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August 2009
Das Versprechen
von Johanna Sibera

Wie jeden Tag richtet sie das Essen für die Kinder, wie jeden Tag stellt sie das Geschirr auf den Tisch und wie jeden Tag ist sie mit einem Ohr sozusagen draußen am Gang, um gleich beim Eintreffen der Enkel die Türe zu öffnen und die beiden Neunjährigen in Empfang zu nehmen. Aber vielleicht ist es heute doch nur ein halbes Ohr, das sie den Geräuschen draußen schenkt; sie ist ein bisschen abgelenkt. Schon seit einigen Tagen hat sie das unklare Gefühl, beobachtet zu werden. Christina ist eine gute Großmutter, sofern man das überhaupt so sagen kann, vor allem ist sie eine junge Großmutter, im Vergleich zu anderen, mit gewaltigem Verständnis für die Zwillinge, das macht es aus. Das Essen für die Kinder kocht sie selten selbst, sondern Thomas, der dazugehörige Großvater, holt einige Portionen vom Chinesen oder aus der Pizzeria. Ganz demokratisch dürfen die Zwillinge entscheiden, was sie jeweils zu essen haben wollen, und sie mögen die Sachen vom Pizzabäcker viel lieber als Christinas Selbstgekochtes. Das kränkt Christina aber überhaupt nicht.

Christian steht im Schatten der Hecke im Vorgarten. Noch wagt er es nicht, einfach auf das Fenster zuzugehen und hinein zu sehen, das ist aber auch nicht nötig. Der schräge Einblickwinkel genügt völlig, er erkennt sie wieder, ganz ohne Problem, auch wenn er nicht viel mehr als ihren Schatten sieht. Vierzig Jahre haben nichts auslöschen können, weder die Erinnerung an Christina noch Christina selbst, ihren honigblonden Kopf mit den schulterlangen Haaren, die sie immer noch so trägt wie damals, einfach so in ihren schmalen Nacken hinein hängend, ohne viel Getue. Sie scheinen auch nicht grau zu sein, die Haare, aber auch nicht gefärbt. Eine Brille hat sie auf, heute wie damals, ohne Brille war sie praktisch hilflos, da scheint sich nichts geändert zu haben. Ihre Adresse zu erfahren war leicht, nicht so leicht das Herkommen. Er ist sehr schwach, die Dialysen rauben ihm die letzte Kraft, und seine Nieren arbeiten von Woche zu Woche schlechter, es ist schon recht absehbar, wie lange das noch dauern kann oder anders gesagt, wie lange das überhaupt noch gut gehen kann.
Christian und Christina: Diese ähnlichen Vornamen, so banal wie großartig, so hatte man sie gekannt, vor fast vier Jahrzehnten, ein Liebespaar, wie es gemeinhin beschrieben wird. Eines, bei dem die Lust, die sie aufeinander hatten, sichtbar und greifbar war, diese geradezu monströse Verliebtheit. Sie waren damals sicher gewesen, dass diese grandiose Gefühlswelt ihnen allein gehörte, dass andere gewiss nicht fähig waren, eine Liebe in dieser Intensität zu erleben. Dieser Einzigartigkeit zu vertrauen war natürlich albern gewesen, aber diese Form von Blindheit ist ein Recht der Liebenden, daran glaubt Christian noch immer.

Das alte Strandbad war ihr bevorzugter Treffpunkt gewesen; dort hatten Christinas Eltern eine Wohnkabine gehabt. An vielen Sommerabenden, wenn eine üppige rote Sonne sich anschickte, hinter das Ufer zu sinken, waren sie ineinander gestürzt, Verhungernde, Verdurstende, die aneinander Rettung suchten und fanden. Ihre gestammelten Liebesschwüre, ihre geflüsterten Beteuerungen, ihre geraunten Zärtlichkeiten – sie waren die pure Poesie. Sie waren nicht müde geworden, einander Versprechungen zu machen, heilige Eide im Namen ihrer Liebe zu schwören, sozusagen die romantischen Dichter vom Mittelalter bis in die Gegenwart zu bemühen; sie beide, Christian und Christina, zwei Absolventen eines humanistischen Gymnasiums. Und eine ihrer wunderbarsten Versprechungen, eine Liebesdienstleistung, derer sie sich gegenseitig unzählige Male versicherten, mit dem tiefen Ernst, zu dem nur akut Liebende in ihrer stärksten Phase fähig sind, war diese: „Ich werde dir eine Niere von mir schenken, wann immer du eine brauchst!“

Nun ist selbst die größte Liebe nicht immer dingfest für die Ewigkeit zu machen, und so endete auch diese irgendwann einmal, keiner vermag mehr die Gründe dafür zu nennen, und niemand will es eigentlich auch wirklich wissen. Beide hatten sie dann geheiratet, einen anderen, eine andere, die Jahre waren dahin geronnen, so hurtig, wie altes Essigwasser über den Rand einer Salatschüssel gespült wird. Dann war Christian krank geworden, zunächst waren es unklare Beschwerden, er wurde schwächer, war nicht mehr richtig leistungsfähig, zunächst ohne ersichtliche Ursache; und es dauerte recht lange, bis man endlich wusste, dass seine Nieren zu versagen drohten, alle beide. Viele, viele Monate war sein Name auf der langen Liste derer gestanden, die im Abseits ihrer Krankheit auf eine Spenderniere warten. Zehn Jahre schon zog sich sein Leidensweg dahin, seit zehn Jahren befand er sich auf diesem Trip des Grauens. Lange hatte es gedauert, bis die niederschmetternde Diagnose in seinem Kopf angekommen war; sodann das zermürbende Warten auf ein Spenderorgan, und Monate nach der Operation der Schock: Die neue Niere wollte nicht so recht funktionieren, in gnadenlos absehbarer Zeit würde sie ihre Dienste ganz einstellen.

Gefangen im zeitraubenden Stundenplan der Dialysen, abhängig von der dreimal in der Woche stattfindenden Blutwäsche, waren seine Gedanken zurück gekehrt zu den geflüsterten Versprechungen einer hellhaarigen Geliebten in jenen Sommertagen. Aus dem Hintergrund seiner nach und nach verlöschenden Existenz hatte er sich die damals gewechselten Worte ins Gedächtnis gerufen. Neben manchem anderen hatten sie einander ihre gesunden Nieren versprochen für den Fall, dass das jemals nötig sein würde, und dieser Fall war jetzt eingetreten.

Mehrere Anläufe hat Christian bereits unternommen, um dann doch wieder auf halbem Weg umzukehren, aber nun bleibt ihm nicht mehr viel Zeit. Heute, heute ist der Tag, heute wird er es tun. Er wird seine abseitige Beobachterposition verlassen, wird aus dem opaken Halbdunkel des dämmrigen Wintertages hervortreten und an das ebenerdig gelegen Fenster klopfen oder gleich durch die Haustüre gehen, egal. Er spürt, wie ihm der Schweiß über das Gesicht rinnt, es ist der Schweiß der körperlichen Schwäche, groß sind seine Kraftreserven nicht mehr. Vermutlich wird Christina ihn gar nicht mehr erkennen, ihn, diesen blassen, abgemagerten, alten Mann mit dem leicht gedunsenen Gesicht. Nun, dachte er, fast ein bisschen trotzig, so sieht eben einer aus, der seine letzte Chance ergreifen will, so hässlich, von so fahler Gesichtsfarbe, mit diesen aufgeschwemmten Zügen, ja, so sieht einer aus, der die letzte Chance vor sich sieht, den letzten Anker, sozusagen.

Und während Christian immer noch nach Worten sucht, mit denen er Christina begegnen kann, nach einer Einleitung für dieses Gespräch, nach einem Übergang über fast vierzig Jahre hinweg, weiß er mit einem Mal ganz genau, dass er hier stehen bleiben wird, eine Weile noch, vielleicht noch eine halbe Stunde, um sich dann leise, ganz leise hinweg zu stehlen, für eine sehr lange Zeit. Aber die Chance lebt noch, zumindest diese halbe Stunde lang noch, in der er hier stehen bleiben wird, diese allerletzte, so wie er auch noch lebt.

Letzte Aktualisierung: 11.08.2009 - 19.53 Uhr
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