Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
William Hitch hatte sich heute früher aus dem Büro stehlen können. Seine Arbeitskollegin und, wie er ahnte, heimliche Verehrerin hatte versehentlich seine Brille irgendwo unter ihrem breiten Gesäß begraben, als sie sich in der Mittagspause mal wieder aufdringlich auf seinen Schreibtisch setzte. Als sie bemüht sportlich aufsprang, wurde das ganze Ausmaß des Schadens sichtbar. Für William zählte nicht nur das Äußere eines Menschen. Die schwergewichtige Statur seiner Kollegin störte ihn nicht. Aber die Dame war einfach nicht sein Fall. Ihr fehlte irgendwie das gewisse Etwas.
William fühlte sich etwas behindert durch eine vom Augenarzt festgestellte Weitsichtigkeit. Alles, was sich innerhalb von drei Metern abspielte, war für ihn nur ein unscharfes Durcheinander. Er bewegte sich langsamer, als notwendig wäre und schaute sich lieber ein Mal mehr um, bevor er irgendetwas tat. Dadurch wirkte William übervorsichtig und ein wenig schusselig, wenn er sich zum Beispiel Kaffee eingoss und dies in die Hose ging, weil er seine Brille irgendwo hatte liegenlassen.
Der nun beinahe halb Erblindete war so etwas wie ein Clark-Kent-Typ – gut durchtrainiert und gebildet, aber ein wenig gedankenlos.
Leider hielt ihn das weibliche Geschlecht mit Ausnahme der Kollegin eher für einen guten oder sogar besten Freund anstatt für den Mann des Lebens. Das bekam er oft genug bei Verabredungen zu spüren.
Der Bemitleidenswerte hatte so viele Dates hinter sich, dass er sich schon eine Liste der Dinge aufgeschrieben hatte, an der sich die Frauen am meisten störten. Platz eins: die Brille. Daran war jedoch nichts zu ändern, da er Kontaktlinsen nicht vertrug. Nummer zwei: seine Frisur. Zwar waren ihm nicht mehr allzu viel Haare verblieben, aber selbst die wenigen ließen sich nicht so einfach bändigen. Gel oder Haarspray waren ihm zuwider. Und Platz drei war sein konservativer Stil, sich zu kleiden. Mehr als hier und da mal Händchenhalten gelang ihm in den letzten Jahren nicht. Und wenn er sich änderte, wäre er nicht mehr er selbst. Zumindest glaubte er das.
William hoffte mit seinen dreißig Jahren und den unzähligen fehlgeschlagenen Verabredungen immer noch, dass die Traumfrau einfach so in sein Leben trat. Und in selbiges hineintreten sollte sie, nicht sich hineinsetzen, schon gar nicht auf seinem Schreibtisch. Auf den daraus resultierenden freien Nachmittag hätte er gut verzichten können. Aber das Schicksal hatte es trotzdem zum Ausgleich einmal gut mit ihm gemeint, ohne dass er es in diesem Augenblick ahnen konnte.
Der Optiker befand sich im ersten Stock des Einkaufszentrums. Auf dem Weg dorthin lag unter anderem das Modegeschäft einer großen Handelskette, die dafür bekannt war, dass sie einfallsreiche und ausgefallene Schaufensterdekorationen präsentierte. William ging mit zügigen Schritten auf dieses Geschäft zu. Von dort aus musste er nur noch rechts abbiegen und die Rolltreppe nach oben nehmen. Die Passanten vor ihm wirkten wie verwaschene Schemen. Geisterhafte Gestalten, die sich, je mehr sie von ihm Abstand gewannen, in Menschen verwandelten. Die Schaufensterpuppe jedoch meinte er klar und deutlich in dem Moment erkennen zu können, als er am Fenster vorüberging. Dass dies ohne Brille einer vorübergehenden Spontanheilung seines kleinen Sehfehlers gleichgekommen wäre, wurde ihm erst viel später bewusst. Im Moment kam ihm dies gar nicht in den Sinn, so sehr war er vom Anblick im Fenster gefangen.
Sie trug eine freche Kurzhaar-Frisur in Weiß-Blond. Ihre Kleidung bestand aus der aktuellen Kollektion, doch das interessierte William nicht. Vielmehr zog ihn ihre Ausstrahlung in seinen Bann. Er war auf den ersten Blick verliebt – in eine Puppe!
Einige Schaufensterbummelnde starrten gemeinsam mit ihm auf das Objekt seiner Begierde, schienen jedoch diese magische Anziehungskraft nicht zu spüren.
Wie in Trance wollte er sich zum Gehen wenden und übersah dabei einen Kinderwagen. Der Verliebte prallte mit dem Kopf gegen die Scheibe und fiel der Länge nach zu Boden.
Er glaubte zu träumen, denn das Kunstgeschöpf beugte sich hinter dem Glas zu ihm herunter und sah ihn mit leichtem Silberblick direkt in die Augen. Das linke Auge schaute eher Richtung Nasenspitze. Das Ding wirkte dadurch irgendwie menschlich, da die Puppe nicht wie ihre Schwestern perfekt war. Sie war sichtlich erschrocken und versuchte nach ihm zu greifen. Wie durch ein Wunder konnte er sie so genau erkennen, als hätte er sein Augenleiden nie besessen! Doch plötzlich wurde er hochgerissen und dieses überirdische Wesen verschwand aus seinem Sichtfeld.
„Ist Ihnen etwas passiert?“, wollte sein Helfer wissen.
„Die Schaufensterpuppe hat sich bewegt!“ William war noch total durcheinander und rieb sich die Schläfe.
„Da ist keine Puppe, kann ich Ihnen noch irgendwie helfen?“, schüttelte der Mann den Kopf.
William blickte zum Schaufenster: Leer! Nichts und niemand mehr zu sehen. Außerdem schien sich seine Weitsichtigkeit wieder einzustellen, denn alles in seiner Nähe war unscharf. Die Schmetterlinge in seinem Bauch wandelten sich in Magenkrämpfe, weil er glaubte, alles nur geträumt zu haben.
„Ich habe die Orientierung verloren. Können Sie mir den Weg zum Optiker zeigen?“
Er schaute noch mal in die leere Auslage in der Hoffnung, doch nicht zu fantasieren, und wandte sich dann zur Rolltreppe.
Cynthia Harker stand im Schaufenster der großen Modehaus-Filiale und tat, wozu sie bezahlt wurde – nämlich nichts. Nichts jedenfalls, außer das neueste modische Outfit des Geschäftes als lebende Schaufensterpuppe zu präsentieren. Allison, eine Mitarbeiterin und gleichzeitig ihre Freundin, stoppte hinter einem Vorhang die Zeit und gab Bescheid, wenn sie sich bewegen sollte.
Cynthia blickte nach draußen und erkannte weit hinten und sehr undeutlich eine Person, die schnurstracks auf sie zukam. Je mehr sich diese näherte, desto mehr Konturen gewann sie. Bei Cynthias Kurzsichtigkeit war das gar nicht so einfach. Sie sah jetzt, dass es ein Mann war. Eher altmodisch gekleidet, aber irgendetwas faszinierte sie an ihm.
Ihre Brille lag hinten in der Umkleide, aber sie konnte sie nicht holen.
Jetzt stolperte der Mann auch noch über einen Kinderwagen und krachte gegen die Scheibe.
Cynthia verließ ihren Platz und beugte sich zu ihm herunter.
Sie sah ihm direkt in die Augen und vergaß alles um sich herum.
Plötzlich wurde sie von ihrer Freundin zurückgerissen:
„Cindy! Sag mal, spinnst du? Wir haben hier einen Job zu erledigen! Mach erst mal Pause.“ Sie griff ins Regal hinter sich, um Cynthia die Brille zu geben. Dabei blieb ein Bügel hängen und brach ab.
Cindy war sauer: „Jetzt muss ich wegen dir zum Optiker!“
„Sei froh, wenn du deinen Auftrag hier nicht verlierst!“
„Ja, du hast ja recht!“ Damit trottete sie davon und ließ Allison stehen.
William Hitch musste nicht lange warten. Zum Glück war nur der Rahmen beschädigt worden. Die Gläser wurden in ein anderes Gestell gesetzt und er konnte wieder vernünftig sehen.
William fasste nach dem Türgriff und bedankte sich noch einmal beim Optiker. Er wollte die Tür aufdrücken, doch sie rührte sich keinen Millimeter.
Verdutzt musterte er den Schließmechanismus. Dann schaute er hoch – genau in die grünen Augen „seiner“ Schaufensterpuppe“!
Einer Puppe, die sich als weibliches Wesen aus Fleisch und Blut offenbarte.
Sein Herz begann wild zu klopfen. Seinem Gegenüber ging es offenbar ähnlich. Beide pressten das Gesicht dicht an die Glastür und sahen einander lange und tief in die Augen, bis die Scheibe vom gemeinsamen Atem beschlug.
William bekam ganz weiche Knie. Für die Ewigkeit eines endlosen Augenblicks stand die Welt still. Die Luft schien vor Elektrizität zu knistern. Und dies war nur der Anfang …
Letzte Aktualisierung: 25.11.2009 - 10.41 Uhr Dieser Text enthält 7795 Zeichen.