Der Tod aus der Teekiste
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September 2009
Schall und Rauch
von Barbara Hennermann

Wer mit dem Namen Bierbichler, zumal Antonius Bierbichler, ins Leben geworfen wird, hat dies als Auftrag zu betrachten. Wer aber dem kantigen Breitschädel-Bierbichler-Schema zuwider läuft, hat stattdessen ein Problem.
Der „Toni“ erwies sich, trotz bester Hausmannskost von Anbeginn an, als untermaßig, untergewichtig und, zu allem Überfluss, sensibel. Bei Familienfeiern, also bereits bei seiner Taufe, war er „ja mei, der Toni, gell“, den keiner so recht ernst nehmen konnte im Familienverband. Ein Ausrutscher halt. Wie das Schicksal manchmal so spielt.
Der Bub wuchs heran, ohne sich dem Familienmuster angleichen zu können. Zu klein, zu dünn, zu weibisch … Er liebte klassische Musik und hatte Spaß an Büchern. In der Schule bekam er, völlig untraditionell bei den Bierbichlers, gute Noten – sogar in Betragen. Die Hoffnung der Familie, all diese Behinderungen könnten sich noch auswachsen, erfüllte sich nicht. Aber sie lastete auf ihm wie ein Betonklotz und ließ ihn noch kleiner erscheinen, als er ohnehin schon war. Er ging durch sein Leben mit abwärts gerichtetem Blick und konnte seine Qualitäten weder wahrnehmen, geschweige denn, sich an ihnen erfreuen.
Mit zwanzig landete er als Sachbearbeiter beim Finanzamt, weil ein richtiger Beruf, wie er sonst in seiner Familie üblich war, seiner geringen Belastbarkeit wegen für ihn nicht in Frage kam.

Wieder einmal hatte Toni ein Wochenende überstanden und war froh, dass er aus dem Schoß der lautstarken Großfamilie zurück an seinen Arbeitsplatz im Finanzamt flüchten konnte, in seine Oase der Ruhe. Sorgfältig ordnete er die Stifte auf seinem Schreibtisch und holte freudig die neuen Eingänge zur Lohn- und Einkommensteuererklärung aus dem Regal. Der Tisch ihm gegenüber glänzte - wie er selbst! - in jungfräulicher Reinheit, weil Kollege Müller mit einem Burnout-Syndrom für unbestimmte Zeit aus dem Dienst ausgeschieden war. Toni verschränkte die Finger ineinander und drückte sie durch, bis sie knackten. Dann öffnete er die erste Akte, nahm einen fein gespitzten Stift in die Hand und begann, sich in die Formulare einzulesen. Stets eröffnete sich ihm hier ein bunter Reigen menschlicher Fähigkeiten und Unfähigkeiten, den er gerne, phantasievoll und emotional begleitete.
Heute allerdings schien etwas falsch gelaufen zu sein. Diese Steuernummer gehörte ganz offensichtlich nicht in seinen Aufgabenbereich! Sorgfältig packte Toni die Akten zurück, legte die Papiere ordentlich zusammen und verließ, gewohnheitsmäßig gesenkten Hauptes, seinen Büroraum.

Der Zusammenstoß war heftig, aber schmerzlos. Er fühlte sich, als sei er gegen einen weichen, warmen Berg gerannt. Sein Kopf, gefangen zwischen zwei Brüsten beachtlichen Umfangs, befreite sich aus dem Busengebirge und lief, natürlich, sofort rotglühend an. „Äh, Verzeihung, ich …“ stotterte er perplex und blickte zur Besitzerin dieser Pretiosen nach oben. Ein freundliches, nicht mehr ganz junges Gesicht strahlte auf ihn nieder. „Ach, macht doch nichts“, sagte die Frau. „War meine Schuld. Ich wollte eben hier anklopfen. Sind Sie Herr Müller?“ „Äh, nein … Herr Müller ist erkrankt. Vielleicht kann ich Ihnen …?“ Sie strahlte noch mehr. „Das wäre nett! Ich komme mit dem Formular nicht zurecht.“
Er öffnete ihr die Tür, nahm ihren Antrag und sah – jawohl, zugegeben, voll Neugierde! – auf ihren Namen. „Sarah Zeisig“ stand da. Sein Blick glitt zu ihr zurück. Größe ca. 1,80 m, Gewicht – freundlich geschätzt – 130 kg. Sarah Zeisig. Auch sie, wie er, ganz offensichtlich unter falschen namentlichen Voraussetzungen dem Leben anheim gegeben … Er spürte spontane Zuneigung in sich aufwallen. „Ja nun, Frau Zeisig, wo hakt´s denn?“ Mit einem Mal erfüllte ihn große Sicherheit. Schau an, ein Mensch Bierbichler´scher Größenordnung! Und dennoch auf seine Hilfe angewiesen.
Vertrauensvoll blickte sie ihn an. „Ach wissen Sie, ich kann mit all dem Papierkram nix anfangen. Aber gemacht werden muss er ja doch, gell?“
Beflissen und kompetent sah er ihre Formulare durch. Und wieder zu ihr. Die
Wallung in ihm nahm Formen an … Mochte sie auch fast doppelt so alt sein wie er, was soll´s? Er räusperte sich. „Hm, ja also, Frau Zeisig, da kann ich auf die Schnelle nichts dazu sagen, müsste erst ihre Unterlagen genauer durchgehen … Was meinen Sie, wollen Sie mir das alles vielleicht heute Abend zeigen, wenn ich dafür mehr Zeit habe? Wir könnten zusammen essen gehen, wenn Sie wollen?“
Die anfängliche Verwunderung in ihrem Gesicht wich einem erneutem Strahlen. „Ja mei, wenn Sie sich die Zeit nehmen wollen, Herr …?“ „Bierbichler“, nuschelte er, „Toni Bierbichler“. Vorsichtig sah er sie von unten an. Doch ihr Strahlen strahlte weiter.
Der Abend wurde ein voller Erfolg. Zum ersten Mal begleitete Toni einen Einkommensteuerantrag realiter und dazu noch voller Empathie. Er holte heraus, was herauszuholen ging und entzog seiner Behörde so, zu seinem eigenen Erstaunen mit großer Freude, ein stattliches Sümmchen. Sie war Fußpflegerin - selbständige, ambulante … Ein Grund, sich wieder zu sehen! Denn schließlich hatte er zwei ziemlich vernachlässigte Füße.
Und Sarah konnte wahrlich mehr als diese pflegen!

Die Heirat mit ihr rehabilitierte ihn im Familiengefüge. „Ja mei, der Toni! Hat er doch noch was auf die Beine gestellt. Höhö.“ Keiner störte sich am Altersunterschied. Kleine Mängel gibt´s eben immer … Er nannte sich hinfort Bierbichler-Zeisig. Auch dies eine zusätzliche kleine Rehabilitation. Die Bierbichlerlast erfuhr so eine gewisse abmildernde Leichtigkeit. Sarah blieb bei Zeisig. Nicht aus emanzipatorischen Gründen, beileibe nicht! Doch die Zeisigs waren den Bierbichlers, staturmäßig sowie mental, recht ähnlich. Sie hatte unter dem Namen allerdings nie gelitten, sondern sich dessen tirilierende Beschwingtheit lebenslang zu Eigen gemacht. „Mon petite dieu“ zwitscherte sie in zärtlichen Stunden an seinem Ohr.

Toni gewöhnte sich an einen aufrechten Gang und avancierte zum Abteilungsleiter. Sein Dasein hatte einen neuen Sinn bekommen. Endlich lebte er genussvoll und frei, meldete sich im Kirchenchor an und trat sogar einem Zirkel für „Bücherwürmer“ bei.


Per aspera ad astra!

Letzte Aktualisierung: 21.09.2009 - 10.16 Uhr
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