Ganz schön bissig ...
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September 2009
Schatten-da-sein
von Sabine Poethke

Schon oft kam das Grauen auf diese Welt. Und auch du wirst ihm nicht entkommen!

Die junge Frau warf einen flüchtigen Blick über ihre Schulter und lief schneller. Was immer da hinter ihr war, es folgte ihr. Die Dunkelheit verschluckte nach und nach die Silhouette der Stadt. Die schmale Sichel am Nachthimmel warf kaum Licht auf die alte Landstraße. Mit Schritten als trüge sie Sieben-Meilen-Stiefel lief Viona auf den Waldrand zu. Es war offensichtlich, dass sie irgendetwas zur Eile mahnte. Schweiß ließ das Kleid an ihrem Rücken kleben, die Riemchen ihrer Sandalen scheuerten an ihren Knöcheln.
Endlich, die ersten Zweige der hohen Tannen streiften Viona. Gern hätte sie sich geborgen gefühlt, doch die Unruhe wollte nicht weichen. Trotzdem hielt sie an, stützte die Hände auf die Knie und holte nach vorn gebeugt Luft.
Ein Rascheln im Laub. Ein Vispern. Uhuuuuu, schrie es über ihrem Kopf, und der Flügelschlag hallte lauter in ihren Ohren, als er es jemals getan hatte. Aus einem unerfindlichen Grund jedoch fühlte sie sich hier sicherer als zu Hause. Viona sah sich um. Und nun? Hier war es beinahe stockdunkel, der fahle Mondschein drang nur in dünnen Fäden durch die Baumwipfel, warf verzerrte Schatten. Die junge Frau suchte sich einen Baumstumpf und setzte sich. Es hatte sich in ihrer Heimatstadt Groß-Lütten etwas verändert, und sie war seitdem nicht mehr zur Ruhe, zum Nachdenken gekommen. Was genau war bloß geschehen? Peer sah aus wie ein Zombie, Mutz war blass wie billiger Käse, Mira, ihre beste Freundin, hatte seit der Minute, in der alles begonnen hatte, nicht mehr gesprochen. Die Augen vieler Menschen wirkten leer, und auch die Stadt sah verändert aus. Nur konnte Viona nicht sagen, warum. In ihrem Kopf schwirrten hunderte Gedanken durcheinander. Einige ihrer Freunde waren nicht mehr dieselben. Andere schienen noch normal, obwohl auch an ihnen … ja, was? Sich etwas veränderte? Sie bekam den Gedanken nicht zu fassen. Die Stadt wirkte tagsüber hell, nachts war es verblüffend ruhig. Sie stützte ihren Kopf. Er wog viel schwerer als zwölf Wassermelonen. Ein Zweig knackte. Es rauschte in den Wipfeln. Wo kam denn so plötzlich der Wind her?
„Viooonaaa … Warte auf uns, lauf nicht weg, wir kriegen dich sowieso. Geh ins Licht“, wisperte es in den Baumkronen.
Ihr wurde kalt. Ein Zittern durchflog ihren Körper. Sie schrie auf …

Schweißnass fuhr Viona hoch. Das Licht der Straßenlaterne fiel durch einen Spalt der zugezogenen Gardine ins Zimmer. Ihr Bettlaken war zerwühlt, die Decke lag auf dem Boden. Vionas Puls raste und ihr Atem ging stoßweise. Ein Traum! Sie rieb sich die schmerzenden Fußknöchel. In meinem Leben stimmt etwas nicht, sinnierte die Erstsemester-Studentin, ganz und absolut nicht.
Mit einem Glas Wasser spülte sie ihren Mund klar. Dann legte sie sich aufs Bett. So schlief sie ruhig und traumlos bis zum Morgen.

Auf dem Weg zur Uni sah Viona sich heute intensiv um. Hatte sich hier etwas verändert? Der Traum ankerte noch vor ihren Augen. Wenn etwas nicht stimmt, finde ich es heraus, dachte sie. Wozu studiere ich sonst Psychologie? Sie zog die Augenbrauen hoch. Das klang schon wie bei ihrem Vater!
Es war heute anscheinend viel wärmer als sonst. Sie lief die Strecke normalerweise immer, ohne dass sie ins Schwitzen kam. Die Sonne knallte ja richtig vom Himmel! Und da fiel es ihr wie Scheunentore von den Augen. Viona blieb stehen. Es … es … es gab beinahe keine Schatten! Die, die da waren, sahen winzig aus. Kein Vergleich zu ihrer normalen Größe! Daher auch diese Wärme. Die Straße lag schon morgens um acht in der prallen Sonne! Ungläubig über ihre Entdeckung sah sie an sich herab und schüttelte erstaunt den Kopf. „Was…“, stotterte sie. Ihr eigener Schatten war winzig wie ein Fingerhut!
Wo viel Licht ist – ist auch viel Schatten. Wo kein Licht ist – da ist auch kein Schatten. Es war aber Licht da? Dann müsste es doch Schatten geben. Und davon jede Menge! Viona zog die Nase kraus.
„Hej, welche Laus ist dir denn über die Leber … Was ist denn los? Vio?“ Der Studienkollege legte seine Hand auf ihre Schulter.
Viona blinzelte.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte Mutz. „Du siehst blass aus.“
„Findest du das in Ordnung?“ Sie zeigte auf den Boden.
„Was?“
„Also, bitte. Willst du mir sagen, dass dieser winzige Schatten …“ Erstaunt hielt sie inne. Alles sah aus wie immer.
Mutz lachte. Sie sah hinauf auf sein Stoppelkinn.
Er nahm ihre Hand. „Heiß, was?“
Die junge Frau nickte.
Langsam liefen sie zur Aula. Viona sah sich noch einmal um. Doch alles schien wieder normal zu sein.

Was redete der Prof denn da? Aufbegehren, kleiner machen, Über-Ich. Kindheitstrauma, Überwindung, ergeben. Und das schon seit Stunden. Viona drehte den Stift zwischen ihren Fingern und hörte die Wortfetzen durch den Raum schwirren. Die Luft war stickig und ihre Kommilitonen saßen ähnlich gelangweilt an ihren Tischen. Mit geschlossenen Augen dösten einige vor sich hin, andere sahen zum Fenster hinaus. Wenige schrieben mit. Noch zwanzig lange Minuten, dann war Schluss für heute. Vio malte Kreise aufs Papier. Malte Augen mit stechendem Blick hinein. Malte einen Mund mit spitzen Zähnen. Kritzelte die Figur mit vielen Strichen zu.
Vom Rednerpult drangen vereinzelt Worte zu ihr herüber. Vernachlässigung. Bewältigung. Unerfüllte Träume. Vorbilder.
Das Blatt vor ihr war blütenweiß. Viona stockte. Sie hob es an und sah auf das Blatt darunter: unbeschrieben. Sie begann den Block zu durchforsten.
Buchstaben, fett und ungelenk prangten ihr aus der Mitte entgegen: Tritt aus dem Schatten! Wir kriegen dich! Du kannst uns nicht entkommen! Das Ende ist da!
Wer hatte das geschrieben? Ds sollte wohl ein Scherz sein! Unsicher sah Viona sich um. Wurde es hier drinnen kalt? Sie konnte den Prof nicht mehr verstehen; die Wortfetzen erloschen, bevor sie zu ihrem Ohr dringen konnten. Ein Schatten formte sich unter der Zimmerdecke, kroch über die Köpfe hinweg und hinterließ bei denen, die er streifte, ungewisse Dunkelheit, leere Blicke. Viona sprang auf. Neben hier saß Mutz und sah sie an. Sein Körper versteinerte. Sein Gesicht verstummte; fragend, eingefroren. Mira drehte sich zu ihr um, wollte etwas sagen, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken. Peer fiel leblos vornüber. Der Professor: zur Salzsäule erstarrt. Über den Menschen in der Aula lag ein gewaltiger Schatten.
Viona öffnete die Tür. Sonnenstrahlen fielen ihr ins Gesicht. Wärmten. Doch die Kälte kroch hinter ihr her. Wehr dich nicht. Du entkommst ja doch nicht. Wir holen dich ein!
Mit einem Satz nahm Vio die beiden Stufen und begann zu rennen. Die Stadt schwieg, versteinerte Menschen – überall in der prallen Sonne. Diese drang durch Wände, Bäume, Mensch und Tier.
Groß-Lütten besaß, bis auf den winzigen, der noch an Viona klebte, nur noch einen Schatten und der war nun anscheinend hinter der jungen Studentin her. Sie rannte. Raus aus der Stadt, den Hang hinauf, zur Landstraße. Überqueren. Der Wald. Nicht mehr weit! Sicherheit? Sicherheit!
Viona sah zu den hohen Tannen. Beinahe konnte sie deren Nadeln schon spüren. Da durchlief ihren Körper ein Ruck. Sie blieb stehen und drehte sich um, sah zur Stadt zurück. Jedoch versperrte ihr der Riesenschatten die Sicht dorthin. Was hatte diesen Ruck verursacht?, dachte Viona, und schon beim Gedanken daran ahnte sie die Antwort. Trotzdem sah sie erstaunt in die Wiese zu ihren Füßen. Sie sah, wie ihr Schatten, eben noch hinter ihr, sich von ihr gelöst hatte, sich dem riesigen zuwandte und zu diesen hinkroch. Mit zitternden Fingern versuchte die junge Frau ihn zu greifen, aufzuhalten, ihn an sich zu bringen. Doch sie musste zusehen, wie er kleiner wurde und kleiner, während er in den großen kroch, und wie das Monstrum ihren Schatten schließlich verschluckte. Lauf um dein Leben, schrie es um sie herum. Das kann alles nicht wahr sein, sagte ihr Kopf. Gestern war die Welt doch noch in Ordnung!
Der Traum von letzter Nacht fiel ihr ein. Blöder Traum, konnte nicht real sein! Ihre Fußknöchel begannen zu schmerzen.
Viona wollte fliehen, in Richtung Wald laufen. Stolperte, sank auf die Knie, und streckte ihre Hand aus, um sich an einem der Zweige festzuhalten.
Hoch mit dir, bring dich in Sicherheit!
Die schattige Gestalt berührte ihr Haar, schwebte über ihrem Kopf. Verzweifelt versuchte sich Viona mit einem Arm zu schützen. Steh auf! Doch sie kam nicht vom Fleck, blieb angewurzelt am Waldrand knien. Ihr Atem rannte allein weiter. Spitze Zähne blitzten in der Schattenwolke auf, näherten sich ihrem Gesicht. Sie hörte einen Schrei, hörte sich schreien. Sie röchelte. Und spürte im nächsten Moment nur noch, wie die Kälte sie übernahm ...

Geh spazieren, hin zu einem Wald in der Nähe deines Hauses, dann wirst du Viona vielleicht begegnen. Von Moos bewachsen, vom Fuße aufwärts mit Pilzen übersät und mitunter schon von Bäumen umringt. Ein knorriger, halbvermoderter Baum, von dem ein Astausläufer zur nächsten Tanne zeigt. Wenn aus heiterem Himmel Wind aufkommt und sich dunkle Wolken vor die Sonne schieben, kannst du fast körperlich fühlen, wie die kleinen Blüten auf dem Moos wie Espenlaub zittern. Und das ist genau der Zeitpunkt, an dem du … beginnen solltest … zu rennen!

Letzte Aktualisierung: 27.09.2009 - 19.03 Uhr
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