Der himmelblaue Schmengeling
Der himmelblaue Schmengeling
Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
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September 2009
Am Morgen
von Marie Brand

Der Tag war noch jung. Genau wie sie. Gerade erst suchte sich der erste Strahl der Sonne seinen Weg über die Erdkrümmung. Noch bevor er die Blumen im Vorgarten küssen konnte, erreichte er das Fenster im zweiten Stock, hinter dem sie sich einen Logenplatz ausgesucht hatte. Sie machte es sich bequem, die Härchen an ihren Beinen richteten sich auf, und sie strich ein ums andere Mal mit zärtlicher Hingabe darüber. Der Sonnenstrahl zog jetzt seine Brüder nach sich. Von ihrem Platz am Fenster konnte sie rundum beobachten, wie die Brüder das Zimmer abtasteten, dabei glitten sie auch über sie hinweg. Sie streckte sich ein paar Mal ausgiebig und genoss die Wärme, die sich in ihrem Innern fortsetzte. Eine Sehnsucht stieg in ihr auf, auf den Strahlen der Sonne entgegen zu kommen. Noch einen winzigen Schritt tastete sie sich vor.
Das Geräusch eines aufziehenden Bebens schickte seine Wellen bis zum Fenster, wie es schien. Es steigerte sich innerhalb kürzester Zeit zu einem Inferno mit vielen einzelnen Eruptionen. Die Wärme spürte sie nicht mehr, ihre Haare sträubten sich, und ihre Beine fingen an zu zittern. Sie versuchte, ihren Kopf zu halten, ihn zu schützen vor der Wucht. Ihre Welt wirbelte durcheinander. Nichts konnte sie tun.
So schnell, wie es gekommen war, verebbte es und sandte als Nachhall nur ein langgezogenes Pfeifen durch den Raum bis zu ihr ans Fenster. Langsam zog sie den Schutz von ihrem Kopf ab und wagte, sich umzusehen. Das Zimmer sah nicht anders aus als zuvor, alles war an seinem Platz. Fast glich ihr das Erlebte einem Traum. Doch während sie noch versuchte, die Kontrolle wiederzugewinnen, nahm sie weitere Geräusche war. Vorsichtig bewegte sie sich ein Stück in die Richtung und versuchte, auch mit ihren großen Augen etwas wahrzunehmen. Außer einem Gebirge von Kissen und Decken vermochte sie allerdings nichts zu sehen. Zwar steckte ihr der Schreck noch in den Gliedern, fühlten sich ihre Beine noch zittrig an, doch die Neugierde siegte. Sie streckte sich und erhob sich – erst ein wenig auf der Stelle, dann bewegte sie sich vorwärts, möglichst den gesamten Raum im Auge behaltend und vor allem das Kissengebirge vor ihr.
Als sie die Ausläufer erreichte, spürte sie Luftverwirbelungen und blickte in einen offenen Abgrund, aus dem faulige Dämpfe emporstiegen und ihre empfindlichen Riechorgane störten. Gleich neben diesem Krater waren zwei Höhlen. Tief hinein konnte sie nicht sehen, dort war es dunkel. Ihre Bewegungen waren zwar noch nicht so harmonisch, wie sie es um diese Zeit hätten sein können, aber sie traute sich eine Landung neben den Höhlen zu. Mit einem kaum wahrnehmbaren Geräusch ließ sie sich dort nieder, um die Umgebung besser erforschen zu können. Ihre Sinne waren sämtlich sehr angespannt. Das war auch nötig, denn kaum hatte sie ein paar Schritte gewagt, als aus dem Nichts ein Schatten auftauchte, der direkt nach ihr schlug. Aber sie war schneller und erhob sich triumphierend wieder in die Luft, von der aus sie den besseren Überblick hatte.
Die ganze Landschaft bewegte sich, der Krater schloss sich von einem Augenblick zum nächsten. Dafür öffneten sich oberhalb der Höhlen glänzende Flächen, die sie sehr faszinierten. So etwas hatte sie noch nicht gesehen. Die Flächen bewegten sich, es waren auch gar keine Flächen, sie waren gekrümmt. In der Mitte ein schwarzer Kreis, drumherum ein wunderschönes Blau mit ein paar Pünktchen. Umschlossen wurde das Ganze von weiß, bevor es an den Rand stieß. Und sie bewegten sich immer gleichzeitig in dieselbe Richtung. In ihre! Sie wusste es nicht genau, aber man konnte diese Gebilde für Augen halten. Augen, die ein paar Mal so groß waren wie sie.
Da sah sie von der Seite auch wieder diesen Schatten auf sich zukommen. Geschickt wich sie aus, auch wenn der Windstoß sie aus der Bahn brachte. Sie schraubte sich etwas höher. Fast amüsierte sie das Spiel. Und von oben sah auch alles nicht mehr so groß aus. Doch dann kam es wieder sehr nah. Dieses Etwas konnte auch fliegen! Nein. So wie sie es sah, endete es immer noch in den Kissenbergen, hatte sich also vom Boden nicht gänzlich erhoben. Sie beschloss, erst einmal den Rückzug anzutreten, und setzte sich kopfüber an die Decke. Das erschien ihr weit genug entfernt.
Es schälte sich derweil aus den Kissen. Neben dem ganzen Körper in immensen Ausdehnungen konnte sie nun vier Beine entdecken. Zwei waren verkümmert, auf zweien stand es. Die Proportionen schienen ihr sämtlich misslungen, die Augen waren sehr klein im Verhältnis zum Körper, Flügel konnte sie gar keine entdecken. Es schien das Interesse an ihr erst einmal verloren zu haben, oder es konnte nicht fliegen, jedenfalls kam es nicht an die Decke oder auch nur in die Nähe. Sie fühlte sich sicher. Jetzt verließ es sogar das Zimmer.
Während sie aus der Ferne Wasser rauschen und weitere undefinierbare Geräusche hörte, ließ sie sich von der Decke herab und betrachtete ihre Umgebung genauer. Der Raum war inzwischen ganz erhellt, die Sonne bereits hochgestiegen. Etwas Neues zog sie in seinen Bann. Wenn sie daran vorbeiflog, konnte sie ein ganzes Zimmer sehen. In ihren Bahnen kam sie immer näher. Da war jemand. Jemand, der ihr irgendwie bekannt vorkam. Er flog auch und blickte immer wieder neugierig herüber. Schließlich stieß sie an etwas. Dort ging es nicht weiter. Sie streckte die Beine aus und landete. Der andere machte es ihr nach. Oder besser, er machte es gleichzeitig. Es fühlte sich kühl an, sie konnte darauf laufen. Sie sah fasziniert auf ihre Füße und sah auch die Füße des anderen. Drei Schritte nach dort, zwei Schritte nach da. Er machte ihr einfach alles nach. Sie käckelte einen hübschen braunen Fleck. Er auch! Sie setzte schnell noch einen zweiten dazu. Er auch! Sie senkte ihren Rüssel nieder und fast küssten sie sich. Da zuckte sie doch zurück und verharrte eine für sie endlose Zeit regungslos.
Zwar hatte sie keinen Begriff für dieses Objekt, aber ihr schien es jetzt doch so, als könnte sie sich selbst sehen und das ganze Zimmer. Einen weiteren Moment später war ihr das zu langweilig, und sie flog wieder weiter, diesmal aus der vertrauten Umgebung heraus. Es war ihr sicherer, nach dem Wesen ohne Flügel zu schauen, denn die Wassergeräusche waren nicht mehr zu hören. Sie schwirrte durch mehrere Zimmer auf der Suche nach ihm.
Sie fand es schließlich in einem hellen Raum, in dem es angenehm duftete. Auf einmal spürte sie Hunger und entdeckte eine dampfende Schale mit einer braunen Flüssigkeit und eine flache Schale mit ganz betörendem süßlichem Duft. Schnell flog sie eine Schleife, um zu sehen, wo das Wesen sich gerade aufhielt. Es war weit genug entfernt. Dann landete sie direkt auf der roten Masse und steckte ihren kleinen Rüssel hinein. Es war herrlich! So etwas Gutes hatte sie noch nicht gegessen. Vor Freude stapfte sie durch die ganze Fläche, die Masse klebte an ihren Beinen, hin und wieder schleckte sie sie ab. Das reinste Schlaraffenland.
Beinah hätte sie den Schatten nicht gesehen. Im letzten Moment erhob sie sich ein wenig schwerfällig und flog schleunigst unter die rettende Decke. Es schlug nach ihr, gab extrem laute Geräusche von sich, in denen ihr leises Summen unterging. Dann stopfte es die köstliche Masse in seinen Krater. Sie erkannte, dass dieser Krater der Nahrungsaufnahme diente. Mit großem Bedauern sah sie ihr Frühstück verschwinden, weggespült mit der braunen Flüssigkeit. Sie schleckte derweil ihre Beine ab und fühlte sich dennoch gesättigt. Mehr wäre Völlerei gewesen. Sie war jetzt schon reichlich träge.
Das Wesen räumte alles weg, ertränkte auch die letzten Reste in Wasser. Das konnte sie kaum mit ansehen. Da wandte sie sich lieber wieder einem Fenster zu. Draußen sah sie lebendiges Grün in den verschiedensten Nuancen. Bunte Tupfer dazwischen setzten lustige Akzente. Die Sonne sandte ihre Strahlen jetzt steiler auf die Erde. Sie wollte die Wärme fühlen. Einige Schritte tänzelte sie auf dem Fenster hin und her, rauf und runter. Aber es gab kein Loch, durch das sie in diese wunderbare Welt da draußen gelangen konnte. Sie flog etwas weg, wendete und warf sich mit Wucht an die Scheibe. Es war kein Durchkommen.
Wieder war sie so beschäftigt, dass sie den Schatten erst in letzter Sekunde wahrnahm. Und diesmal blieb es nicht bei dem einen Versuch. Es schlug mit beiden verkümmerten Beinen nach ihr; sie flog an die Decke in der Gewissheit, hier verschnaufen zu können, doch die Ruhe war trügerisch. Es hatte etwas gefunden, das seine Beine verlängerte. Nun reichte es bis zur Decke. Eine Jagd begann, die ihr jetzt schon auf den Magen schlug. Dazu machte es eine Reihe von Geräuschen, die offenbar nicht freundlich waren. Ihr Magen rebellierte, ihr Kopf dröhnte, ihre Augen kamen nicht zur Ruhe. Sie wich aus, strauchelte, fing sich, versuchte durch die Scheibe in die Arme der Sonne zu fliegen. Es gelang ihr nicht.
Wütend machte sie kehrt, flog ihrerseits auf es zu, versuchte zu provozieren. Sie schlug Kapriolen, attackierte es an seinen Augen. Da – hatte es sich selbst geschlagen. Sie triumphierte. Aber nur kurz, dann ging die Jagd weiter. Es ließ nicht locker. Der Kampf verlagerte sich. Von der Scheibe weg floh sie, aber immer wieder drehte sie sich um, stieß wieder gegen die Augen des anderen. Sie war immer noch schnell, war bald hier, bald dort. Es schien Mühe zu haben, sie immer im Blick zu behalten. Das verschaffte ihr kurze Pausen, in denen sie sich neu in Position brachte, immer näher zu dem anderen Zimmer. Es schlug unaufhörlich, aber, wie es schien, inzwischen unkontrolliert um sich. Sie flog ein Stück weiter, sah sich um, und konnte gerade noch bemerken, wie es über die drei Stufen zwischen den Zimmern fiel. Im nächsten Moment lag es lang ausgestreckt auf dem Boden.
Sie hüpfte vor Freude in der Luft und drehte einige Kreise hoch über dem Wesen. Dabei verspürte sie einen Luftzug. Neugierig folgte sie ihm und fühlte die Wärme der Sonne. Sie flog, ohne sich umzusehen – hinaus in die farbenfrohe Welt, hinaus in die Freiheit.

Letzte Aktualisierung: 21.09.2009 - 10.13 Uhr
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