„Melancholie im September, das ist alles, was mir blieb von dir.“
( Charles Aznavour)
Was fängt man mit einem verregneten Sonntagnachmittag an?
Ich beschloss, das Schloss von Nantes zu besuchen und mich auf die Geschichte dieses Landstriches einzulassen.
Die senfgelben Türme ragten majestätisch in den wolkenverhangenen Himmel. Sie stimmten mich ein in das 15. Jahrhundert, in eine Zeit, wo es noch Könige und Fürsten gab, aber auch zahllose Bauern, die der Natur ihr täglich Brot mühsam abtrotzten.
Zum Glück gab es nur wenige Museumsbesucher. Pfeile führten uns durch die verwinkelten Räume des Gebäudes wie der Faden einst Ariadne durch das Labyrinth von Knossos.
Plötzlich stand ich vor einer weißen Mauer, auf der riesige Bilder von Anne de Bretagne erschienen.
Sie trug Holzpantinen und war doch eine Fürstin. Zeit ihres Lebens fühlte sie sich ihren bäuerlichen, katholischen Untertanen verbunden. Aber schon früh lernte sie die Bedrohung ihres kleinen Fürstentums durch den König von Frankreich kennen. Was tun? Woher sollte man Verbündete holen? Eine geeignete Heirat schien die Lösung.
Sie wurde dem Prinzen von Wales versprochen, aber ein Mord an dem Prinzen vereitelte die Hochzeit.
In Gedanken versunken stieg ich die Treppen hoch zum nächsten Saal.
Da sah ich dich.
Mit wachem Blick mustertest du die Gegenstände in der Vitrine. Du beugtest dich nicht hinab, sondern hieltst dich kerzengrade. Auf dem Kopf trugst du einen grünen Hut, den eine Pfauenfeder zierte. Eine Königin hätte ihre Krone nicht würdevoller tragen können. Bei jedem anderen hätte ich diese Kopfbedeckung lächerlich gefunden.
Ich näherte mich dir fasziniert, schaute auf deine schmalen weißen Hände, deinen schlanken Hals.
Konnte ich dich ansprechen? Was hätte ich dir sagen sollen? Hättest du mich verstanden?
Verwirrt wandte ich mich einem Ausstellungsstück zu, ohne es wahrzunehmen.
Als ich mich umdrehte, warst du verschwunden.
Traurig setzte ich meinen Rundgang fort.
Bevor Anne Kaiser Maximilian heiraten und feindliche Truppen gegen den französischen König rekrutieren konnte, bestand dieser selbst auf einer Hochzeit mit Anne. Somit hatte das große Königtum Frankreich das kleine Herzogtum Bretagne geschluckt. Nutzte Anne ihre Stellung als Königin? Karl VIII übernahm die Regierung in der Bretagne und setzte Männer seines Vertrauens in die entscheidenden Positionen.
Fünf Kinder schenkte Anne dem König. Keines überlebte.
Vor einem Computer des Museums sah ich dich wieder. Virtuos flogen deine Hände über die Tastatur, um ihr Informationen zu entlocken.
Nantes, die Stadt am Wasser und auf dem Land, nicht Fisch, nicht Fleisch. Dunkle Vergangenheit waberte wie Schwaden über dem Meer. Ehemaliger Sklavenmarkt. Schwarze wurden zu Christen missioniert und doch wie bewegliches Gut behandelt, frei verfügbar und vererbbar.
Wie warst du hierher gekommen? Ich betrachtete deine weiße Bluse mit goldgestickter Borde, versuchte deinen Geruch einzuatmen, nach Salz, nach Vergangenheit.
Ich wollte dich berühren, um festzustellen, ob du nur eine Spiegelung meiner Phantasie warst.
Da wandtest du dich um und deine dunklen Augen ruhten in meinen. Prüfend schautest du mich an. Was willst du Fremder, hier und jetzt?
Ich spürte, wie die Röte mir ins Gesicht schoss.
Anne war 21 Jahre alt, als ihr Ehemann überraschend starb. Nun wurde sie wieder rechtmäßige Herrscherin über die Bretagne. Sie gab den Bretonen die Privilegien zurück, die ihr Mann abgeschafft hatte und heiratete erneut, aber diesmal wirkte sie mit an ihrem Ehevertrag.
Auch wenn sie ein zweites Mal die Frau eines französischen Königs wurde, ließ sie sich nicht mehr die Herrscherrolle über die Bretagne streitig machen.
Ich irrte durch die Säle, treppauf, treppab. Wo sollte ich dich suchen, wo konnte ich dich finden? War meine Chance für immer vertan?
Am Ausgang fragte ich eine Angestellte, ob sie dich gesehen hätte.
Sie zeigte in eine Richtung. In der Ferne sah ich dich.
Die Frau im Rollstuhl.
Trotz meiner langen Beine konnte ich dich nicht mehr einholen. Du verschwandest so plötzlich wie du aufgetaucht warst, wurdest mir zur Vergangenheit, bevor du mir Gegenwart werden konntest. In der Hand hielt ich eine Broschüre über Anne de Bretagne.
Sie starb mit 37 Jahren.
Wie alt mochtest du wohl sein?
Letzte Aktualisierung: 02.09.2009 - 20.36 Uhr Dieser Text enthält 4932 Zeichen.