Der Tod aus der Teekiste
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August 2009
Sind Sie gut versichert?
von Sven Später

Die frische Nachtluft ließ Angelika etwas frösteln. Hier oben war es recht windig, aber das spielte wohl keine Rolle mehr. In ein paar Sekunden war alles vorbei. Dann konnte sie das Leben, das ihr soviel genommen hatte, endlich hinter sich lassen.
Den berühmten letzten Tropfen hatte ihr Chef am Nachmittag in das übervolle Fass geträufelt. Oder sollte sie sagen Ex-Chef? Immerhin würde sie ihren Job ohnehin verlieren, wenn sie sich nicht dazu entschlossen hätte, einen endgültigen Schlussstrich zu ziehen.
Als Versicherungsvertreterin hatte sie es schwer genug in der heutigen Zeit gehabt. Kein Wunder, die Menschen verfügten nicht mehr über genügend Geld, sich gegen alle Widrigkeiten abzusichern. Lieber lebten sie im vollen Risiko und hofften, dass schon nichts passieren wird.
Leider bestand Angelikas Chef auf kontinuierlichen Erfolg. Abschlüsse mussten her, egal wie. Zur Not sollten seine Angestellten eben das Blaue vom Himmel lügen, wenn nur eine Unterschrift auf einem Versicherungsvertrag dabei herauskam. Ihr lag jedoch nichts daran, anderen Leuten etwas aufzuschwatzen, das sie entweder kaum bezahlen konnten oder nicht wirklich brauchten.
Dann war es so gekommen, wie es hatte kommen müssen. Angelikas Chef hatte sie nachmittags in sein Büro bestellt und ihr zuerst die Hölle heiß gemacht, bevor er ihr die Pistole auf die Brust gesetzt hatte. Er würde sie feuern, für Angelika das endgültige Aus. Zuerst die Pleite mit ihrem Verlobten, der sich für eine Jüngere entschieden und ihr einen Berg Schulden hinterlassen hatte – nun, sie hätte sich ja nicht als Bürge zur Verfügung stellen müssen, bei all den windigen Geschäftsideen ihres Fast-Ehemannes – und dann auch noch die anstehende Wohnungskündigung, da sie mit der Miete zwei Monate in Verzug war. Ohne Job war Angelika ruiniert. Die einzige Chance, ihre Stelle zu behalten, so hatte ihr Chef gesagt, bestünde nur darin, einem Toten eine Lebensversicherung schmackhaft zu machen.
Statt sie gleich zu feuern, wollte er Angelika noch demütigen und quälen.
Das alles hielt sie nicht mehr aus, sie würde springen.
Jetzt. Sofort.
Zwanzig Meter unter ihr die stark befahrene Autobahn, die auf ihre Ankunft zu warten schien.
Zweimal hatte sie bereits einen Fuß über das Geländer gestreckt, sich dann aber nochmal rasch an den Pfosten geklammert. Sie fürchtete den Schmerz, bevor alles vorbei war. Außerdem waren da diese Bedenken, es auf wundersame Weise überleben zu können. Dann wäre alles noch schlimmer als jetzt. Viel schlimmer.
„Würden Sie sich bitte etwas beeilen“, sagte eine Stimme in Angelikas Rücken. Sie drehte sich abrupt um und wäre beinahe in die Tiefe gestürzt. Dicht bei ihr stand ein Mann in schwarzem Anzug. Sein Gesicht war bleich und hager, der Schädel kahl. Im Licht der Straßenlaternen glich der Kopf einem Totenschädel.
An der linken Brusttasche trug er zwei Anstecknadeln. Eine zeigte das Modell einer kleinen Sanduhr in Gold, die andere eine winzige silberne Sense.
Der Mann machte keine Anstalten, sie zu retten. Statt dessen stand er nur da, die Hände in den Hosentaschen und schaute herausfordernd zu der angehenden Selbstmörderin.
„Springen Sie nun oder nicht? Ihre Sanduhr liegt quer. Da ich aber gerade in der Nähe zu tun hatte, dachte ich mir, ich könnte auch sofort zu Ihnen kommen und Sie dann gleich mitnehmen. Spart Umwege.“
Sein Gerede ergab gar keinen Sinn. Angelika wusste nicht, wie sie sich in dieser Situation verhalten sollte. Immerhin war sie gerade dabei, sich das Leben zu nehmen und dann tauchte dieser Kerl auf und quatschte irgendwelchen Blödsinn.
„Wer ... Wer sind Sie? Was wollen Sie überhaupt?“, fragte sie verwirrt. „Können Sie sich vorstellen, was ich gerade vorhabe?“
„Aber natürlich“, antwortete der Mann. „Sie wollen sich auf die Autobahn stürzen. Keine Bange, Sie werden niemanden gefährden. Für heute stehen in dieser Region nur noch Sie an. Ich warte, bis Ihr Körper zerschmettert auf der Fahrbahn liegt und nehme Sie dann mit. Lasse Sie mich nicht ewig warten, die andere Seite wird Ihnen gefallen. Bisher hat sich noch niemand beschwert. Denken Sie nur, keine Schmerzen, keine Sorgen. Das ist doch was.“
Er zuckte mit den Schultern: „Wenn Sie aber nicht springen wollen, dann lassen Sie es bleiben und ich komme in etwa 67 Jahren mal wieder auf einen Sprung vorbei. Mir wäre es zwar lieber, ich könnte Ihre Lebenszeit exakter berechnen, aber es gibt eben Leute, bei denen kommt mir das Schicksal öfter in die Quere als mir lieb wäre. Also, springen Sie jetzt oder nicht?“
Langsam wurde Angelika die Sache unheimlich. Sie stieg von dem Brückengeländer, hielt aber Abstand zu dem Mann im schwarzen Anzug.
Er sah sie etwas enttäuscht an und stöhnte hörbar auf. Dann meinte er: „Nun, dann ist es wohl entschieden. Wir sehen uns wieder, keine Bange.“
Als er sich umdrehte und gehen wollte, fragte Angelika abermals: „Wer sind Sie?“
Der Kahlkopf wandte sich wieder zu der Frau und grinste. Es war unheimlich, ihn so zu sehen. Zudem bemerkte sie diesen unangenehmen Modergeruch, der von ihm ausging.
„Ich bin der Tod“, gab er zur Antwort.
Ein Irrer, dachte Angelika. Plötzlich kam ihr eine Idee: Wenn sie es schaffte, diesem Typen hier und jetzt eine Lebensversicherung zu verkaufen, wäre ihr Job vielleicht gerettet. Sie wusste nicht warum, aber alles in ihr schrie geradezu danach, es einfach zu versuchen.
Zaghaft fragte sie: „Ähm ... Sie sind nicht zufällig daran interessiert, eine Lebensversicherung abzuschließen?“
Er legte den Kopf ein wenig schräg und zog eine Augenbraue nach oben: „Sie haben mich verstanden? Ich sagte, dass ich der Tod bin. Was sollte ich mit einer Lebensversicherung anfangen? Ich sterbe nicht, Frau Häber. Ich lasse sterben.“
Woher kannte er ihren Namen?
Grotesker konnte die Situation nicht werden. Sofort schaltete Angelika in den Profimodus, von dem sie gar nicht wusste, dass er ihr gegeben war. Sie sprach über die Vorteile, die er von einem Abschluss hätte. Schließlich war es ja auch als Geldanlage zu sehen, die nicht nur dann zur Auszahlung kam, wenn jemand starb. Seine Einwände, dass er gar kein Geld brauche, ließ sie nicht gelten. Sie redete und redete, bis der Mann nervös auf seine Armbanduhr blickte.
„Mein Güte, dann geben Sie den Wisch her, ich unterschreibe. Ich habe wichtige Termine einzuhalten, wissen Sie?“
Erleichtert bat Angelika den Fremden, der sich für den Tod hielt, sie zu ihrem Wagen zu begleiten. Im Kofferraum lag ein ganzes Bündel Vordrucke der verschiedensten Versicherungspolicen.
Nachdem er den Vertrag unterzeichnet hatte, sah sie enttäuscht auf die Unterschrift: Gevatter Tod. Damit konnte sie nichts anfangen.
„He, ich brauche Ihren richtigen Namen. Mein Chef wird denken, dass ich ihn zum Narren halten will.“
„Frau Häber, ich muss wirklich los. Hören Sie, wenn ich mich jemandem zeige und dieser Mensch lebt dann doch entgegen aller Überredungskunst meinerseits weiter, muss ich solange bleiben, bis er mich ziehen lässt.“
Der Kahlkopf seufzte, bevor er fortfuhr: „Wir machen das so: Ich komme morgen früh in Ihr Büro, wir gehen zu Ihrem Chef und ich überzeuge ihn davon, dass ich wirklich der bin, für den ich mich ausgebe. Ich habe da meine Mittel und Wege, keine Bange. Er wird Sie weiter beschäftigen müssen. Immerhin stellte er als Bedingung, Sie sollten einem Toten eine Lebensversicherung verkaufen. Nun, ich bin nicht irgendein Toter. Ich bin DER Tote überhaupt. Wenn da nicht eine Beförderung drin ist ...“
Sie wusste nicht, ob der Mann wirklich am kommenden Tag auftauchen würde, aber sie ließ es darauf ankommen und war guter Hoffnung sein. Wie auch immer, es würde sich zeigen.
Freundlich verabschiedete sich Angelika von Herrn Tod und stieg in ihren Wagen. Er selbst ging die Straße in entgegengesetzter Richtung weiter.
Nach einem tiefen Atemzug startete sie den Wagen und blickte in den Rückspiegel.
Weit und breit war niemand mehr zu sehen. Dieser eigenartige Mann hatte sich einfach in Luft aufgelöst.

Letzte Aktualisierung: 03.08.2009 - 12.55 Uhr
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