Der himmelblaue Schmengeling
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Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
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August 2009
Mein Schützling
von Gisela Reuter

„Meinst du, er wächst, während ich auf Klassenfahrt bin?“ Große braune Mädchenaugen blicken mich hoffnungsvoll an.
„Ganz bestimmt!“ beteuere ich im Brustton der Überzeugung und lächele.
„Du spielst auch ganz viel mit ihm, ja?“
„Natürlich.“ Sanft streiche ich über ihre Haare.
„Er ist doch noch so klein.“
Ich nicke verständnisvoll. Na ja, zumindest tue ich so.
„Und er ist so ängstlich.“
Kreischende Drittklässler hopsen auf ihren Sitzen.
„Und bitte Mama, denk dran, du musst ihn alle zwei Stunden füttern.“
Auf was habe ich mich hier eigentlich eingelassen?
Der Busfahrer hupt fordernd.
„Du vergisst es auch wirklich nicht?“
Vehement schüttele ich den Kopf und verfrachte meine Tochter in den Reisebus. Ich gelobe Zuverlässigkeit, lächele beruhigend und winke betont fröhlich.

Auf dem Heimweg befällt mich eine leichte Unruhe. Was tun, wenn er nicht frisst? Oder krank wird? Oder gar stirbt? Kann ich es wagen, nachher zum Friseur zu gehen? Sollte ich ihn besser mitnehmen? Oder den Termin verschieben? Nein! Ich lasse mich nicht zum Sklaven der Haustiere meiner Kinder machen. Er bleibt zu Hause und ich werde in aller Ruhe beim Friseur sitzen.

Es ist neun Uhr. Um elf Uhr ist der nächste Termin zum Füttern. Das schaffe ich locker. Er frisst. Ich bin beruhigt und gönne mir zur Entspannung eine Tasse Kaffee.
Meine Tochter hat eine To-do-Liste angefertigt. Krakelige Schrift auf leicht zerknittertem rosafarbenem Papier befiehlt mir, mich die nächsten zwei Tage ausschließlich im Haus aufzuhalten und meiner Aufgabe pflichtgetreu nachzukommen. Ich schmuse und spiele und komme mir ziemlich gewissenhaft vor. Aber Haare schneiden muss heute sein.

Neun Uhr fünfundvierzig. Er ist endlich eingeschlafen. Um zehn Uhr muss ich beim Friseur sein. Ich bin spät dran. Auf Zehenspitzen schleiche ich mich aus dem Haus und eile über den Gehweg. In einer guten Stunde werde ich zurück sein und ihn wecken und er wird noch nicht einmal bemerkt haben, dass ich fort war. Er ist ja noch so klein, er schläft bestimmt tief und fest, beruhige ich mein jetzt schon schlechtes Gewissen. Oder hätte ich ihn doch besser mitnehmen sollen? Nein. Wenn ich nun umkehre und ihn hole, kann ich unmöglich pünktlich beim Friseur sein.

Eine Fußgängerampel ist rot. Ich drücke mindestens fünfzehn Mal wild auf den Ampelknopf. Endlich grün. Es ist eine Minute vor zehn. Ich laufe. Sechs Minuten später lasse ich mich völlig außer Atem auf den Friseurstuhl fallen. „Sorry“, keuche ich. Mein Friseur lächelt nachsichtig: „Macht doch nichts.“ Doch, es macht wohl was, denn er hat eine andere Kundin vorgezogen. „Ich muss hier nur waschen und fönen. Dauert nicht lange.“

Hingebungsvoll wäscht er ihre Haare und massiert ausgiebig die Kopfhaut. Wieder überfällt mich diese eigentümliche Unruhe. Mein Herzschlag verdoppelt sich. Ich habe doch keine Zeit! Er schlingt ihr ein Handtuch um den Kopf und bietet ihr an, eine Tasse Kaffee zu holen. Bitte nicht. Doch, gerne, mit Milch und Zucker. Aber vorher muss sie kurz zur Toilette. Auch das noch. Adrenalin schießt mir ins Blut, mein Herzschlag verdreifacht sich. „Kann ich einen neuen Termin haben?“ frage ich hektisch.
Eine Kollegin wird frei. „Soll ich?“ Dankbar und erleichtert nicke ich.
Mein Friseur schaut beleidigt in eine andere Richtung, mein Herzschlag normalisiert sich wieder.

Vierzig Minuten später verlasse ich fluchtartig den Laden. Elf Uhr. Für den Heimweg brauche ich zwanzig Minuten. Mein Schützling muss also exakt diese zwanzig Minuten auf Essen und Zuwendung warten. Wieder vermehrte Adrenalinausschüttung. Ich renne. Ich schwitze. Meine Haare kleben am Kopf. Schweiß rinnt mir in die Augenbrauen.

Mit zitternden Fingern schließe ich die Haustüre auf und stürze ins Wohnzimmer. Ich berühre ihn vorsichtig mit dem Finger. Keine Reaktion. Ich versuche ihn zu wecken. Nichts. Ich schüttele ihn. Mein Schützling rührt sich nicht. Mir stockt der Atem. Wo um Himmels Willen ist die To-do-Liste? Ganz ruhig jetzt. Es geht um Sekunden. In der Küche liegt der rosa Zettel. Ich beginne wieder zu atmen, verstehe aber die Anweisung nicht. Ich gerate in Panik. Hoffentlich ist er nur ohnmächtig.

Ich schüttele ihn wieder. Nichts. Ich versuche ihm einen Keks aufzuzwängen. Nichts. Ich schüttele ihn noch heftiger. Er reagiert nicht. Ich ahne Fürchterliches. Werde ich meiner Tochter jemals wieder in die Augen sehen können? Mein Mund wird vor lauter Aufregung ganz trocken. Ich überfliege hektisch das rosa Blatt. Ganz unten steht: In Notfällen Lisas Bruder anrufen. Wo um Himmels Willen ist die Telefonnummer? Wieso steht sie nicht auf dem Zettel? HILFE! Meine Nerven sind zum Zerreißen angespannt.

Ich hole noch einmal tief Luft und rufe mich resolut zur Ordnung. Jetzt ist Schluss. Ich reiße die Original-Bedienungsanleitung aus der Schublade.
Reset, Seite 3:
Drücke mit einem nicht zu spitzen Gegenstand den Resetknopf, um das Tamagotchi zu resetten.
Drücke nicht zu kräftig.
Du wirst ein Piepsen hören.


© Gisela Reuter

Letzte Aktualisierung: 20.08.2009 - 17.11 Uhr
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