Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
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September 2009
Es geht um Nichts, um Alles
von Katka Jäger

Rauchschwaden erhoben sich drohend über den sowieso schon unheimlichen Nebel, der sich zwischen den Bergspitzen und den darunter verlaufenden Hügelketten breit gemacht hatte. Auf einem der Bergrücken war der Kleinflieger bruchgelandet. Aus seinen Kopf- und Rumpfteilen züngelten immer noch kleine Flammen empor. Zischen, Knistern und Knarren waren Geräusche, die der Berg sonst nie zu hören bekam. Für den Piloten hatten sie keine Bedeutung mehr. Er war im Cockpit eingeklemmt worden. Sein Körper. Nicht seine Seele.
Lilith stolperte über die kleinen und mittelgroßen Felsen, die der Weg nach unten für sie bereit hielt. Ihre dunklen, mittellangen Haare waren verschwitzt und gaben der jungen Frau ein wildes Aussehen. Immer wieder blieb sie an Zweigen von Bäumen und Sträuchern hängen. Aber sie sah weder den toten Piloten noch die vielen Kratzer auf ihrer Haut, sie fühlte weder Schmerzen noch Kälte. Sie folgte nur ihren Füßen – bergab, manchmal über kleine bereits eingetretene Pfade, ab und zu rutschte sie mit dem Hintern über sandiges Geröll, fing sich mit den Füßen an hervorstehenden Felsen ab, hangelte sich an greifbaren Ästen weiter in die Tiefe, bis es langsam immer grüner wurde, immer sicherer, nicht mehr so steil.
Ich sah diese Szenen deutlich vor mir, als ich mit Lilith in ihrem magischen Teppichzimmer saß. Sie hatte eines ihrer vielen kleinen Abenteuer zum Besten gegeben. Keine Erfindungen. Wahre Geschichten. Auch deshalb war ich stolz auf sie. Und daß ich ihre Freundin sein durfte. „Es war wie im Traum“, flüsterte sie, „... es war alles so unwirklich. Ich weiß bis heute nicht, wie ich es geschafft habe, den nächsten Ort zu erreichen. Ich weiß nur eines, da war eine einzigartige Macht um mich.“ Ich nippte an einer Schale Jasmintee. „Ja“, fügte ich hinzu, „eine starke Macht, die dich beschützt hat. Vielleicht die Seele des Piloten?“
Lilith schwieg. Wir begannen, eine Patience zu legen. Ein Kartenspiel, das schon unsere Großmütter praktiziert hatten. Um Ruhe zu finden. Zu spielen, um nicht gewinnen zu müssen. Zu spielen, um nicht zu verlieren. Es geht um Nichts, es geht um Alles.
Nebenbei lief eine DVD-Disc von „Charmed“. „Der Auserwählte“, eine Folge, in der eine böse Hexe zwei Bergsteiger schrumpfen läßt. Die böse Hexe wie Goliath. Die zwei Männer wie David.
Lilith scheint meine Gedanken lesen zu können. „David hatte eine Chance gegen Goliath. Das haben die zwei Winzlinge jetzt nicht gegenüber der Riesenhexe.“ Tatsächlich sammelt das böse Riesenweib die beiden Zwerge mit einer Hand auf und verfüttert sie an eine Riesenschlange. „Du



hast Recht“, grinse ich, „aber Du hast die Folge schon mal gesehn, oder?“ Lilith grinst auch, und legt eine weitere Patiencefolge. Karten in Reihe. Filmbilder in Reihe. Gesetze in Reihe. Groß und klein, stark und schwach, magisch und normal, gut und böse, weiße und schwarze Hexen, David und Goliath. Gedanken wie Musiknoten. Seite für Seite. Ton für Ton. Der Unterschied liegt in der Bedeutung, die allem zugeschrieben wird. Der Unterschied liegt im Auflegen einer Karte, der Art des Auflegens. „Das Spielen gehört zum Leben!“, bekräftigt Lilith und schenkt wie nebenbei Tee nach. Wie nebenbei das Flackern von Kerzenlichtern, der Geruch von Räucherstäbchen, der Klang der Charmed-Folge.
Darin der Kampf des magisch ungeübten „Auserwählten“ gegen die magisch erfahrene böse Hexe um einen Zauberstab. Lilith und ich ballen kurz die Fäuste. Die Faust der Meisterin, die Faust der Schülerin. „Jaaaa!“, jubeln wir beide, als es nun doch ums Gewinnen geht. Die Goliathfrau kann den Mut des jungen Zauberlehrlings kaum begreifen. David gewinnt gegen Goliath. Zumindest im Film. In der Wirklichkeit ist das nicht immer so. Das wissen wir beide. Lilith ist die Leiterin der Frauenabteilung im Honbu-Dojo. Ich bin ihre Schülerin. Jetzt sitzen wir da, trinken Tee und legen Karten. Liliths getigerte Katzen haben es sich auf den im Zimmer verteilten Kissen bequem gemacht. Sie schauen uns zu und doch nicht. Ich betrachte Liliths Gesicht. Sie hat ein scharfkantiges Gesicht, tiefdunkle Augen und einen leichten Schmollmund. Irgendwann muß ich sie zeichnen. Lilith lächelt. „Wenn ich mehr Zeit habe, steh ich Dir gern Modell“, sagt sie. Dann sieht sie mich an. Das überrascht mich. Die Art, wie sie mich gerade fixiert. Wie eine Schlange ein kleines Mäuslein? Wie Goliath den kleinen David angesehen hat?
Die Katzen rühren sich nicht, das DVD-Bild scheint wie angehalten, genau wie das Leuchten der ringsherum verteilten Kerzen. Alles im Raum erscheint klar und still. Bis sich alle Strukturen bewegen, gerade Linien verbogen sind, Helles dunkel wird, Dunkles zu strahlen beginnt, Farben und Konturen miteinander verschwimmen. Kerzenmagie. Liliths Augen und die meinen bilden einen großen, dunkelglitzernden See, der von Tiefe, Gefahr, Abenteuer und Mut erzählt.
„Wie weit bist Du?“, flüstert Lilith. Ich weiß, daß sie weiß, wie weit ich bin. Sie will offenbar wissen, wie ich mich selbst einschätze. Die Geräusche der Tigerkatze hinter mir verraten, daß sie sich gerade ausgiebig putzt. Lilith legt eine weitere Karte. „Ich bin gut“, überlege ich, „aber noch nicht gut genug, nicht wahr?“. Liliths Blick ist auf eine weitere Charmed-Folge gerichtet. „Es gibt einen Rockertreff auf dem Land, da geht es richtig heiß her“, erzählt sie beiläufig. „Da sitzen welche an der Theke beisammen, trinken Bier – und plötzlich haut einer dem anderen eine rein. Bis alles zu einer einzigen, großen Schlägerei wird. Gutes Training.“
Will ich gerade etwas dazu sagen? Das Geräusch einer sich öffnenden Tür läßt die Magie unseres



Zimmers zerspringen wie ein Spiegel, der auf den Boden fällt. Manfred ist nachhause gekommen. Er hat drei Dan-Grade mehr als Lilith. Lilith hatte erst vor kurzem die Prüfung zum ersten Schwarzgurt im Okinawa-Karate bestanden. Jetzt sind Lilith und ich dennoch wie zwei Kaninchen, die von einer Boa Constricta anvisiert werden. Für Sekunden ist es so. Dann bittet uns Manfred in die Küche. Er ist zugleich ein perfekter Sushi-Meister. Er ist kein Meister in der lauten Kommunikation. Aber manchmal scheint es, daß er strahlender als das Licht ist; ab und zu mag er wohl finsterer als die Dunkelheit sein. Ein Bad der Gefühle. Ich schwimme in einem Meer, das voll ist an Hexen und Dämonen, an Davids und an Goliathen, an sichtbaren und an unsichtbaren Kämpfen.
Jahre später laufe ich durch die Straßen der Stadt, denke an den kleinen Holzmöbelladen, den Lilith zusammen mit ihrer Tante geführt hat, denke an die Honbu-Schule, die es so nicht mehr gibt. Du mußt deine Kämpfe im Inneren austragen. Alles ist der Veränderung unterworfen. Alte Weisheiten, neue Momente, die gelebt oder gestorben werden wollen.
„Und?“ Jasmin sieht mich an, neugierig, eine Antwort erwartend. Wir sitzen im Irish Pub und genießen das Guinness Bier vor uns. „Bist Du mit Lilith zu einem dieser Rockertreffs gefahren?“ Ich lecke am bittersüßen Schaum, das ich am Guinness Bier so liebe. „Die Verlockung war groß, mit ihr dorthin zu fahren“, überlegte ich. „Die Gefahr war auch groß“, lächelte ich, „und ich wollte auch kein Feigling sein ...“ Jasmin hatte katzengrüne Augen und lebte ihre ganz eigene Wildheit aus. Sie gehörte zur aktiven linken Szene, wie sie es nannte. Ihre Freunde kamen aus den Kreisen von Greenpeace, Antifa und Landrockern. Manchmal war sie bei Straßenkämpfen dabei. Sie war Maus und Katze, David und Goliath, sanft und hart. „Ich spürte innerlich, daß ich noch nicht so weit war“, sagte ich fast etwas kleinlaut. Ich hatte Angst, Lilith zu enttäuschen. Die Wahrheit war auch, daß ich nicht sicher war, Lilith im Ernstfall beschützen zu können. War die andere Wahrheit, daß ich Lilith nicht in die Situation bringen wollte, mich zu beschützen? „Ich glaube“, sagte ich mit leiser Stimme, „daß ich einfach Angst hatte. Angst, so groß wie ein Goliath, der dich packt und in den Rachen einer Schlange wirft ...“. Jasmin schwieg, ich schwieg. Es war so leise, als ob das Leben im Pub durch die Handbewegung der Charmedhexe Piper angehalten worden wäre. Es war so, als ob David und Goliath gerade den Raum betreten hatten, sich gegenüberstanden und warteten.
Bis ich das Bierglas nahm und mit Jasmin anstieß. Mit dem dumpfen Klang der Gläser füllte sich das Lokal wieder mit Leben. „Was machst Du heute Abend?“, fragte Jasmin. Kurz tauchte ich in den See ihrer grünen Augen ein. Dann ist es so, als ob ich mit mir selbst rede. „Ich werde Kerzen und Räucherstäbchen anzünden. Und Karten legen...“.

Letzte Aktualisierung: 23.09.2009 - 00.35 Uhr
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