'paar Schoten - Geschichten aus'm Pott
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Das Ruhrgebiet ist etwas besonderes, weil zwischen Dortmund und Duisburg, zwischen Marl und Witten ganz besondere Menschen leben. Wir haben diesem Geist nachgespürt.
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Oktober 2009
Busenwunder
von Manuela Schulz

Der kleine dünne Mann lag reglos in seinem Bett und starrte an die Zimmerdecke. Er wartete auf den Schlaf. Der dünne müde Mann gab sich alle Mühe, an nichts zu denken. Das Nichts stellte er sich als eine leere, mit milchigem Nebel gefüllte unendliche Weite vor. Da es in dieser Leere nichts zu tun gab und es auch sinnlos war, irgendwo hinzugehen, konnte man genauso gut schlafen. So jedenfalls dachte es sich der müde nervöse Mann. Er lag also im Nebel und wartete auf den Schlaf, als langsam ein einzelner rosafarbiger Busen aus dem Nichts auftauchte. Als der Busen näher kam, entdeckte der nervöse schlaflose Mann, dass er am Ansatz einen fingernagelgroßen Leberfleck hatte und zudem noch wippte, als wolle er ihm zuwinken. Der schlaflose peinlich berührte Mann versuchte, den Busen zu verscheuchen. Dazu kniff er die Augen so stark zusammen, dass er für einen Augenblick nur noch verschwommene Streifen und Pünktchen sah. Aber sobald er die Lider entspannte, tauchte der Busen wieder auf. Der prüde verkniffene Mann wiederholte den Vorgang mehrmals. Dabei stellte er fest, dass die Brust mit jedem Versuch größer wurde und bereits den ganzen Raum über seinem Bett ausfüllte. Der verkniffene unter Platzangst leidende Mann wollte nichts riskieren. Also stand er auf und ging in die Küche, um sich einen Kräutertee zu kochen. Während er auf dem Küchenstuhl saß und auf das Pfeifen des Teekessels wartete, fiel ihm die Kassiererin ein. Als er am späten Nachmittag im Supermarkt Teepackung, Roggenmischbrot und Emmentaler Käsescheiben auf das Band gelegt hatte, war sie kurz aufgestanden und hatte sich über das Band gebeugt, um sich zu überzeugen, dass sein Einkaufswagen leer war. Dabei war sein Blick versehentlich in ihren Ausschnitt geraten und an dem Leberfleck haften geblieben. Ein Melanom! … hatte er sofort gedacht und dass man es schleunigst herausschneiden müsse. Er hätte der Kassiererin die Diagnose gern mitgeteilt, kam aber nicht dazu, weil ein Halbwüchsiger hinter ihm laut „Los bezahl endlich, Busenglotzer!“ gesagt hatte. Ihm war am ganzen Körper der Schweiß ausgebrochen, so dass er den Supermarkt überstürzt verlassen musste.
Der agoraphobische verantwortungsvoll denkende Mann brühte den Tee auf. Dabei kam ihm in den Sinn, wie beleidigend es im Grunde war, dass man ihn beim Einkauf wie einen potentiellen Betrüger behandelte. Er galt im Büro als durch und durch ehrlicher und rechtschaffender Mitarbeiter. Zudem erschien es ihm unverantwortlich, todkranke Menschen mit dem Einscannen von Zigaretten, Bier und Kondompackungen zu beschäftigen. Er beschloss, diesen Supermarkt nie wieder zu betreten. Erfreut über seine konsequente Entscheidung, ging der verantwortungsvolle entschlossene Mann wieder ins Bett und schlief ein.

Als er die Augen öffnete, sah er über sich einen riesigen Bildschirm, der eine durchsichtige Gestalt abbildete. Es dauerte mehrere Minuten, bis er sich selbst erkannte. Er identifizierte sich am Herzschrittmacher und den fünf kirschkerngroßen Gallensteinen. Der entschlossen kranke Mann wollte sich bewegen, stellte aber fest, dass das nicht möglich war. Es blieb ihm nur, sich eine totale Muskellähmung zu diagnostizieren, die noch nicht auf sein Herz übergegriffen hatte, denn er konnte es auf dem Bildschirm schlagen sehen. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass sein Herzschlag keinerlei Abnormitäten aufwies, begann er, seinen Körper nach Unregelmäßigkeiten zu durchsuchen. Er entdeckte an seiner Magenwand eine starke Verdickung. Bei genauerem Hinsehen erwies sie sich als eingewachsener Hornknopf. Der Knopf stammte von der Lederhose seines Vaters. Er hatte ihn als Vierjähriger selbst abgerissen, als er sich an der Hose festhalten wollte, bevor ihn der Faustschlag des Vaters gegen den Esstisch schleuderte. Er hatte den Knopf damals nicht in der Hand behalten können, denn sein Vater wurde sehr böse, wenn man Dinge nahm, die einem nicht gehörten. Der kranke bewegungsunfähige Mann dachte, wie wichtig eine konsequente Erziehung ist, und dass junge Menschen, die in der Öffentlichkeit das Wort „Busenglotzer“ benutzen, unter bedauerlichen Umständen aufwachsen.
Der starr erzogene Mann begann gerade, sich generelle Sorgen um die Jugend zu machen, als mehrere farbige Kugeln heranschwebten. Sie waren so groß wie Gymnastikbälle. Es gab sie in Rot, Gelb und Blau. Sie wiegten sich sanft über ihm und versperrten ihm den Blick auf sich selbst. Der erzogene von sich abgeschnittene Mann fand das Auftreten der Kugeln sehr unhöflich. Er musste kurz an die hagere hektische Frau denken, die häufig zwischen ihm und dem Fernseher nach ihrer Haarspange gesucht und die ihn verlassen hatte, obwohl er ihr nie gesagt hatte, was für eine rücksichtlose Person sie ist. Der von sich getrennte einsame Mann überlegte eine Möglichkeit, den bunten Bällen seine Missbilligung mitzuteilen. Die bewegten sich emsig auf und ab und hin und her, verformten sich zu unterschiedlichsten Gebilden, verschmolzen miteinander, wurden orange, violett oder grün, lösten sich wieder voneinander und nahmen ihre ursprüngliche Farbe an. Der einsame verlassene Mann ärgerte sich über diese Albernheiten, die ihn daran hinderten, sich zu sehen. Plötzlich, wie auf Kommando, gaben die farbigen Formen den Blick auf den Monitor frei. Der verlassene ärgerliche Mann sah, dass er nur noch die Hälfte des Bildschirms einnahm. Die andere Hälfte bildete die Kassiererin ab. Er erkannte sie am Melanom. Zudem hatte sie drei Nägel im rechten Oberschenkel und eine Metallplatte am Becken. Der ärgerliche argwöhnische Mann sah sich in seiner Entscheidung, den Supermarkt nicht mehr zu betreten, bestätigt. Die Metallteile blieben gewiss nicht ohne Einfluss auf den Scanner und womöglich hatte er die letzten Jahre zuviel bezahlt. Dem misstrauischen sparsamen Mann blieb keine Zeit, über die skandalösen Machenschaften der Supermarktkette nachzudenken, denn auf dem Bildschirm sah er, dass an seinem Herz, der Milz, der Leber und am Magen mit dem Hornknopf dünne Fäden klebten. Daran wurden langsam die Organe aus seinem Körper gezogen. Der sparsame auf innere Werte bedachte Mann wandte den Blick vom Monitor und stellte fest, dass sich die bunten Kugeln in eine Art Fadenquallen verwandelt hatten, die ihn auseinandernahmen. Er spürte nichts, aber er konnte es sehen. Er blickte wieder auf den Bildschirm. Das Herz, der Magen mit dem Hornknopf und die Leber lagen jetzt rechts neben ihm. Der Herzschrittmacher und die Milz waren verschwunden. Ein dünner Faden klebte am größten Gallenstein. Der leere herzlose Mann dachte, dass er sowieso vorhatte, die Steine entfernen zu lassen. Doch der Faden glitt ab und bewegte sich auf die Hoden zu. Das veranlasste ihn unwillkürlich, sich der Kassiererin zuzuwenden. Sie trug seinen Herzschrittmacher am linken Wadenmuskel und seine Milz unter der rechten Achselhöhle. Der herzlose steinreiche Mann stellte fest, dass ein Herzschrittmacher an einem Wadenmuskel eine große Verschwendung ist und dass er wegen der Milz auf Schadenersatz klagen muss. Da die Kassiererin die Milz unter dem Arm trug, kam widerrechtliche Benutzung hinzu. Der steinreiche beraubte Mann formulierte im Kopf eine entsprechende Anzeige vor, ließ aber davon ab, als er sah, dass die dünnen Fäden das Herz aus der Kassiererin zogen und in seinen Brustkorb einsetzten. Noch nie in seinem Leben hatte er eines Anderen Herz besessen! Dem beraubten beschenkten Mann wurde schwarz vor Augen.

Der beschenkte schwarz sehende Mann wachte müde und schweißgebadet auf. Er ging ins Bad und dachte beim Duschen, was für dämliches Zeug er manchmal träumte. Den viel zu kleinen großen Zeh mit dem rot lackierten Nagel am linken Fuß entdeckte er beim Abtrocknen, das Melanom beim Rasieren. Es befand sich direkt an seinem Halsansatz. Ihm schoss durch den Kopf, dass er bald sterben würde und was der Bestatter über ihn denken musste, wenn er den roten Fußnagel sah. Der pessimistische inkonsequente Mann zog sich an und hastete zum Supermarkt. Er legte ein Fläschchen Nagellackentferner in seinen Korb, ging zur Kasse und stellte das Fläschchen auf das Band. Als sich die Kassiererin erhob und vornüber beugte, um ihn zu beleidigen, sah er, dass ihr Brustansatz unbefleckt war. Er nahm allen Mut zusammen und beugte sich über den Scanner, um ihren linken Fuß zu sehen. Dabei berührte für den Bruchteil einer Sekunde seine Wange ihren rechten Oberarm. Der inkonsequente neugierige Mann fühlte Wärme. Hitze stieg in ihm auf und er wurde rot. Die Kassiererin lächelte ihn an. Der neugierige erhitzte Mann steckte hastig den Nagellackentferner in die Manteltasche und verließ eilig den Supermarkt.

Der kleine dünne Mann lag reglos in seinem Bett, stellte sich das Nichts vor und wartete. Nach einer Weile tauchte aus dem Nebel die Kassiererin auf. Sie saß auf einem violetten Gymnastikball, trug am linken Fuß eine Skisocke und zog die rechte Schulter etwas nach oben. Sie lächelte ihn an. Nach einer Weile verschwamm das Bild. Der dünne ermüdete Mann wollte nichts riskieren. Also stand er auf und ging in die Küche, um sich einen Espresso zu kochen.

Letzte Aktualisierung: 18.10.2009 - 21.58 Uhr
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