Das humanoide Wesen ist nackt.
Die affenähnliche, behaarte Gestalt erhebt sich,
gestĂĽtzt auf einen Mammutknochen.
Kommt schwankend in den Stand.
Stößt aufgeregte, gutturale Geräusche aus.
Der FuĂź hebt sich langsam,
bewegt sich einen ersten Schritt vor und …
… setzt auf dem hellgrauen Staub des Erdtrabanten auf.
Steckt im Moonboot eines Raumanzugs.
Die kehlig-grunzenden Laute verwandeln sich
im Interkom-Mikro des Ein-Mann-Raumschiffs in die Worte:
„That’s one small step for man, one giant leap for mankind”.
***
Sie standen vor der Glasvitrine des AusstellungsstĂĽcks 70017, Deutsches Museum, MĂĽnchen.
„Was hast du?“
„Jemand beobachtet uns, Thomas.“
„Klar, die Videokameras, was sonst?“
„Nein. Ich empfange Schwingungen, als wollte mir jemand …“
„… etwas sagen? Natürlich. Wieder mal! Du liest zu viel Esoterik. Komm, wir gehen weiter!“
Aber Amber blieb. Versank, den Blick starr auf das Exponat gerichtet, in jenen tranceähnlichen Zustand, den Thomas schon kannte.
*
Nacht. Die Welt nur matt erleuchtet von der Eigenstrahlung der Großen Scheibe. Dieser ständige Begleiter umkreist den Alten Feuerriesen gemeinsam mit ihrer eigenen Heimat seit Äonen. Die Große Scheibe, Ziel von Träumen und Sehnsüchten. Erstaunliches hatten die Seher zusammengetragen: Atmosphäre und unvorstellbar viel Wasser im Vergleich zur Staubwelt. Die Tage und Nächte erheblich kürzer. Nichtätherische Lebensformen, eine davon höher entwickelt als die übrigen. Eines Tages würden sie die Reise wagen und den Kontakt zu den Scheibenbewohnern herstellen. Dachten sie. Aber die Anderen sind ihnen zuvorgekommen. Schweben hier über den Hochländern und Senken und haben ihre Sensoren auf die Staubwelt gerichtet, auf die Welt der Irinen.
Feinstoffliche Lebewesen, Abkömmlinge des ersten Lichts, welche die dritte Sphäre der Staubwelt bewohnen. Seelenhüllen der Ur-Energie. Die geistigen Atome hatten sich zum Bewusstsein der Steine und Mineralien ausgeweitet. Irgendwann diese Stufe verlassen, Strukturen verfeinert, Materiekörper aus Fleisch und Blut und schließlich Astral-Leiber angenommen. Eine Strahlungsform hatte sich auf der vorherigen aufgebaut, bis die geistigen Partikel diese Schwingungsebene schufen, den Zustand der Vollkommenheit. Reine Lichtwesen, die nahezu unsterblich sind, solange der Alte Feuerriese sie mit Lichtphotonen ernährt und ihre Energie mit Feuerwinden speist. Und jeder Irin Wächter der Heiligen Steine, die den Geist eines ersten Evolutionsschrittes bergen.
„Habt keine Furcht!“, lässt sich Dargoth vernehmen. “Verlassen wir uns auf die Seher. Die Fremdlinge stehen auf einer primitiven Evolutionsstufe. Ihre Materie hat sich nur unwesentlich über die des Gesteins erhoben. Sie können uns nicht sehen. Wir werden abwarten und beobachten.“
„Ich möchte sie aber näher kennenlernen! Sofort.“ Das ist Iridian. Allgemeines Entsetzen.
„Nur nicht!“
„Viel zu gefährlich! Wir wissen noch nicht, welchen Schaden diese Materie anrichtet.“
„Zu viel Neugier ist schädlich. Wie schnell bist du kontaminiert!“
„Und bedenke …“
Ja, es gibt viel zu bedenken. Loron verweist auf ihre eigene überlegene Intelligenz, die sich im Lauf der Zeit schon ein genaues Profil der fremden Wesen machen werde. Sie sei auf vorschnelle Kontaktaufnahme nicht angewiesen. Sandron ergänzt, eine solche könne umgekehrt auch für die Außerstaubweltlichen eine Gefahr bedeuten, denn ihr Organismus sei auf derartige Energiepotentiale nicht vorbereitet. Und Umaniel meint, grundsätzlich auf der bewährten Einmütigkeit bestehen zu müssen, die ein abweichendes Handeln nicht dulde.
„Aber diese Fremden können uns vielleicht bereichern“, hält Iridian dagegen. „Unsere Seher in Ehren, aber was wissen wir wirklich von der Großen Scheibe? Es mag dort noch ein langer Weg bis hin zu unserer letzten Stufe der Freiheit und des Glücks …“
– „und der Liebe. Vergiss die nicht!“, wirft Sandron ein –
„… und natürlich der Liebe sein. Dennoch könnte eine solche Welt uns etwas zu bieten haben. Etwas Neues, Wertvolles. Außerdem könnten wir etwas von unserem Reichtum weitergeben. Nur ein wenig. Aber wir sollten nicht zögern. Wer weiß, wann sich eine solche Gelegenheit noch einmal bietet!“
„Teurer Iridian“ – wieder Dargoth – , „wir alle lieben und achten dich, das weißt du. Aber respektiere den Mehrheitswillen. Kein Kontakt! Noch nicht! Niemand weiß, welche Folgen das haben kann, wenn wir voreilig …“
In diesem Augenblick löst sich hoch über ihnen ein kleines von dem großen Objekt und nähert sich der Stauboberfläche. Dort ist die Versammlung jäh beendet. Man bildet stumm einen großen, unsichtbaren Kreis um den aufsetzenden Flugkörper. Staub wirbelt auf. Dann Ruhe. Nichts mehr. Ein seltsames Gefährt steht vor ihnen. Auf drei langen Landefüßen und mehreren kleineren Stützen. Glitzernd und kantig, zusammengesetzt aus vielen geometrischen Mustern und gespickt mit unterschiedlichsten Ausbuchtungen. Die Lichtwesen warten schweigend: Ein Meer der Stille ringsumher. Nach einer endlos scheinenden Weile öffnet sich etwas, eine Art Gestell senkt sich herab und der erste Scheibenweltler betritt ihren Heimatboden.
Den Beobachtern zeigt sich ein Wesen, das dem aus weiter Vorzeit der eigenen Evolution überlieferten Materiekörper täuschend ähnelt, obwohl manche Einzelheiten in den geistigen Erinnerungsspeichern erloschen sind. Eine mit zwei Extremitäten auf klobigen Füßen stehende Gestalt mit heller, glatter Haut. Ein überproportional wirkender kugeliger Kopf mit einem großen, runden Seh-Organ, in dem sich die Schwärze des Alls und der fahle Schein des Bodens spiegeln. Mit den oberen Extremitäten hält sich der Ankömmling noch an dem Gestell fest. Ein eckiger Buckel vervollständigt das Bild. Jetzt gibt das Körperwesen Geräusche von sich, deren Schwingungen jedoch nur ein unverständliches „Chr chr chr chr chr chrrrr – chr chr chr chr chrrrrr“ ergeben.
Dann unternimmt der Besucher einige unbeholfene Sprünge. Ein Zweiter folgt, ihm äußerlich in allem gleichend. Er baut in Sichtweite des Aktionsradius’ ein Gerät auf, dessen Auge sich auf die Szenerie richtet. Der Erste rammt einen schmalen, länglichen Gegenstand in den Boden. An ihm befestigt er eine hauchdünne, gestreifte Fläche, die nur deshalb nicht in sich zusammensinkt, weil eine weitere längliche Halterung am oberen Ende dies verhindert. Offenbar ein Symbol, denn sein Abbild befindet sich auch auf den Schultern der beiden. Sie scheinen mit allerlei primitiven Geräten die verschiedensten Messungen vorzunehmen. Aber was jetzt? Sie lösen mit archaischen Werkzeugen Gestein und bringen es in ihr Gefährt. Ein stummer Aufschrei: Die Heiligen Steine! Uralte Ahnen aus Jahrmillionen währender Vergangenheit.
„Haltet sie auf!“, erschallt Dargoths geistige Stimme.
„Aber wie?“, entgegnet Sandron, während die Gedanken hier und da für einen Moment völlig aussetzen, auch bei Umaniel.
Lorons Astralgestalt beginnt, instabil zu flimmern.
Ehe die Entsetzten jedoch einen Entschluss fassen können, steigen die Gäste wieder in ihren merkwürdigen Landungskörper. Den unteren Teil desselben als Startrampe nutzend und diese in einem Feuerstoß zurücklassend, heben sie ab und verschwinden. Langsam legt sich der aufgewirbelte Staub. Im beginnenden Scheibenschatten nimmt der große den kleinen Flugkörper auf, verlässt die Umlaufbahn und nimmt Kurs auf seine eigene Welt.
Aufgeregte Diskussion. Bis jemand schreit „Wo ist Iridian?“ Suchen. Telepathisches Rufen. Iridian jedoch bleibt verschwunden. Die Irinen trauern. Der Kreis ist nicht mehr vollständig. Doch die Staubwelt dreht sich weiter. Ein neuer Tag mit Fluten von Licht bricht an. Ungezählte Tage und Nächte im Wechsel. Und im Lauf der Zeit lernen sie mit Hilfe ihrer Seher mehr über die Scheibenweltwesen. Erarbeiten sich durch Channelling eine ihrer Sprachen und können die Botschaft auf der zurückgelassenen Tafel übersetzen.
Diese Schrift: “Here Men From The Planet Earth First Set Foot Upon the Moon,
July 1969 A.D. We Came in Peace For All Mankind”
Sie begreifen, dass der Planet über ihren Köpfen, den sie nun Earth nennen, in Wirklichkeit eine Kugel ist, deren Abbild in zwei Halbkreisen über jener Botschaft eingeätzt ist.
*
Thomas seufzte. Die Selbstversunkenheit seiner Verlobten dauerte länger als üblich. Daher nutzte er die Zeit, um den Stein hinter dem Glas etwas näher in Augenschein zu nehmen. Pechschwarz in der Grundfarbe, wie Lava, jedoch teilweise von glasartiger Struktur mit tropfenförmigen Ausbildungen braungelber Farbschattierung.
Allmählich kam Amber wieder zu sich, fand aber ungewohnt mühsam in die Realität zurück.
„Na, Kontakt gehabt? Wer war’s denn diesmal?“
„Ach, Thomas, du glaubst es doch nicht. Aber schön war es. So schön! Und so – anders. So völlig anders, als wir dachten. Stell dir nur vor, …“
Thomas winkte ab, wollte sich nichts vorstellen. Zog seine ZukĂĽnftige achselzuckend weiter, kaum, dass sie noch den Hinweis lesen konnte:
Mare Tranquillitatis
Alter 3,4 Milliarden Jahre
(nach radiometrischer Datierung)
Letzte Aktualisierung: 16.10.2009 - 20.27 Uhr Dieser Text enthält 9200 Zeichen.