Der himmelblaue Schmengeling
Der himmelblaue Schmengeling
Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
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September 2009
Tiefe Wasser
von Hajo Nitschke

„Braver Hund! Magst a Würstl?“ Sie kennen sich, Willis Cousine Olga und Labi-Senn-Mischling Männeken. Der versteht die Worte nicht, geht aber aufgrund ihrer Melodie davon aus, dass er wieder mal zu einem schmackhaften Häppchen eingeladen ist. Mit einer ansatzlosen Bewegung verschlingt er die Gabe und empfängt gewohnte Streicheleinheiten. Worauf Notar Vonderstück in amtlicher Kanzleisprache die wohlbekannte Testamentsklausel verliest. Sie betrifft den Fall, dass Hundehalter und Millionenerbe Willibald Pengwitz vor seinem Hund stirbt: Tier und Millionen fallen ohne Ansehen der Person demjenigen zu, den Männe am deutlichsten mit der Zuneigung seiner Hundeseele auszeichnet.

Die Verwandtschaft hält den Atem an, hatten doch auch alle anderen den Kontakt zu Willis Haustier gepflegt. Der Haushälterin des Verblichenen ist es einerlei: Martha hat andere Sorgen, zum Beispiel um eine neue Arbeitsstelle. Sie lässt die Leine los. Mit honigsüßen Worten ergreift Würstl-Olga diese als Erste. Aber das Wesen am anderen Ende weigert sich mitzugehen, was einen obszönen Fluch zur Folge hat. Männe ignoriert auch den Bruder und eine Halbschwester des Verblichenen.

***

Um sich die jährlichen Zahlungen aus dem Erbe seiner Tante zu sichern, hatte Willi den Vierbeiner wie einen eigenen Sohn zu hegen und zu pflegen. Zähneknirschend, denn er wünschte diesen „dummen Köter“ schnellstmöglich in den Orkus. Welch verrücktes Testament! Warum noch zehn und mehr Jahre warten, bis das gesamte Erbe frei wird? Und so schmiedete Willi finstere Pläne, die alle ein vorzeitiges, aber unverdächtiges Ende des Mischlings zum Ziel hatten. Die Taktik verlangte es, ihm innige Zuwendung vorzugaukeln. Dem Hundehalter gelang dieses perfide Possenspiel leidlich. Männe glaubte, aus Musik, Tonlage und Dynamik der täglichen Ansprache ein akzeptables Herzlichkeitsmuster herauszuhören.

Zwar ertappte er sein Herrchen gelegentlich bei einem finsteren Blick oder wurde bei einem unbedachten vivace agitato seiner Sprachmelodie stutzig. Sobald der Lautgeber aber zum obligaten andante amoroso zurückfand, verflog das Misstrauen wieder. Etwas fehlte ihm dennoch. Manchmal träumte er von einem nie endenden lieblichen Belcanto, fand aber ansonsten keinen Grund zur Klage.

Im zweiten Jahr der Beziehung bestach Willi einen Kampfhund-Besitzer. Danach gab er Martha Anweisung, wieder einmal den Versuch eines endlich erfolgreichen Gassigehens zu unternehmen.
„Und halten Sie Männeken von fremden Hunden fern!“ Für gewöhnlich pflegte das eigenwillige Tier auf dem Hinweg am Waldrand den Seitenstreifen zu wässern und zu markieren. Dies gelang allerdings nur, wenn Willi es mit eigenem Strahl vormachte (die Hoffnung, der offenbar kaum lernfähige Hund möge sich auch ohne Willis Anwesenheit öffnen, hatte sich bisher nicht erfüllt). Der Rückweg war am Bach entlang vorgesehen, denn Willi zog einen Rundweg der simplen Streckenwiederholung vor. Als Haushälterin und Männe sich auf diesem Rückweg befanden, erschien wie aus dem Nichts ein Fremder mit unangeleintem Kampfhunde-Rudel. Rasendes Gekläffe, die Bestien waren offenbar nicht zu bändigen. Martha, die Angst um ihr Leben hatte, wollte Männe wegzerren. Der Mischling riss sich los und sauste davon, die Meute höllenhundmäßig bellend dicht auf den Fersen. Doch die wilde Jagd endete nicht mit seiner Zerfleischung. Vielmehr wurde er auf Hundeart geherzt und als Spielgefährte zum Nachlaufen eingeladen.

Willibald Pengwitz verbarg seine Ãœberraschung, als Martha mit dem quicklebendigen Vierbeiner wieder eintraf und ihren Bericht begann. Barsch unterbrach er sie:
„Wie konnte das passieren? Habe ich nicht angeordnet, einen weiten Bogen um andere Hunde zu machen? Einmal noch, und Sie sind gefeuert!“ – Plötzlich fiel Martha ein, was sich auf dem Hinweg außerdem zugetragen hatte:
„Entschuldigung, Herr Pengwitz, darf ich nur noch sagen …“
„Nein! Das ist einfach un-ent-schuld-bar, und Schluss!“
„Aber so hören Sie doch, Herr …“
„Raus mit Ihnen! Komm Männe – wenn man nicht alles selber macht“ Mit diesen Worten ging es notgedrungen erneut „auf die Strecke“.

Der nächste Versuch, das lästige Tier loszuwerden, folgte in der S-Bahn und schlug ebenfalls fehl. Irgendwie quetschte sich Männe an seiner Leine noch schnell durch die sich schließende Tür hinter Willi her. Dieser hätte nie gedacht, wie schmal sich ein Hund machen konnte. Scheinbar erleichtert drückte er ihn an sich. „Gerade noch mal gut gegangen!“, meinte ein Fahrgast und erntete Herrchens gemimte Zustimmung. Innerlich kochte besagtes Herrchen und vernichtete zu Hause grimmig den vorbereiteten Entwurf eines Nachrufes („Ich hatt’ einen Kameraden“, Strophe eins).

Im dritten Jahr sollte es der Tod unterm Auto sein. Der Mischling hatte die Angewohnheit, Befehle möglichst sinnwidrig zu interpretieren. Bei „Sitz!“sprang er in die Höhe, bei „Aus!“ verbellte er alles und jeden grantig. So kam es, dass der Hundemeuchler in spe einen geeigneten Moment im dichten Straßenverkehr abwartete. Als ein Lastwagen von rechts und ein Bus von links nahten, ließ er verstohlen die Leine los und befahl: „Bei Fuß!“, was für Männe soviel wie „Schnellstart!“ bedeutete. Entsprechend flitzte dieser los. Bremsenkreischen, Scheppern und Krachen: Bus und Laster waren zusammengestoßen, der schwanzwedelnde Männe unversehrt geblieben.

Natürlich sprang die Haftpflichtversicherung ein. Willi hatte stets an alles gedacht. Daher sollte auch Männes Sexleben nicht zu kurz kommen. Daher durfte der Hund einmal im Quartal ins Hundebordell, um sich für dreißig Euro aus Willis Schatulle einige vergnügliche Minuten zu machen. Heiße Hündinnen gab es dort immer. Da sich der Hundepuff in einer entfernten Großstadt befand, war eine Autofahrt nötig. Eine Stunde auf der Autobahn hin, anderthalb zurück. Selbstverständlich auf einer Landstraße, um wenigstens den Anschein eines Rundweges zu wahren. Als sich Männeken in dem kleinen Verrichtungs-Waldstück mit Wonne an die Arbeit machte, suchte Willibald das Weite. Die Hundemarke hatte er vom Halsband entfernt, ein Chip war sowieso nicht vorhanden. Indessen hatte er die Rechnung ohne den Hund gemacht, der den Weg dank eines inneren Navis bis zum Abend zielsicher zurückfand.

Martha musste etliche Botschaften von den Laternen und Straßenbäumen abreißen, denn „Mein heiß geliebter treuer Hund“(mit Foto) – am Soundsovielten entlaufen und auf den Namen ‚Männe’ hörend –, lag nach dem obligaten Gassigehen erschöpft, aber wohlbehalten auf seiner Decke. Martha hatte seine wund gelaufenen Pfoten versorgt und ihm etwas zu Fressen gebracht.
„Lassen Sie das gefälligst! Sie wissen, dass es so spät nichts mehr gibt!“
„Aber Herr Pengwitz, der hat doch seit morgens …“
„Ich dulde keine Widerworte, Sie …!“ Damit riss der Befehlsgewohnte den noch halb vollen Futternapf wütend an sich.

Im Herbst des dritten Jahres hielt es Willibald nicht mehr aus. Er verordnete Martha unbezahlten Urlaub und trat mit dem Hund eine Fahrt in die Berge an. Der Mischling hatte nach Willis Erkenntnis inzwischen gelernt, auch an anderen Orten als auf dem heimatlichen Waldweg zu urinieren, so dass der Reise nichts entgegen stand. Es schien zwar immer noch nichts ohne Willis vorangehenden Harnstrahl „zu laufen“, aber dieses Opfer würde er nun letztmalig bringen. Auf einem schmalen, steilen Serpentinenweg zum Gipfel gab er Männe jäh einen Tritt, als die Wand seitlich besonders steil abfiel. Leider kamen just in diesem Moment Bergwanderer um die Biegung. Er konnte die Leine schlecht loslassen, schwang das daran baumelnde Tier weit ausholend vor sich auf den Pfad und zerstreute dessen Irritation mit einem kurzen Statement dolce klingender Pianissimo-Töne.

Als sie am Gipfelkreuz anlangten, verdunkelte sich der Himmel. Egal, sie waren allein, es musste hier und jetzt sein. Er führte Männe an die Felskante. Es ging tief hinunter, der kleine Stausee auf der Talsohle war nur eine winzige Pfütze.
„Nun piss dich aus, Töle!“, sagte Willi.
„Wuff“, sagte Männe.
„Ach ja“, sagte Willi, knöpfte den Hosenstall auf und beschenkte das Tal verschwenderisch. Automatisch hob auch Männe das Bein, da zuckte in der Ferne ein Blitz.
„Ein Blitz“, erklärte Willi.
„Wuff“, erklärte Männe und sprang in die Höhe, denn seine mehr auf Vokale geeichten Ohren hatten „Sitz!“ verstanden. Willi verlor dadurch den Stand, griff, die Leine loslassend, mit beiden Händen vergebens nach einer Stahltrosse und stürzte mit offenem Wasserwerk zu Tal, die letzten Tropfen seines Lebens im freien Fall versprühend. Nach etlichen hundert Metern schlug er am Ufer des Sees auf.
Nach der Überführung erfolgte die Beisetzung im kleinen Kreis der Verwandten. Zuvor war der Sarg auf einem Rundweg über den Friedhof seiner Bestimmung zugeführt worden.

***

Wer auch immer den Blitz vom Himmel geschleudert hatte, es muss ein großer Tierfreund gewesen sein. Unter Willis Verwandtschaft befindet sich kein Tierfreund, obwohl sich alle diesen Anschein geben. Männe, dessen Trauerzeit bereits vorbei ist, kann sich letztlich für niemanden erwärmen. Mit Ausnahme Marthas, in deren Arme er sich flüchtet. Und sie? Nachdem ihr Herzschlag wieder einsetzt, denkt sie, dass sie keinen neuen Job braucht. Und dass dieser schlaue Hund schon lange sein kleines Geschäft überall und nach Belieben, ohne Willis Anwesenheit, verrichten kann.

Damals, nach der „Schlacht“ mit Rottweilern und Dobermännern, hatte er plötzlich wie selbstverständlich einen Baum begossen. Ganz ohne Willis Initialstrahl, dessen Notwendigkeit Männe aus purer Gewohnheit nur noch vortäuschte. Das alles geht Martha, der Willi damals zu seinem eigenen Schaden das Wort entzogen hatte, durch den Kopf. Aber Männe, von Willi nicht mehr abgelenkt, erschnuppert unter Marthas sanft streichelnden Händen etwas Neues. Etwas, das seine feine Nase bei ihrem ehemaligen Arbeitgeber noch nie gewittert hatte: Ungekünstelte liebevolle Zuwendung. Und die sensiblen Hundeohren vernehmen zudem einen beim dahingerafften Herrn nie gehörten und auch nie mehr zu hörenden Laut: Das Pochen eines menschlichen Herzens.

Letzte Aktualisierung: 13.09.2009 - 00.19 Uhr
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