Honigfalter
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August 2009
Unerwartete Begegnung
von Christine Dorn

„Die Gesandtschaft ist da, Cryza.“
Die angesprochene Große Dienerin des Orakels von Orthodor fuhr missmutig hoch, weil sie gestört wurde. Cryza brauchte Zeit in ihren Räumen. Vor ihr auf dem Tisch lagen mehrere Haufen getrockneter Kräuter, die sie zu Heilmitteln zusammenstellte. Mit den Arzneien war sie im Rückstand und ihr gefiel es nicht, dass die Kranken darauf warten mussten.
„Sie sind zu früh.“
„Sagt das mal den Fährleuten.“
Cryza verzog verächtlich den Mund, scheuchte die junge Magd aus dem Zimmer und schloss hinter sich die Tür. Weil sie auch Gift in geringen Mengen verwendete, legte sie den Riegel vor, damit sich niemand an ihren Vorräten vergriff. Schon einmal hatte eine Novizin versucht, sich das Leben zu nehmen – aus Liebeskummer. Dann hastete Cryza durch die dämmrigen Gänge, die vereinzelt mit Fackeln erleuchtet wurden. Für Cryza war das nach zehn Jahren Dienst alltäglich.
In zwei Räumen warteten bereits die Gläubigen auf die rituelle Reinigung, bevor sie das Orakel befragen durften. Im Vorbeigehen warf Cryza einen Blick auf die Leute. Wie üblich waren viele verzweifelte Frauen gekommen, die sich ein Kind wünschten oder das erloschene Begehren ihres Mannes wiederbeleben wollten. Unter den Männern befanden sich vor allem verkrüppelte, die auf Heilung hofften. Dazwischen saßen ein paar Angeber, Traurige und zwei Kritiker. Im zweiten Warteraum befand sich ein großes Wandbild der Göttin, hinter der die angehenden Priesterinnen die Gläubigen belauschten und wichtige Informationen aus den Gesprächen notierten. Damit war es meist ziemlich einfach, die passenden Antworten der Göttin zu formulieren. Mittlerweile empfand Cryza diese Vorarbeit als Betrug an den Gläubigen. Aber sie wusste, dass das Orakel für die Menschen eine große Hilfe sein konnte. Wer sich wie sie lange im Orakel aufhielt, durchschaute die Fragen ebenso schnell die Antworten. Allerdings war der Ältesten Priesterin aufgefallen, dass Cryza Gedanken lesen konnte. Diese Fähigkeit hatte sie in den letzten drei Jahren kultiviert und hatte so manches wohl gehütetes Geheimnis entdeckt, das den Orakelbesuch in ein anderes Licht rückte.
In der Zelle neben dem prächtigen Empfangssaal, der für die Gesandtschaften der Staaten und Städte reserviert war, ließ sie sich von der Magd Titji ankleiden. Cryzas Gesicht verschwand hinter einer leichten Metallmaske, die den Mund frei ließ und die ernste Miene der Göttin Orthodora zeigte. Ein Umhang mit Stickerei und Perlen verdeckte das schlichte weiße Gewand. Die Kapuze drapierte Titji über Cryzas hoch gesteckten Haaren, so dass die Große Dienerin als Ebenbild der Göttin erschien. Als die andere Große Dienerin Kilme auftauchte, fragte Cryza: „Woher?“
„Aus G'Frindal. Der König will eine Große Dienerin für seinen Sohn Ragunard.“
„Warum nimmt er nicht eine Vanesch?“
Kilme lachte amüsiert auf: „Die sind schön, aber unfruchtbar. Cryza, er hat das Recht, sich eine von uns zu wählen.“
„Dann soll er dich nehmen. Willst du ihnen weissagen?“
Cryza sah sie aus ihren Sehschlitzen an. Kilme gehörte zu den Frauen, die noch im Alter wunderschön waren. Aber sie konnte keine Kinder mehr bekommen Kilmes Gedanken zu lesen, gelang Cryza nicht.
„Denk nicht daran, Nera'Ide zu fragen. Vielleicht ist er deine letzte Chance. Oder magst du ihn nicht?“
„Doch.“
„Dann hast du Angst, Cryza. Die Göttin lehrt uns, mutig zu sein.“
Ertappt senkte Cryza ihren Kopf. Kilme las ebenso leicht Gedanken wie sie. Wenn Ragunard jemand anderen wählte, konnte Cryza auf den warten, den sie seit Kindertagen begehrte.
„Lass uns gehen!“
Gemessenen Schrittes begaben sich die Großen Dienerinnen in den Empfangssaal. Die Gesandtschaften warteten dort schon auf die feierliche Begrüßung. Bei Nostyx' Anblick setzte Cryzas Atem für einen Moment aus. Da sie bei der Zeremonie stumm blieben und die Älteste Priesterin sprach, hatte Cryza genügend Zeit, ihren Blick bei ihm verweilen zu lassen. Wie schön er war! Inzwischen war er zu einem Mann gereift, den sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht erhofft hatte. Jetzt stand er da und führte sie als seine Frau heim, wie er ihr vor zehn Jahren am Altar der Göttin versprochen hatte. Ihr Herz schlug wild, als sie sich das ausmalte.
Neben ihm standen Phyllis, die Tochter des vorletzten Herrschers von Nyxos, und ihr Vater Fliryx. Erleichterung machte sich in Cryza breit. Die beiden stellten keine Gefahr für sie dar. Endlich konnte sie ihren Dienst aufgeben und als reiche Ehefrau an Nostyx' Seite zu ihren Eltern zurückkehren. Seit zehn Jahren hielt sie die Liebe in ihrem Herzen eingeschlossen.
Die zweite Gesandtschaft kam aus G'Frindal und brachte außergewöhnliche Geschenke mit. Neben dem alten König Drabojard standen sein Sohn Ragunard und der Oberpriester Grifal. Hoffentlich ging es nicht wieder um irgendein Untier, dachte Cryza. Die beiden alten Männer senkten ehrfurchtsvoll vor den Dienerinnen ihren Blick, doch Ragunard starrte sie an. Ebenso groß wie Nostyx wirkte er kraftvoller. Sein Geist blieb Cryza verschlossen, obwohl sie versuchte, seine Gedanken zu lesen. Darüber wunderte sie sich, denn bisher hatte sie das stets gekonnt.
Nach der offiziellen Begrüßung wurden die Gesandten in einem eigenen Raum geführt, wo sie rituell gereinigt wurden, damit sie nur mit einem Leinentuch über den Hüften in das Orakel treten und den Willen der Göttin erfragen konnten. Währenddessen suchte Cryza zusammen mit Kilme das Allerheiligste auf. Kilme legte sich auf die schmale Liege über dem Spalt, aus dem herbe Dämpfe emporstiegen und sie in Trance mit der Göttin vereinigte. Zumindest wurde das so erzählt. Die Göttin war wohl stets anwesend, aber sie sprach selten durch ihre Priesterinnen. Cryza saß am Rand auf einem Schemel, um die Frage zu hören und die Antworten der Göttin aufzuschreiben. In ihrem Gedächtnis hatte sie zahlreiche Sprüche für die häufigsten Fragen, damit keiner ohne Antwort von der Göttin ging.
Als Kilmes Augen sich schlossen, winkte Cryza Titji, die den Vorhang zuzog. Denn nur das verborgene Orakel entfaltete seine Kraft. Die ersten näherten sich.
„Nostyx, hast du vor mir eine Frau begehrt?“ Das war Phyllis. Gespannt lauschte Cryza auf seine Antwort.
„Nein, noch nie.“ Cryza hielt die Luft an. Das war gelogen! Er hatte ihr geschworen, dass er sie liebte!
„Hast du jemals einer anderen Frau die Ehe versprochen?“ Wie unsicher Phyllis klang! Ja, mir, wollte Cryza rufen, doch Nebelschwaden stiegen aus dem Spalt empor, umschlangen sie und hinderten sie am Reden.
„Meine Liebste, das habe ich nie getan. Das sind dumme Gerüchte von Neidern aus Nyxos. So, jetzt stell der Göttin deine Frage.“
In Cryza zerbrach etwas, als sie seine unbekümmerte Stimme hörte. Wie konnte er nur ihre Liebe leugnen und sein Eheversprechen brechen? Sie hatte zehn einsame Jahre im Schatten der Göttin verbracht. Seinetwegen!
„O Göttin, wird unsere Verbindung gesegnet sein?“
Cryzas Hände zitterten, als sie die Frage aufschrieb. Ob die Göttin heute selbst sprach? Nach wenigen Augenblicken öffnete Kilme ein Auge und zwinkerte Cryza zu. Also keine echte Trance heute! Cryza grinste sie an und mit rauchiger Stimme antwortete Kilme: „Keine Ehe eines flatterhaften Mannes besteht lange und glücklich.“
Cryza überlegte kurz und formulierte den Spruch um: „Eine ehrliche Liebe bleibt ewig.“ Damit war alles und nichts gesagt. Mit einem Dank an die Göttin entfernte sich das Paar.
Der zweite Frage stellte Drabojard: „Wen wählt Ragunard zu seiner Königin?“
Cryza gähnte lautlos. Allzuviel Auswahl hatte der Thronfolger nicht. Das Rätsel war an sich keines. Sie blickte Kilme an, die regungslos über dem Spalt lag. Sollte Cryza eine ausweichende Antwort geben? Was war mit Kilme? Langsam richtete sich Kilme auf, schlug die Augen auf und flüsterte mit fremder Stimme: „Ragunard führt die Frau seines Herzens heim.“
Mit Dank an die Göttin verabschiedeten sich die Fragenden. Titji zog die Vorhänge zurück und half Kilme von der Liege.
„Mir ist, als läge Nebel über meinen Augen. Hat die Göttin gesprochen?“
Cryzas Gedanken wirbelten durcheinander, so dass sie auf Kilmes Frage nur nicken konnte.
Kilme schüttelte sich die restliche Magie aus ihrem Umhang. „Du brauchst nicht traurig zu sein, Cryza, hier bei der Göttin hast du stets ein Heim. Das Abendessen mit den Gesandten beginnt gleich.“
„Das weiß ich.“ Cryza schenkte ihr ein trauriges Lächeln.
„Du wirst an der Tafel erwartet.“
Cryzas Herz klopfte bis zum Hals, ihr Lebensmut war verschwunden. Dass Nostyx sie derart verraten hatte! Warum war sie ihm zehn Jahre lang treu gewesen und hatte jeden Bewerber abgelehnt? Dass er nun Phyllis heiratete? Cryza schrieb die Fragen und Antworten auf ein Stück Papier, rollte es zusammen und verschloss den Spruch mit einem geweihten Band.
Es war Zeit für sie zu gehen. Cryza nahm den Umhang ab und gab ihn Titji. Dann entschuldigte sie sich bei Kilme und suchte ihr Zimmer auf, in dem der angefangene Tee lag. Nostyx hatte sie gegen eine Herrschertochter eingetauscht und ihre Liebe mit Füßen getreten! Enttäuschung überrollte sie. Tränen liefen über ihre Wangen. Mechanisch stellte sie einen Becher auf den Tisch und murmelte den übelsten Fluch, während sie drei Gifte dazu goss. Als sich die Farbe von Rot in Grün verwandelte, war Cryza zufrieden und nahm den Becher in die Hand. Damit eilte sie durch die Gänge zum Speisesaal. Kurz vor der Tür hielt eine Hand sie im Dämmerlicht auf.
„Das wirst du nicht tun.“ Ragunard zeigte sich.
„Was?“
„In dem Becher ist Gift.“ Sein Blick durchbohrte sie.
„Das ist für mich. Er soll mich sterben sehen.“ Cryza starrte ihn an.
„Lass die Schatten der Vergangenheit hinter dir. Mir gehört deine Zukunft.“
„Nein!“ Cryza wehrte sich gegen seinen Griff.
„Er ist deiner unwürdig, wenn er so leicht vergisst.“
Cryza rang eine Weile mit sich, dann gab sie nach.
Ragunard löste ihre Faust und leerte den Becher gegen die Wand. Für einen Moment stank es, bis sich das Gift verzog.
Dann zog er sie an sich. Als seine Lippen die ihren berührten, entfachten sie ein völlig vergessenes Feuer. Cryza erkannte: Ragunard begehrte sie.

Letzte Aktualisierung: 06.08.2009 - 10.18 Uhr
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