'paar Schoten - Geschichten aus'm Pott
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Das Ruhrgebiet ist etwas besonderes, weil zwischen Dortmund und Duisburg, zwischen Marl und Witten ganz besondere Menschen leben. Wir haben diesem Geist nachgespürt.
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September 2009
Gerüchte
von Robert Poleschny

„Ich dachte schon, du bist tot!“,

sagte meine kleine Schwester gelangweilt und zog ihren bunt gefärbten Schopf aus dem Türspalt. Kurz darauf knallte die Wohnungstür. Ich war allein.
Ein nervenzerreißender Lärm hing in der Luft.
Mein Wecker Modell Bootcamp war dabei, akustische Bomben in mein Zimmer abzuwerfen, während die Stimme des Colonels aus den Boxen dröhnte.

„Bewege endlich deinen verschissenen fetten Arsch aus deinem Bett, oder ich werde dich dem Feind zum Fraß vorwerfen, du elender scheißefressender Wurm!“

Ich brauchte ein paar Sekunden, ehe ich begriff, wer mir da den Marsch blies und dass dessen Argumentation, endlich aufzustehen, schon extrem weit fortgeschritten war.
Laut Gebrauchsanweisung setzen Bombardierungen und Fäkalausdrücke des Colonels erst bei der „Koma-Patient-Stufe“ ein.
Langsam kam mein Gehirn in Fahrt und ich fing an, meinen geistigen Zauberwürfel zu ordnen. Dann sah ich auf die Uhr.
Das Ziffernblatt verriet mir, dass heute Montag, der 20. August, 7:37 Uhr war.
Mein erster Schultag nach den Ferien würde in dreiundzwanzig Minuten beginnen. Ich riss die Augen auf und versuchte, nicht in Panik zu geraten. Vorsichtig überlegte ich, mit welchem Fach ich rechnen musste.
Meine Erinnerung ließ mich zurück in mein Kissen sinken.
Die Besprechung für die Schülerzeitung stand an.
Ich schob mich aus meinem Bett, beendete den 3. Weltkrieg in meinem Zimmer und marschierte ins Bad. Mehr als Katzenwäsche war nicht drin. Da sich jeder, einschließlich mir, die besten Interviews unter den Nagel reißen wollte, wäre ein Zuspätkommen unverzeihlich gewesen.
Nachdem ich meine Zähne geputzt hatte und in meine Klamotten geschlüpft war, schnappte ich mir meine Tasche und kippte mir auf dem Weg zur Wohnungstür kalten Kaffee in den Rachen.
Dann sprang ich in mein Auto und fuhr im Affentempo los.
Noch rechtzeitig in der Schule angekommen, erwartete mich Mike.

„Hast du schon das Neueste gehört?“

Ich schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen, um Mike ins Gedächtnis zu rufen, dass ich vor einer halben Minute noch nicht da war und somit nichts wissen konnte.
Mike war dermaßen aufgeregt, dass er mein Mienenspiel nicht beachtete.

„Der Neue auf unserer Schule ist ein Ex-Knacki!“

Dabei schaute er mich mit verschränkten Armen und einem Lebkuchenpferdchengrinsen an. Ich gönnte ihm den „Neuigkeit des Tages“-Triumph.
Als ich mir am Getränkeautomaten einen Kaffee holte, fragte ich nach.

„Ja und? Was ist daran so besonders?“

Ich schien genau ins Schwarze getroffen zu haben, da die Weihnachtsgebäckvisage plötzlich verflogen war. Mike schaute verlegen zu Boden, während er mit dem Fuß eine imaginäre Zigarette auszutreten versuchte.

„Tja ... ich habe mich für dich starkgemacht und verhandelt, damit du ... den Neuen interviewen darfst.“

Ich nahm gerade einen Schluck und prustete den gesamten Inhalt meines Mundes gegen den Automaten. Es ärgerte mich, dass nicht Mikes Gesicht unter der Kaffeefontäne gelitten hatte.

„Was hast du gemacht? Sag mal, bist du jetzt völlig übergeschnappt?
Sehe ich aus, als könnte ich nicht selbst entscheiden, einen Job anzunehmen, der mehr als lebensmüde ist?“

Ich sah Mike entsetzt an, da ich es nicht fassen konnte.

„Und was heißt verhandelt? Wie viele wollten überhaupt dieses ‚Interview mit einem Psycho’ machen? Ich für meinen Teil hätte liebend gern darauf verzichtet!“

Ein ungutes Gefühl beschlich mich, da Mike ganz unruhig wurde und anfing, fürchterlich mit den Augen zu blinzeln. Eine Marotte, die immer dann zum Tragen kam, wenn er totalen Mist gebaut hatte.

„Um ehrlich zu sein. Niemand.“

Das war die Höhe.

„Niemand? Na toll. Also, das kommt nicht infrage. Du kümmerst dich am besten gleich darum. Die ganze Sache wird rückgängig gemacht, klar?“

Leider beeindruckte meine Ansage Mike nicht im Geringsten.

„Mensch, überleg mal. Wenn du seine Geschichte bringst, hat die Schule einen neuen Helden. Jeder wird dich für deinen Mut bewundern. Und das mit dem Schulter-Tick ...“

Er hielt inne, um zu sehen, wie ich reagiere. Dieser Mistkerl kannte mich zu gut. Er wusste, dass ich heiß auf gute Storys war. Ich fühlte mich wie ein Fisch an der Angel.

„Was zum Teufel meinst du mit Schulter-Tick?“

In diesem Moment biss ich mir auf die Zunge. Zu spät. Mike grinste und ein verbaler Wasserfall sprudelte aus ihm heraus.

„Hör zu! Es geht das Gerücht um, dass Goliath, eigentlich heißt er Kevin, schon mehrere Dutzend zu Brei geschlagen hat, nur weil sie ihn an der Schulter berührt hatten. Und das ist noch nicht alles ...

„Wie nennt man ihn? Goliath? Sag mal, wie beschränkt muss man sein? Das reicht!“

„Wieso? Wie meinst du das?“

„Er Goliath! Ich David! Capice?“

Mikes Augen begannen zu leuchten.
Kopfschüttelnd drehte ich mich um und bewegte mich in Richtung Klo. Schließlich war ich an diesem Morgen noch nicht dazu gekommen und der Kaffee tat sein Übriges.

„Wie konnte ich das nur übersehen? Das ist genial! Wenn das kein Zeichen ist“,

rief mir Mike hinterher.
Ich stieß die Toilettentür auf, ging hinein und stolperte, wie fast täglich, über eine kaputte Stelle im Boden. Fluchend, wann dieser Scheiß endlich repariert werden würde, ging ich ans Pissoir. Ich schloss die Augen und genoss die Erleichterung.
Kurz darauf hörte ich die Tür erneut aufgehen. Jemand kam mit schweren Schritten auf mich zu und stellte sich links von mir ans Becken. Vorsichtig lugte ich hinüber. Ein Schreck durchfuhr mich, als ich sah, wer da neben mir pinkelte. Da mir dieses Gesicht völlig fremd war, konnte es sich nur um Goliath handeln. In diesem Moment war mir klar, wie er zu seinem Namen kam.
Ich weiß nicht, was mich geritten hat. Vielleicht doch die Aussicht auf ein kleines Stückchen Ruhm oder nur der komplette Wahnsinn. Jedenfalls hatte ich nichts Besseres zu tun, als diesen Typen anzuquatschen.

„Hi, ich bin David.“

Ich versuchte krampfhaft, meine rechte Hand herüberzureichen, während meine linke noch mit Abschütteln beschäftigt war. Er schaute weiter geradeaus auf die Fliesen vor sich. Dann fragte er:

„Bist du schwul?“

Seine durchdringende, tiefe Stimme jagte mir einen Schauer über den Rücken.
Ich zog schnell meine Hand zurück. Damit hatte ich nicht gerechnet. Anstatt an diesem Punkt die Notbremse zu ziehen, war das Einzige, woran ich zog, mein Reißverschluss.

„Nein! Nein, ich bin doch nicht schwul. Ich wollte dich nur fragen, ob ich eine Story über dich bringen kann. Für die Schülerzeitung, weißt du?“

Er drehte sich zu mir um, schloss seine Hose und schaute mich ohne seine Miene zu verziehen mehrere Sekunden lang an.

„Schreib deine Geschichte. Aber schreibe nicht, dass ich ein Loser bin und nichts auf die Reihe bekomme.“

In diesem Moment fühlte ich mich wie Alice im Wunderland, nachdem sie den Pilz aß. Ich hatte das Gefühl zu schrumpfen.

„Ach, weißt du was“,

versuchte ich einzulenken,

„am besten, wir vergessen die ganze Sache. Ich schreibe keine Story über dich und jeder ist zufrieden. Also nichts für ungut.“

Dabei hob ich meine Hand und schwang sie freundschaftlich in Richtung seiner Schulter. Als mir bewusst wurde, was ich da tat, geschah alles in Zeitlupe. Ich befahl meiner Hand anzuhalten, aber Sie gehorchte mir nicht. Mit einem lauten Knall landete sie auf der Lederjacke meines Gegenübers.
Goliath, alias Kevin, alias „Ich schlag dich zu Brei“ spitzte seinen Mund, während sich seine Augen zu kleinen Schlitzen verformten. Dann drehte er seinen Kopf in die Richtung meiner Hand, starrte sie eine Weile an, um sie schließlich mit seiner Pranke angewidert herunterzuschieben, als wäre sie Ungeziefer.
Er packte mich am Kragen und hob mich ein paar Zentimeter in die Höhe. Sein Gesicht war direkt vor meinem. Ich konnte seinen Atem schmecken.

„Wir sehen uns heute nach der Schule. Wenn du fliehst, finde ich dich.“

Damit ließ er mich auf den Boden fallen und ging.
Ich fing an, zu hyperventilieren und spürte, wie mein Kreislauf ins Bodenlose absackte.
Bevor mir die Sinne schwanden hörte ich Goliath stolpern, gefolgt von einem „SCHEISSE“ und einem Krachen, das einem Polterabend würdig war.
Als ich aus meiner Ohnmacht erwachte, umringten mich mehrere Gesichter. Ich richtete mich auf, zupfte mir die Sachen zurecht und schaute mich um.
Goliath wurde mit blutverschmierter Fratze von ein paar Lehrern im Polizeigriff abgeführt, während er mich bitterböse fixierte. Hinter mir ertönte Mikes Stimme.

„Wow, David. Was bist du für ein Tier.“

Dabei musterte er mich von oben bis unten und pfiff bewundernd.

„Als ich sah, dass Goliath nach dir aufs Klo ging, bin ich euch heimlich gefolgt. Ich ahnte nichts Gutes. Gerade, als ich den Kopf zur Tür rein steckte, hingst du in der Luft. Ich rannte wie ein Irrer los, um Hilfe zu holen.“

Noch ein bisschen benommen schaute ich Mike fragend an.

„Und was ist danach passiert?“

Mike schlug mir lachend auf meine Schulter und zuckte scherzhaft vor mir zurück.

„Du hast dem Typen gehörig die Schnauze poliert. Schau ihn dir doch an!“

Ich blickte ein weiteres Mal in Richtung der Tür, aber Goliath war nicht mehr zu sehen. Nur ein zertrümmertes Waschbecken lag großzügig auf dem Boden verteilt.

„Na, der wird gleich zurück in den Knast wandern. Lange hat er es ja nicht hier ausgehalten“,

meinte Mike mit einem diabolischen Grinsen.

„Jetzt bist du wohl der Held des Tages!“

Irgendwie hatte ich ein schlechtes Gewissen, aber nur ganz kurz. Der Geschmack des Erfolges war einfach zu köstlich.

Letzte Aktualisierung: 26.09.2009 - 13.58 Uhr
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