Der himmelblaue Schmengeling
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September 2009
Anna Politkowskaja
von Patricia Kohnle

Liebe Anna,

ich weiß nicht, woher ich die Amnesty-Zeitschrift hatte und darin von deiner Ermordung las. Ich war noch nie an Politik interessiert. Schon gar nicht am Osten.
Ich weiß nicht, warum ich an deiner kleinen Notiz hängenblieb. Es gab in dieser Zeitung viele Berichte über grausame Menschenrechtsverletzungen. Na und, das gehört heute zum Alltag und zum Geschäft.
Ich habe dein abgedrucktes Foto unter den Papierstapel auf meinem Schreibtisch geschoben. Ein Blatt unter vielen. Daneben surrte der Computer. Warum griff ich dennoch immer wieder zu deinem Bild? Zu dem Bild einer verstummten Zeugin in einer wortreichen Welt.
Ich schaute dich an. Auch eine Frau. Vielleicht in meinem Alter. Die grauen, kurzen Haare stehen dir gut. Du hast Stil. Silberne Ohrringe, silberne Brille. Eine Brosche zeigt einen silbernen Elefanten. Ein Geschenk? Eine Reiseerinnerung? Dürfen alle Journalisten aus Moskau ungehindert in den Westen reisen? Warum bist du zurückgekehrt? Warum hast du geschrieben, über Folter in Tschetschenien? Warum hast du es dir nicht bequem gemacht? Was hat dich gedrängt?
Nicht nur dein Gesicht gewinnt mich. Auch deine Haltung. Du sprichst mit den Händen. Temperamentvoll. Du wendest dich, weg von dir, deinem Gegenüber zu. Mit einem Lächeln. Wie kannst du lachen? Hast du nicht die Bedrohung gespürt, die das Aussprechen der Wahrheit immer erfährt?
Es macht mich wütend, dass "sie" dich ermordet haben. Wer sind sie? Wie leben sie mit dieser Schuld? Sie waren so unverschämt, den Mord an dir noch nicht einmal als Unfall zu tarnen. Sie wussten, es war der Mühe nicht wert. Die Welt würde sich nicht entrüsten.
Das Böse hat mit der Leichtigkeit eines Augenzwinkerns gesiegt. Wie immer. Woher nahmst du deine Naivität, dagegen halten zu wollen? War es dir so wichtig, die Wahrheit auszusprechen, auch wenn sie morgen bereits verdreht und längst vergessen war?
Wie kamst du an diesen Punkt in deinem Leben? Ich glaube, ich betrachte immer wieder dein Bild, weil du - entgegen aller Realität - von der Hoffnung gelebt hast. Von der Hoffnung, dass Ohnmacht mehr ausrichtet als Macht, Wahrheit mehr als verkleidete Lüge, klare Worte mehr als das Getöse der Welt.
Aber das stimmt nicht. Und es wird nie eintreten. Deine Hoffnung. Sie wurde ermordet. Ohne Aufsehen und große Anstrengung. Gleich einem Jesus, saft- und kraftlos am Kreuz, der das Volk seiner Besatzungsmacht und seinem Elend weiter überlässt. Es hat sich nichts geändert seit damals. Das Böse siegt - immer -.
Ich weiß es. Aus eigener Erfahrung. Damals, als ich davon überzeugt war, die Welt verändern und zum Guten bewegen zu können. Und es mich meinen Job kostete, meinen Lebenswillen, meine Freunde, die mich verließen. Nie mehr. Nein, nie mehr. Es lohnt sich nicht, sich für andere einzusetzen. Es vernichtet einen selbst. Die Erde brennt aus und nichts Fruchtbares wächst darauf.
Könntest du doch noch einmal neu anfangen, Anna. Ich würde dir raten, einen Roman über Tschetschenien zu schreiben, eine Liebesgeschichte darin einzuflechten und einen guten Literaturagenten dafür zu beauftragen. Es könnte ein Bestseller werden. Die Welt würde beginnen, sich für Tschetschenien zu interessieren. Ein Land, dessen Namen es vorher noch nicht einmal schreiben konnte. Tschetschenische Bettwäsche, tschetschenische Kugelschreiber. Was willst du mehr, Anna?
Du könntest einen blog im Internet einrichten und immer mittwochs von deinem Zahnputzverhalten in Moskau erzählen. Vielleicht nackt, nur leicht mit einer Pelzstola bekleidet. Die Welt würde an deinen Lippen hängen. Und dann, in einem kleinen – aber wirklich nur kleinen – Nebensatz, wenn du unbedingt die Wahrheit sagen müsstest, könntest du von den schrecklichen Folterinstrumenten, wie etwa Zahnbürsten, in Tschetschenien berichten.
Beteilige dich am Getöse der Welt. Manipuliere und lass dich manipulieren. Aber du wirst überleben, Anna. Vielleicht kann die Wahrheit ihren Weg finden, wenn sie in eine Lüge verpackt wird. Sie muss ja nur klitzeklein sein.
Für was entscheidest du dich? Wie willst du leben? Wie willst du schreiben? Ich habe es befürchtet. Wie kannst du an die verändernde Kraft eines Jesus am Kreuz glauben? Damals genauso ohnmächtig wie heute. Wie kannst du daran glauben, dass Macht sich vor der Ohnmacht beugen wird. Nicht muss. Stärke vor Schwäche. Glanz vor Elend. Ich verstehe nicht, warum man heute noch von Jesus spricht und warum ich dein stummes Bild aus dem Papierstapel ziehe mit der kleinen Meldung deines Todes; dein zerknülltes Bild glattstreiche und mich an diesen Artikel setze.
Bereits morgen wird alles vergessen sein.
Deine P.

Die Journalistin Anna Politkowskaja wurde am 7.Oktober 2006 in Moskau vor ihrer Wohnung ermordet. Sie arbeitete zuletzt an einem Bericht für die Zeitung "Nowaja Gazeta" über Folter in Tschtschenien.
Quelle: Zeitschrift Amnesty international 05/2007



© Patricia Kohnle

Letzte Aktualisierung: 23.09.2009 - 12.28 Uhr
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