Das alte Buch Mamsell
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Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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Oktober 2009
Weiße Nelken
von Marika Bergmann

Juliane stand am großen Küchenfenster. Ihre Gedanken kreisten immer wieder um die langen Spätsommerabende mit Frank, als sie zu den Sternen sahen und an ihrer gemeinsamen Zukunft bastelten. Dann dieser mysteriöse Unfall. – Wie ein Einschnitt in ihr Leben. Sie war jetzt allein, zog sich bewusst von den gemeinsamen Freunden zurück. Was ihr blieb, war der Blick auf den Hinterhof, wo sie oft nur so ins Leere auf die Fensterfront des Nachbarhauses schaute. Seit einer Woche brannte jeden Tag gegen 22 Uhr Licht im Fenster direkt gegenüber. Die vergangenen Abende sah sie verschämt weg. Juliane war keine einsame Voyeurin – oder doch? Sie dachte daran, den angefangenen Roman weiterzulesen, zögerte aber und blieb nun an ihrem Fensterplatz.
Es ist gleich zehn. Ob er es wieder tut?
Wie gebannt starrte sie über den Hof in das noch dunkle Fenster.
Das Licht geht an!
Sie biss sich auf die Unterlippe. Ihre nackten Füße berührten sich auf den Küchenfliesen. Der rechte Fuß stellte sich auf den linken. Sie wechselten sich ab.
Da, wieder das gleiche Ritual: Er legt seine Hände um jede einzelne Blüte, beugt sich über die Nelkenköpfe und berührt sie mit seinen Lippen. – Wie sanft er das macht.
Ihr wurde ganz heiß und ein zartes Beben durchzog ihre Schenkel. Sie stampfte mit den Füßen auf den Boden und versuchte, es abzuschütteln.
Jetzt richtet er sich auf!
Sie musste kichern und zwang sich, loszulassen. Blickte ins Zimmer hinter ihm. Der Raum war nicht eingerichtet. Die Wände weiß getüncht, so wie der Vormieter sie verlassen hatte. Juliane schmunzelte. Jetzt fixierte sie ihn wieder.
Er steht da, wie ein dem Paradies entsprungener Adam.
Sein Haar war kurz und dunkel, die Silhouette seines athletischen Körpers erregte Juliane.
Sie trat vorsichtig einen Schritt zurück, ohne den Blick abzuwenden.
Ob er ahnt, dass ihn jemand beobachtet?
Er legte seine Hand mit gespreizten Fingern auf die Scheibe und im gleichen Moment war da nur ein finsterer Raum.
Er kann mich nicht gesehen haben. Merkwürdig – dieses Zeremoniell.
Sie hätte die Uhr danach stellen können. Jetzt lag sie, mit den Beinen nach der Decke rudernd, in ihrem Bett. Sie versuchte, es sich bequem zu machen, wand sich hin und her.
Werde morgen mal nachsehen, wer da eingezogen ist.

Schnurstracks ging Juliane auf die Klingelleiste zu.
"Nelke" steht dran!
Sie verkniff es sich, lauthals loszugrölen.
Blöder Scherz. Da macht sich jemand einen Spaß. Ein Nelkenmann in der Nelkenstraße 13, das ich nicht lache! Heute Nacht jedenfalls wird er keine Zuschauerin haben. – Wollen doch mal sehn, wer hier mit wem spielt!

Am Abend fand Juliane wieder keine Ruhe. Sie hatte sich auf dem Sofa in ein Nest aus Kissen gekuschelt und versuchte zu lesen.
Es ist gleich zehn. Nein! – Heute nicht! Werde meine Couch nicht verlassen. Soll doch dieser Typ seine Performance machen!

Tags darauf kam Frau Patzig, aus der dritten Etage, auf Juliane zu.
Die Frau strahlte übers ganze Gesicht und trug eine Nelke im Haar.
Wie im Honeymoon benimmt die sich! – Die ist doch sonst immer so griesgrämig und schlecht gelaunt, seit ihr Ernst sie verlassen hat.
„Guten Morgen Frau Patzig!“
Ihre Augen sind weit aufgerissen und ihre Lippen rot angepinselt.
„Huch, Kindchen! Guten Morgen!“
„Gibt es was zu feiern, Frau Patzig?“
„Sie glauben gar nicht, was für einen netten Nachbarn wir jetzt haben. Der hat mir einen Strauß weißer Nelken vorbeigebracht. Dieser Herr Nelke ist ‘ne Wucht! Und meinem Ernst sieht er zum verwechseln ähnlich mit seinem Blondschopf und dem schön gezwirbelten Schnauzbart.“
Juliane atmete tief durch.
Meint sie den gleichen Mann?
„Kind, sehn Sie nur, wenn Sie in den Hof kommen! Die anderen Nachbarn haben auch schon ihre Sträuße in die Fenster gestellt“, kreischte Frau Patzig jetzt vor Begeisterung.
Es schauderte Juliane, als sie nach draußen trat. In jeder Etage, außer in ihrer, stand ein Nelkenstrauß auf der Fensterbank.
Er ist wohl Blumenhändler – dieser ..."Nelke".
Sie spürte ein zartes Stechen in den Wangen und versuchte, ihre Gesichtszüge zu zügeln.
Es hat ihn bestimmt kein anderer am Fenster gesehen – bei seinen nächtlichen Showeinlagen.
Ein Kitzeln wanderte bis zu ihrem Nabel.
Der Typ war schon sexy – irgendwie.

An den folgenden Tagen schien die gesamte Nachbarschaft wie ausgewechselt. Der alte Herr Schröder spazierte, sorglos vor sich hin pfeifend, mit seinem Dackel an Juliane vorbei. Stolz trug er eine Nelke im Knopfloch.
Der arme Mann hat in der letzten Woche noch bei jedem Schritt allen vorgestöhnt, dass ihn sein Rheuma so plagt. Wenn er sich mal nicht beklagte, lag er argwöhnisch in seiner Fensterbank auf der Lauer. Den Kindern nahm er regelmäßig den Ball weg – unser Hauswart.
Von Frau Sporbeck aus dem Stock über Juliane war nie auch nur ein Laut zu hören gewesen und man hatte schon häufiger vermutet, dass sie vielleicht das Zeitliche gesegnet haben könnte.
Plötzlich tanzt sie den ganzen Sonntag in ihrer Wohnung nach alten Schlagern aus den Dreißigern.
Juliane fühlte sich von Fremden umgeben. Sogar Hanna und Karo, Krauses Punk-Töchter, trugen Nelkenkränze auf ihren schwarzen Zottelmähnen.
Die beiden sitzen auf dem Treppenabsatz und singen Balladen wie damals in Woodstock die Blumenkinder. Das gibt‘s doch nicht! – Was ist hier nur los?

Angespannt stand sie am Fenster und wartete.
Wo bleibt er nur?
Sie fror. Es war schon fast elf und nichts war geschehen. Der Hof lag finster da – hinter keinem einzigen Fenster brannte mehr Licht. Keine laufenden Fernseher, keine Radios. Nur der Wasserhahn in ihrer Wohnung tropfte monoton vor sich hin. Sie drehte ihn zu. Zähneklappernd schlich sie ins Treppenhaus und lauschte.
Keine Stimmen zu hören.
Draußen bellte ein Hund.
Wo sind die nur alle hin?
Sie spürte ihr Herz wild poltern.
Es fühlt sich an wie die Hufe in Panik geratener Pferde, wenn sie gegen die Boxen treten.
Juliane bäumte sich auf.
Erst waren alle wie ausgetauscht und jetzt hatten sie sich in Luft aufgelöst. Nur weg hier!
Mitten in der Nacht setzte sie sich in ihren Wagen und fuhr los. Regen peitschte gegen die Scheibe. Das rhythmische Hin und Her der Scheibenwischer versetzte sie in Trance. Der Fuß auf dem Gaspedal wurde immer schwerer.
Nur raus aus der Stadt. Weg von den Blumenarrangements des Herrn Nelke. Dieser Zeremonienmeister kann mir gestohlen bleiben. Erst verhext er die Leute um mich herum, dann verschwindet er so urplötzlich, wie er aufgetaucht ist.
Es knallte und krachte in der Ferne. Im Rückspiegel sah sie bunte Lichter am Himmel. Eine riesige Glocke hing über der Stadt. Als hätte Juliane ein durchgegangenes Pferdegespann vor ihrem Wagen, raste Sie auf den Ortsausgang zu. Schrilles Sirenengeheul und ein riesiges Aufgebot an Feuerwehrwagen kam ihr im gleißend blauen Licht entgegen. Als sie bremste, schlitterte ihr Auto über den Asphalt bis zum Randstreifen. Sie war ganz benommen und ihre Knie zitterten.

Juliane saß sehr lange so da. Ein dumpfes Klopfen an der Scheibe ließ sie hochschrecken. Im blauen Lichtschein sah sie ein Gesicht vor der Windschutzscheibe aufflackern. Jemand öffnete hastig ihre Wagentür.
„Junge Frau, ist Ihnen nicht gut?“ Eine Hand rüttelte an ihrem Arm. „Kann ich Ihnen helfen?“
„Mir ist so kalt.“
„Kommen Sie aus der Stadt?“
„Äh – ja!“
„Dann danken Sie dem Universum“, sagte die Männerstimme eindringlich. „Ein ganzer Häuserblock in der Nelkenstraße ist gerade verschwunden. Wie weggepustet, als hätte dort niemals ein Haus gestanden. Zum Glück waren die Bewohner des Blocks nicht in ihren Wohnungen und standen vor dem Haus. Es ist wie ein Wunder.“
„Ja, das ist es wohl“, stammelte Juliane verlegen, drehte sich nach hinten und sah durch das Rückfenster zur Stadt hinüber.
„Wenn ich fragen darf – wo geht’s denn hin mit den vielen Blumen?“
Irritiert wollte Juliane sich ihm gerade wieder zuwenden, als ihr Blick etwas auf der Rückbank streifte.
Ein Strauß weißer Nelken! – Jetzt hatte sie auch diese Dinger bekommen!
Juliane war wie erstarrt. Die Blumen schienen ihr etwas einzuflüstern.
„Ich? – Ich werde gleich abgeholt!“
Sie hielt einen langen Moment inne.
Was hatte sie da gerade von sich gegeben und wer sollte sie denn nur abholen?
Jemand berührte jetzt zögernd ihre Locken und streifte ihre Wange.
„Juli, hab keine Angst.“
Es ist Franks Stimme. "Juli" – so hatte nur er mich immer genannt, wenn wir uns liebten und allem Irdischen entglitten. Er führte mich mit verbundenen Augen zu einem Bett aus weißen Nelken. Das ist nicht mein Frank.
„Ich hole dich. Wir haben noch eine zweite Chance in der Parallelwelt, du wirst nichts missen.
Alles ist so wunderbar und schön wie im Paradies.“
Parallelwelt?
„Wir dürfen alles transformieren. Das Haus ist schon dort. Die Nachbarschaft und dich nehme ich jetzt mit dorthin. Bitte – komm!“
Juliane schloss die Augen. Ihr Leben lief wie in einem Zeittunnel vor ihr ab.
Was wäre das für ein Leben – mit harmonisierten Gespenstern? Wo war der Mann, von dem ich immer die achtlos abgestreiften Socken wegräumte? Der Kerl, der mich immer wegen meines Schuhticks gängelte? Der Mensch, den ich über alles liebte, dem ich vertraute und dem ich mich hingab? Was ist das nur für eine emotionslose Attrappe, die mir hier etwas vorgaukelt!
Sie fühlte sich in die Enge gedrängt von diesem Fremden und seiner "schönen Welt".
Keine Beschimpfungen, kein Klagen, kein Seufzen mehr. – Was sollte das für eine Welt sein?
„Du bist nicht Frank!“
Juliane sah auf den Körper, der ihr jetzt seine Hand entgegenstreckte. Ein heller Lichtmantel umgab ihn. Sie begann zu weinen und stammelte kraftlos.
„Ich hasse weiße Nelken!“
Ihre Blicke trafen sich jetzt. Alles begann sich zu drehen und verwandelte sich in einen bunten Wirbelsturm. Tränenbäche plätscherten ihr am Gesicht hinunter. Ihr Hals schnürte sich plötzlich
zu. Sie atmete mit geballter Kraft ein und schrie: „NEIIINNNNNNNNNNNNNNN!“

Letzte Aktualisierung: 22.10.2009 - 09.45 Uhr
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