Das mit 328 Seiten dickste Buch unseres Verlagsprogramms ist die Vampiranthologie "Ganz schön bissig ..." - die 33 besten Geschichten aus 540 Einsendungen.
Neben dem lehmigen Aushub lag nicht Kranz noch Schleife, nur ein dürftiger Strauß bereits verwelkender roter Nelken. Erwin Karsulke sollte das schlichte Gehäuse aus Fichtenholz auf dem Zentralfriedhof einbuddeln. Weil der Sarg nicht parallel zu den Rändern stand, war er in das Grab gestiegen, hatte versucht, es gerade zu rücken. Er war erstaunt, wie leicht das zu bewerkstelligen war. Als er mich darin sprechen hörte, schoss er mit schlotternden Gliedern wieder aus der Grube heraus.
„W-w-wer sind Sie?“ stotterte er. Dabei stand doch klar in seiner Dienstanweisung, er habe V. Desmodontides zu bestatten.
„Sind Sie … waren Sie … etwa scheintot?“ In Karsulkes Kopf herrschte Furcht und Chaos. „M-m-moment, ich hole rasch einen Rettungswagen!“ Hastig drehte er sich um. Entsetzlich! Beinahe hätte er einen lebendigen Menschen beerdigt.
„Halt, halt!“ rief ich von unten. „Bleiben Sie hier! Ich bin ja wirklich tot.“
„Aber, wieso können Sie denn dann reden?“ stammelte Karsulke.
„Ich bin eben eine besondere Leiche“, kicherte ich. „Das heißt“, ergänzte ich ernst, „in Wirklichkeit bin ich nicht einmal ein Leichnam. Dabei möchte ich zu gern einer sein. Um mein Sterben gern.“
Erwin krochen eisige Schauer zwischen die Schulterblätter. Doch plötzlich packte ihn die Wut. Hatten sich seine Kollegen von der westlichen Sektion einen üblen Scherz mit ihm erlaubt? Denen wäre so was zuzutrauen. Kassettenrecorder in den Sarg, Wiedergabe ferngesteuert starten und dann aus sicherem Versteck zuschauen, wie sich ihr Opfer fürchtet, wegrennt, um Hilfe ruft oder sonst was. Misstrauisch tastete sein Blick über die Grabfelder und Buschgruppen, aus denen in der zunehmenden Dämmerung lautlos graue Nebelfahnen auf ihn zu krochen. Aber da war niemand zu sehen.
„Nein, nein“, mischte ich mich in seine Gedanken, die ich problemlos lesen konnte. „Das ist kein technischer Trick. Ich spreche wirklich mit Ihnen.“
„Ja, aber“, stotterte Erwin, „Wie kommen Sie da rein, wenn Sie gar nicht tot sind? Und wieso sind Sie so leicht? Was soll das Ganze?“
„Ich bin Opfer eines Verkehrsunfalls“, antwortete ich. „Anderthalb Tonnen Technik erledigten fünfundsiebzig Kilo Passant, nachts um drei Uhr. Ich lag im Wachkoma, aber zwei Polizisten und ein übermüdeter Notarzt befanden, ich sei tot. Sie fanden die Anschrift meines Vetters Ewald in meinem Notizbuch. Der ließ meinen Körper auf seiner Veranda aufbahren, obwohl er mich kaum kannte.“
Karsulke schaute sich ängstlich um, ob nicht etwa jemand die Szene belauschte.
„Gerade als ich mich wieder zu bewegen begann, erreichten mich die ersten Sonnenstrahlen. Ich hatte keine Chance mehr, mich in Sicherheit zu bringen. Mein Vetter war total verstört. Er gehörte zu dem Zweig der Familie, die nichts von meiner Behinderung wusste.“
Erwin schwankte zwischen Angst und Neugier.
„Diesen Billigsarg hatte Ewald für seine sterbenskranke Großmutter gekauft. Doch die blieb noch eine Weile leben und bestimmte ein Luxusmodell für ihre letzte Ruhe. Darum konnte er in dieser Kiste mein bisschen Asche mit der verkohlten Decke einsargen. Den Rest sollen Sie ja nun besorgen.“
Erwin Kasulke war unschlüssig. Zuhören? Zuschaufeln? Wegrennen?
„Sie dürfen mich getrost hier einbuddeln“, sagte ich. „Aber tun sie mir vorher bitte noch einen kleinen Gefallen.“
„Was soll ich denn machen?“ wollte Erwin entgeistert wissen. „Ich kann doch niemanden beerdigen, der gerade mit mir spricht. Sie behaupten, Sie seien tot, aber doch nicht tot, oder nur ein bisschen, aber auch nicht scheintot. Ja, was denn nun?“
„Betrachten Sie meine Situation einfach als eine Art Zwischenzustand, den ich durchlaufe, bevor ich endgültig meine Ruhe finde.
„Und wie soll ich Ihnen helfen, wenn Sie nicht einmal wirklich da drin sind, in der Kiste?“
Erwin Karsulke hatte Mühe,zu sprechen. Wurde er verrückt? Jetzt redete er schon mit einer versengten Wolldecke. Er griff mit zitternden Händen nach seinem Spaten.
„Ach, bitte!“ Ich gab meiner Stimme einen flehenden Ton. „Ich verlange ja nichts Verbotenes von Ihnen, nur eine kleine Gefälligkeit.“
Erwin schwieg.
„Sehen Sie die dunkle Stelle in der Mitte des Deckelbrettes, dieses Astloch?“ fragte ich.
„Ja“, murmelte Karsulke, unfähig sich von der Stelle zu bewegen.
„Da wurde ein Korken eingefügt. Billigware halt. Drücken Sie kräftig mit dem Daumen drauf. Ich denke, der Pfropfen wird sich nach innen quetschen lassen. So bekomme ich wenigstens noch einmal Luft, bevor es auf die lange Reise geht.“
Erwin zögerte. Wieso brauchte eine angekokelte Decke Luft? Anderseits, wen interessierte es, wenn er einen billigen Sarg vor dem Eingraben geringfügig beschädigte?
Karsulke rammte seinen Spaten tief in das Erdreich, hielt sich daran fest und stieg noch einmal in das Loch, mit zitternden Knien. Er bückte sich herunter zu dem Fichtendeckel. Widerwillig drückte der Totengräber mit seinem groben Daumen auf den Korken. Der gab mit leisen Plopp nach und fiel nach innen. Erwins Daumen fuhr in das Astloch. Das tat weh. Er spürte, wie aus einer Risswunde etwas Blut in die Kiste tropfte. Ärgerlich riss er den Finger wieder heraus und leckte ihn ab. Plötzlich schien sich der Sargdeckel unter ihm zu heben.
Erwin riss entsetzt die Augen auf. Wieder setzte sein Herz kurz aus, sein Magen verkrampfte sich. Blindlings griff er nach seinem Spaten und zog sich hastig daran hoch. Weg! schrie es in ihm. Nur weg! Der zäh heran kriechende Nebel versuchte, ihn an den Beinen festzuhalten. Karsulke schlug hin und wir wurden ohnmächtig.
Als ich kurz drauf wieder erwachte, wusste ich sofort, was ich zu tun hatte. Rasch schaufelte ich, das heißt er, das dürftige Grab zu, rammte das Holzschild in den schmucklosen Hügel. Mittlerweile war es dunkel geworden. Ich ging mit ruhigen Schritten über den Friedhof dem Ausgang zu. Drei Blutstropfen eines lebendigen Menschen vermischt mit ein paar Krümeln meiner Asche ermöglichten es mir, mich wieder zu bewegen, wenn auch in einem fremden Körper.
Erwin Karsulke kannte den Weg zu Frau Dr. jur. Fleermus nicht. Er wusste weder, wie sie aussah, welchen Beruf sie hatte, noch wo sie wohnte. Ich steuerte ihn.
Vor einiger Zeit hatte ich in Erfahrung gebracht, dass die Fleermus in Verbindung mit ihren rumänischen Kollegen fast meine gesamte balkanische Verwandtschaft ausgerottet hatte.
Gerade zerrte ihr Vertrauter in den USA alle Behinderten unserer Art an die Sonne, ließ sie verschwinden für immer. In Deutschland gab es, soweit ich wusste, außer mir längst niemanden mehr von uns.
Kaum eine Stunde später stand Karsulke vor der vornehmen Villa der Frau Staatsanwältin Fleermus und schellte. Verlegen drehte er seine abgegriffene Mütze, als die gut aussehende Dame die Tür zur Eingangshalle öffnete.
„Guten, äh, guten Abend“, stammelte er. „Ich bin Erwin Karsulke. Totengräber am Zentralfriedhof. Heute sollte ich einen Sarg beerdigen, in dem einer lag, der gar nicht tot war, oder aber doch tot, oder vielleicht nicht ganz … Was soll ich jetzt machen? Mein Kollege meinte, ich solle Sie mal fragen.“
„Wann war das? Wie hieß der Mensch?“ Die Fragen der Staatsanwältin kamen rasch und präzise. Eine strenge Falte stand zwischen ihren dunklen Brauen.
„Das war vorhin in der Allee IV, Abschnitt B, Grab 135. Ich glaube, ich denke, wenn ich mich recht erinnere“, stotterte Erwin. „hieß der Desmodontides. Ja, V Punkt Desmodontides.“
Frau Dr. jur. Fleermus wurde für einen Moment blass. „Habe ich einen übersehen?“, murmelte sie überrascht. Doch gleich hatte sie sich wieder gefasst. Natürlich sagte ihr der Name etwas. Jemand der sich selbst zum Terminator von uns Andersartigen macht, kennt sicher auch unseren griechischen Namen.
„Einen Moment! Ich bin gleich wieder da.“ Damit fiel die Tür vor mir zu. Nur ein paar Atemzüge später öffnete sie sich wieder. Frau Fleermus hatte sich einen alten Parka über ihr Hauskleid gezogen, trug in der linken Hand eine Taschenlampe und in der rechten einen vorn zugespitzten Holzpflock und einen Fäustel. Ich gebe zu, dass mich diese Werkzeuge für einen Moment unruhig machten.
„Kommen Sie mit! Zeigen Sie mir den Weg!“ befahl sie. Und Erwin Karsulke gehorchte. Eine halbe Stunde stapften wir durch den dichten Nebel, der alle Geräusche schluckte und eine Orientierung schwierig machte. Nur matte Lichtflecken von Laternen zeigten den Verlauf der Straßen. Die Pforte am Nordeingang zum Zentralfriedhof quietschte. Wir waren außer Hörweite bewohnter Gebäude.
Da fiel ich Frau Fleermus an. Das heißt, Karsulke fasste sie plötzlich bei der linken Hand, drehte ihr den Arm gewaltsam so auf den Rücken, dass sie sich, völlig überrascht, nicht wehren konnte und biss sie in die Halsschlagader. Dann warf er sie auf einen frischen Grabhügel und vergewaltigte sie wie im Rausch. Das heißt, Gewalt hat er gar nicht anwenden müssen. Sie war von dem Blutverlust vorübergehend so geschwächt, dass sie sich ihm willenlos hingab. Dann setzte er sich satt und befriedigt neben sie.
Damit bekam ich meine volle Rache. Die Staatsanwältin, die sich so vehement und leider mit tödlichem Erfolg um die Ausrottung meiner Art bemüht hatte, muss ja nun untertauchen. Sie gehört jetzt zur gleichen Sorte Behinderter, wie ich. Kann ihren Beruf nicht mehr ausüben. Ihre Jagd ist zu Ende. Und sie wird durch das Kind, das sie nach unserer Begegnung zur Welt bringen wird, außerdem zur Stammmutter einer neuen Vampirgeneration.
Dass Frau Fleermus, kaum wieder zu Kräften gekommen, Karsulke von hinten den Holzpflock mit ihrem Fäustel ins Herz schlug, war von mir nicht beabsichtigt. Da war wohl noch ein wenig von dem Blut der Staatsanwältin in ihr, das alle Vampire hasste. Die Morgensonne wird die Spuren ihres letzten Mordes beseitigen.
Ich hoffe, dass mir, nachdem ich den Fortbestand meiner Art gesichert und auch noch meinen zweiten Körper verloren habe, jetzt die ewige Ruhe gewährt wird.
Letzte Aktualisierung: 01.12.2009 - 16.55 Uhr Dieser Text enthält 10007 Zeichen.