Der himmelblaue Schmengeling
Der himmelblaue Schmengeling
Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
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August 2009
Rien ne va plus!
von Eva Kimaris

Ein Ruck ging durch das Raumschiff. Mit einer halben Sekunde Verzögerung schrillten die Alarmsirenen los.
Victor schrak aus einem tiefen, traumlosen Schlaf auf. Als er sich aufzusetzen versuchte, stieß er sich den Kopf an der niedrigen Decke der Koje. „Mist, verdammter!“, knurrte er und rieb sich den schmerzenden Schädel. Das würde eine ordentliche Beule geben! Auf allen Vieren robbte er aus dem sarggroßen Bett, schlüpfte hastig in seinen grauen Overall, zwängte seine Füße in die Stiefel und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Dann stürmte er aus der Sardinenbüchse, die ihm auf dieser fliegenden Nussschale als Kajüte diente.
Draußen roch es stechend nach verschmortem Kunststoff und Ozon.
Aus dem Kontrollraum ergossen sich saftige Schimpfkanonaden auf Französisch.
„Merde!“, fluchte Jacques, als Victor den Kommandoraum betrat.
Rote Leuchtdioden blinkten zum Stakkato des Heultons.
„Hey, Jacques, was ist los?“, erkundigte sich Victor.
Jacques schaute auf. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. „Eine Meteorit ’at die ’albe Maschinendeck weggepüstet“, erklärte er. „Lebenser’altüngssysteme sind ausgefallen, ’aupttriebwerke ebenso.“
„Wo sind die anderen?“
„Capitaine ’ayze ’at es am Kopf erwischt. Frédéric ünd Etienne bringen ihn zü Dr. Stevenson. Isch ’abe eine Notrüf an Mars-Dome 1 abgesetzt. Die Abfangjäger werden in knapp achtündzwanzisch Minüten ’ier sein, üm üns in Empfang zü nehmen.“
Eine dunkelbraune Kugel stieg aus Jacques Kaffeebecher hoch und wabberte zur Decke empor.
Victor, der die Bewegung aus dem Augenwinkel wahrgenommen hatte, warf einen flüchtigen Blick über Jacques Schulter auf die Kontrollanzeigen: Wie befürchtet, war die Eigenrotation des Schiffes, die die künstliche Schwerkraft an Bord erzeugte, zum Stillstand gekommen. Wegen der magnetischen Sohlen seiner Stiefeln war ihm das nicht sofort aufgefallen.
Ein neuer, rhythmischer Warnton bombardierte seine Trommelfelle.
„Mon dieu!“, rief Jacques aus „Wir treiben vom Kürs ab!“ Seine Finger huschten über die Schalter und Regler der Bedienerkonsole. „Die Manövrierdüsen spreschen nischt an!“ Mit schreckgeweiteten Augen starrte er auf den Bildschirm. „Rien ne va plus!“, sagte er wie ein Croupier am Roulett-Tisch.
Victor sah es ebenfalls: Mit unverminderter Geschwindigkeit raste die FORTUNA geradewegs auf Daimos zu, den äußeren der beiden Marsmonde.
„Ça, par exemple! Rendezvous in weniger als zwanzisch Minüten! Wir müssen evaküieren!“
„Noch nicht“, widersprach Victor. „Erst will ich mir den Schaden vor Ort persönlich anschauen. Vielleicht ist noch nicht alles verloren.“
Jacques schüttelte energisch den Kopf. „C’est impossible! Damit verschwendest dü nür kostbare Zeit.“
„Ich muss es versuchen, Jacques“, beharrte Victor. „Hast du vergessen, dass unser Frachtraum bis an die Decke gepackt ist mit Kisten voller Serum gegen die Mars-Seuche, an der die Leute dort unten verrecken?“
„Vic, sei vernünftisch! Dü könntest selbst dann nischts ausrischten, wenn dü zwanzisch Stünden zür Verfügüng ’ättest.“
„Ach ja?“ Victor ließ nicht locker. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte Victor störrisch sein wie ein Muli. „Stell dir vor, deine Monique wäre dort unten. Was würdest du dann tun, Jacques? Würdest du sie im Stich lassen? Bevor das nächste Kurierschiff mit einer neuen Lieferung von der Erde hier eintrifft, wird sich Mars-Dome 1 in eine Geisterstadt verwandelt haben. Möchtest du das Leben von sechshundert Kolonisten auf dem Gewissen haben? Möchtest du das, Jacques?“
Jacques schüttelte stumm den Kopf.
„Gut. Gib mir zehn Minuten. Wenn ich bis dahin nichts erreicht habe, tue, was du für richtig hältst.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, stürmte Victor hinaus und sprintete zur nächsten Luftschleuse. Nachdem er in aller Eile den Raumanzug angelegt, sich einen Sauerstofftank auf den Rücken geschnallt und den Helm geschlossen hatte, schnappte er sich seinen Werkzeugkoffer und aktivierte die Schleuse. Das innere Schott schloss sich hinter ihm. „Ich muss es schaffen“, hämmerte es in seinem Kopf, während die Maschine die Luft herauspumpte.
Endlich sprang die Luke auf. Die Sonne – aus dieser Entfernung nur halb so groß und hell wie von der Erde aus gesehen – blendete ihn trotz der Polfilter seines Visiers. Instinktiv kniff er die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Mit der freien Hand den Haltegriff umklammert, stieß er sich vom Boden ab und segelte elegant aus der Schleuse in die immerwährende Nacht des Weltraums hinaus. Nach einer halben Drehung setzten seine Stiefel mit einem satten Klong, das er mehr fühlen als hören konnte, auf der metallenen Schiffshülle auf, deren Farbe im Widerschein des roten Planeten an geronnenes Blut erinnerte.
Die FORTUNA driftete durchs All wie ein toter Baum. Ihr zigarrenförmiger Rumpf glitt zielgerade auf den lichtlosen Himmelskörper zu, der - einer galaktischen Kartoffel gleich - unheilvoll und bedrohlich über seinem Kopf schwebte und mit jedem Herzschlag größer und größer wurde. „Ironie des Schicksals“, dachte Victor. Verglichen mit der anmutig runden Üppigkeit der irdischen Luna, war Daimos, der kleinere der beiden Marsmonde, mit gerade mal fünfzehn Kilometern Durchmesser kaum mehr als ein Kieselstein, seinem Namen machte er dennoch alle Ehre.
Behäbig wie ein Grizzlybär stapfte Victor auf den breiten Krater zu, der in der glänzenden Hülle klaffte wie eine offene Wunde. Der helle Lichtfleck seiner Helmlampe strich über die gezackten Wundränder der Schiffshaut und offenbarte ihm das volle Ausmaß der Katastrophe: dort, wo sich bis vor kurzem der Maschinenraum befunden hatte, kreiste ein Gewirr aus Schläuchen und bis zur Unkenntlichkeit verbeulten Wrackteilen umeinander. Ein Wunder, dass die Integrität des Schiffes nicht zusammengebrochen war.
„Vic, kannst dü misch ’ören?“
„Laut und deutlich“, erwiderte Victor, obwohl Jacques Stimme in seinem Helm ein wenig verzerrt klang.
„Wie sieht es aus dort draußen?“
„Nicht gut.“
„Dann komm jetzt zürück. Der Capitaine will nischt länger warten. Er lässt die Evaküierüng vorbereiten. Außerdem ist deine Zeit sowieso fast abgelaufen.“
„Verstanden“, antwortete Victor tonlos. Nachdenklich schaute er zum Mars hinüber, der - einer rostroten Pampelmuse gleich - in einiger Entfernung an Backbord hing. In der dünnen Atmosphäre meinte er, die Kondensstreifen der beiden Abfangjäger ausmachen zu können. Sie würden zu spät kommen. Ehe sie die FORTUNA erreichten, würde das Schiff mit seiner Fracht auf Daimos zerschellen. „Sechshundert Menschen“, dachte er. Ohne die Medizin waren sie zum sicheren Tode verurteilt. Und selbst wenn der Captain einen Teil der Ladung in die Fluchtkapseln schaffen ließ, würde die geborgene Menge nicht für alle Kolonisten ausreichen. „Nur nicht darüber nachdenken“, befahl er sich, als er aber zur Schleuse zurückkehren wollte, gehorchten ihm seine Beine nicht. Seine klobigen Weltraumschuhe schienen an der Außenhülle des Kurierschiffs festgeschweißt zu sein.
Plötzlich kam ihm eine Idee. Die Aussichten standen nicht überragend, doch eine winzige, eine letzte Chance, die Kollision zu verhindern, gab es noch. Entschlossen setzte er einen Fuß vor den anderen. Erst als er ganz vorne am Bug angekommen war, dort, wo das spitze Ende des kleinen Schiffes direkt auf den dunkelgrauen Gesteinsbrocken wies, dessen Name Schrecken bedeutet, blieb er stehen und hakte die Rettungsleine an den Ankerpunkt im Schiffsrumpf ein.
„Was zür ’ölle treibst dü noch dort draußen, Vic?“, dröhnte Jacques Stimme in seinen Ohren. „Der Capitaine sagt, wenn dü nischt inner’alb von zwei Minüten angeschnallt in deiner Rettüngskapsel sitzt, wird er disch wegen Befehlsverweigerüng vors Kriegsgerischt stellen.“
„Sag Captain Hayze bitte, dass ich etwas ausprobieren möchte. Ok, Jacques?“
„Einen Teufel werde isch tün!“, wetterte Jacques. „Augenblicklisch kehrst dü...“
Victor stellte sich taub. Unbeirrt setzte er den Werkzeugkasten ab, öffnete ihn und nahm den gasgetriebenen Schweißbrenner zur Hand. Als er ihn einschaltete, schoss eine kurze Stichflamme heraus. Wunder konnte er nicht erwarten. Die waren allerdings auch nicht nötig. Eine minimale Kursänderung würde ausreichen, um diesen Krümel am Himmel zu verfehlen. Sein Blick wanderte nach rechts zu der rostigen Kanonenkugel, auf der Menschen wie er in mühevoller Arbeit ihren Traum von einer Kolonie verwirklicht hatten. Nein, er würde nicht zulassen, dass ein simples Virus all das zunichte machte. Ein letztes Mal holte er tief Luft, dann hielt er die offene Flamme an den Schlauch, der seinen Raumanzug mit Sauerstoff versorgte.
Der Tank explodierte.
Victors Rechnung ging auf: Der Rückstoß lenkte das Schiff aus seiner Bahn.
„Formidable!“, jubelte Jacques Stimme aus dem Helmkopfhörer. „Isch weiß nischt, wie dü das angestellt ’ast, aber dü ’ast es geschafft, Vic! Dü ’ast es geschafft! Wir sind gerettet! Dü bist ein ’eld!“
Doch Victor hörte es nicht mehr. Die offenen Augen starr geradeaus gerichtet, trieb sein lebloser Körper hinaus in die Tiefen des Alls.

Letzte Aktualisierung: 20.08.2009 - 17.13 Uhr
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