geheftet und nun stand Bartes am Pult und musste eine Dankesrede halten. Die meisten im Saal waren Delegierte aus anderen Städten. Er sah sie klatschen, die Blicke starr auf ihn gerichtet. Es fröstelte ihn. Er wünschte sich weit weg, zu seinen Freunden. Wo waren sie hin? Er versuchte trotz weicher Knie sicher zu stehen.
Eine Idee ging durch seinen Kopf, kaum wahrnehmbar, doch er klammerte sich an sie. Das Ministerium hatte noch nie die Kontrolle über ein Projekt verloren. Es musste eine undichte Stelle geben. Und niemand konnte es erkennen. Vielleicht findet er dorthin und könnte als Berater die Einweisung der Neuen unterstützen, nach seinem Bilde formen. Er brauchte treue Gefolgsleute, die mit ihm die noch verbliebenen Menschen fänden. Sein Nachfolger würde ihm helfen.
Letzte Aktualisierung: 25.08.2009 - 10.30 Uhr Dieser Text enthält 10291 Zeichen.