Das alte Buch Mamsell
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September 2009
Unschuldig
von Gisela Reuter

Ich bin unschuldig. Ehrlich. Ich habe nichts getan.
Meine Stirn ist feucht und meine Hände auch. Menschen laufen aufgeregt herum und schubsen mich zur Seite. Ein dritter Polizeiwagen kommt mit Blaulicht auf den Hof gefahren. Ein Mannschaftswagen. Eine Hundertschaft springt geschäftig heraus und nimmt sofort die Verfolgung auf. Meine Adrenalinausschüttung ist grenzwertig.

Ich wollte doch nur schauen, was in dem Laster ist. Ich bin unschuldig. Die Türe ist quasi von alleine aufgegangen. Ich schwöre. Wenn überhaupt irgendjemand Schuld hat, dann ist es mein Navi. Erst hat es mich verkehrt geleitet und dann gar nichts mehr gesagt. Dann musste ich zur Toilette und da war diese riesige Einfahrt mit diesem noch riesigeren Gebäude. Ein Laster fuhr hinein. Ich fuhr hoffnungsvoll hinterher.
„Mädchen, was willst du denn hier?“ Der wohlbeleibte Fahrer kletterte ungelenk aus dem Führerhaus, wedelte wichtigtuerisch mit irgendwelchen Papieren und roch nach Schweiß.
„Kann ich mal zur Toilette?“
Er grinste breit, deutete auf eine Stahltür und schob sich mitsamt seiner Schweißwolke an mir vorbei und betrat den riesigen Eingang.
Und dann hörte ich ein leises Quieken. Es kam aus dem Laster. Ich ging näher ran und sah Schlitze an der Seite, durch die sich kleine rosa Schweinenäschen schoben. Ein Schweinetransporter. Ferkelchen. Spanferkel. Schlachthof. Ich schluckte. Diese armen unschuldigen Tierchen. Das ist gemein. Und dann ging ich, wie durch eine fremde Kraft gesteuert, hinter den Laster und sah den silbernen Riegel - und auf einmal war er auf. Dann musste ich dringend die Toilette aufsuchen.

Mit weichen Knien und angehaltenem Atem beobachte ich das Treiben. Hunderte kleine Ferkelchen rennen hektisch mit ihren kurzen Beinchen über den Hof und durch die Einfahrt auf die Landstraße. Die Polizisten stürzen hinterher.
Die Ferkel schlagen Haken und quieken dabei herzerweichend.
Autofahrer hupen.
Bremsen quietschen.
„Schließt doch endlich das Tor, ihr Idioten“, brüllt ein Mann mit blutverschmiertem weißen Kittel.
Ein Auto kommt auf mich zu.
„Aus dem Weg!“, brüllt jemand.
Erschrocken springe ich zur Seite.
Zu spät.
Der Wagen muss ausweichen und schliddert.
Und bremst.
Und rutscht gegen gestapelte Fässer.
Lieber Gott, lass sie leer sein.

Als das erste Fass zu Boden knallt, weiß ich, dass der liebe Gott mein Gebet nicht erhört hat.
„Scheiße!“ schreit der Fahrer. Er springt aus dem Auto.
Eines der Ferkelchen kommt verängstigt angewetzt und schliddert vor meinen Füßen durch die glibberige Masse, die sich bedächtig auf dem Boden ausbreitet. Es fällt, wälzt sich kurz, steht auf, schüttelt sich und rutscht verunsichert weiter. Und fällt wieder hin. Armes Ferkelchen. Das hab ich nicht gewollt.

Vorsichtig schaue ich mich um. Die Männer rennen immer noch schreiend und aufgeregt hinter den entflohenen Schweinchen her. Manche fangen eins ein und bringen das aufgescheuchte, vor Angst zitternde Tierchen in das gewaltige Gebäude. Es bricht mir das Herz.
Ich gehe in die Hocke.
„Wutz wutz,“ rufe ich leise, „komm her, ich tu dir nichts.“ Das Ferkel scheint taub zu sein und rutscht weiter und steckt seinen Rüssel in die Glibbermasse. Sie riecht und sieht aus, wie verquirlte Innereien mit Schweinepipi. Ich würge.
Hätte ich mir bloß kein Navi gekauft. Wäre ich heute bloß nicht losgefahren.

In meiner Handtasche finde ich einen Müsliriegel.
Das Ferkelchen kommt langsam auf mich zu, schnuppert und schaut mich erwartungsvoll an. Ich schaue zurück. Und diese Blicke beschließen unsere wundersame Freundschaft. Mir wird warm ums Herz. Oh, du süßes kleines Schweinchen, ich werde dich retten.
Ich strecke meine Hand mit dem Müsliriegel aus und es kommt näher.
Ich will es greifen und – flutsch! –
„Was tun Sie denn hier?“, dröhnt eine laute ungehaltene Männerstimme hinter mir. Ich zucke zusammen. Ferkelchen auch. Es ist der stinkende Fahrer.
„Ich helfe, die Tiere einzufangen!“, herrsche ich ihn beherzt an. „Los! Steh`n Sie nicht rum. Es gibt genug zu tun!“
So schnell es seine Behäbigkeit zulässt, bewegt er sich Richtung Gebäude.
„So, die Luft ist rein“, flüstere ich, „aber man kann dich ja gar nicht anfassen, du bist so glitschig“. Bittend schaut Ferkelchen mich an und ich schaue mich suchend um.
Eine Decke wäre gut. Natürlich gibt es auf Schlachthöfen keine Decken. Meine Jacke? Nein, Ferkelchen, bei aller Liebe. Dieser Gestank. Und die verquirlten Innereien. Ferkelchen steht vor mir und schaut mir in die Augen. Und ich ziehe meine Jacke aus, halte die Luft an und versuche den Brechreiz zu unterdrücken.

Drei Schlachter, die plötzlich neben mir stehen, scheuche ich mit einem hektischen: „Schnell, da hinten versteckt sich eins unter dem Wagen!“ zu dem Tiertransporter, und renne mit dem Knäuel unter meiner Jacke zu meinem Auto.

Ein Polizist bewacht das geschlossene Tor. Au Backe! Ferkelchen, duck dich und sei leise, wir müssen da irgendwie durch.
„Schnell, lassen Sie mich raus“, rufe ich betont wichtig, „der Chef hat gesagt, ich soll die Straße absuchen.“
Der Polizist nickt und scheint sich zu freuen, dass ich die Anweisung des Chefs so übereifrig befolge. Das Tor öffnet sich. Ich gebe Gas und fahre um mein Leben.

Ferkelchen, ich glaube, da haben wir außerordentlich Schwein gehabt!




© Gisela Reuter

Letzte Aktualisierung: 19.09.2009 - 23.27 Uhr
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