Das alte Buch Mamsell
Das alte Buch Mamsell
Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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Dezember 2009
Schönhauser Allee 104, Etage 4
von Bernd Kleber

Ich schlage meine Augen auf. In meinem Mund ist es trocken pelzig. Der Geschmack erinnert irgendwie an alten Döner. Sehe meinen Nachttisch, ein Brett, das im Bettrahmen verankert ist. Allerdings blicke ich auf die Unterseite. Mein Kopf schmerzt, der Rücken, der Hals, die Brust.
Ich fädele mich unter der Platte hervor. Mir ist eiskalt. Ich trage nur einen Slip. Wieso?
Mein Magen spielt Kreisel. Ich erinnere mich daran, dass ich zur betrieblichen Weihnachtsfeier gegangen war. Ich sehe auf den Wecker, lange kann ich hier noch nicht liegen. Kälte ist in meine Knochen gekrochen.
Ich erhebe mich mühselig, gehe drei Schritte in Richtung Korridor. Ich laufe auf Watte. Die Beine knicken mir weg. Das Atmen fällt mir schwer. Im Flur verdrehe ich die Augen, sehe auf eine Fläche aus Erbrochenem. Das Bad am anderen Ufer unerreichbar. Diese Lache hat sich bis unter die Kante der Wohnungstür ergossen. Wie viel habe ich getrunken? Die Flurwände tragen rötlich-braune Sprenkel. Ich halte mir die Nase zu, obwohl ich nichts rieche. Vorsorglich.
Die Wände bewegen sich auf mich zu. Sie wabern, verlieren ihre Dichte, eine Lampe scheint hindurch. Ich versuche mich zu halten, sinke in Knetmasse, wo eine Wand sein sollte.
Beeile mich in die Küche zu kommen. Ich muss ins Spülbecken pinkeln. Als ich dort stehe und zielsicher an den Kaffeetassen vorbei ins Becken justiere, kommt nichts. Kann nicht. Das Becken vor mir öffnet sich zu einem Riesenschlund. Braun schmierige Röhre mit faulem Geruch öffnet sich. Ich sehe hinein und befürchte das Gleichgewicht zu verlieren. Ich sehe Anna in ihrer Küche, zu mir nach oben blickend! Mir fällt dabei auf, dass ich meine Arme nicht sehen kann. Ich erkenne meinen Körper nicht, keine Hände, keinen Rumpf, keine Beine. Ein helles Licht kommt aus den Tiefen hervor. Es blendet. Ich wende mich ab. Ich halluziniere. Irgendwer muss mir Drogen gegeben haben. Aber was für´n Zeug? Pilze?
Ich wandere über die sauberen Dielen ins Wohnzimmer. Der Weihnachtsbaum liegt umgerissen. Blinkert auf dem Boden. Monoton gehen die Leuchtkerzen an und aus, werfen Schatten auf den Fußboden. Geflacker, das an Jahrmärkte oder Videoclips aus den Achtzigern erinnert. Die Kugeln, alt und geerbt, sind zum Teil in viele kleine Scherben explodiert. Sie wispern. Sie rufen mir etwas zu. Stimmen von Frauen und Männern, die mir zurufen, ich solle gehen. Wohin? Mensch, so ein Mist! Ich muss zu mir kommen. Die Glassplitter reflektieren das Blinkern und die Stimmen vieltausendfach. Die Lichtpunkte verschmelzen zu einem Wirbel, der grell blendet. Er zieht an mir. Ein Sog wie an einer Abluftröhre.
Ich reiße mich los, gehe weiter durch meine surreale Welt.
Die Glasvitrine mit meinen Pokalen liegt zerdeppert in der Ecke. Ein Scherbenhaufen, der sich über die Couch ergossen hat.
Wer hat hier verrückt gespielt? Ich? Warum erinnere ich mich an nichts?
Ärger und Scham steigen in mir auf. Panik! Das Murmeln wird lauter, ich höre Rufe.
„Ben!“
Kann aber nicht erkennen woher sie kommen. Frage: „Wer ist da?“ Mit dem Rücken an der Wand fassen mich Hände, als wollten sie mich in die Wand ziehen. Ich fliehe aus dem Raum.
Grübeln!
Weihnachtsfeier, ich ging gestern um achtzehn Uhr los. Traf auf dem Markt die schöne Frau, die unter mir wohnt. Anna! Ich denke so oft an sie. Mein Tagesablauf wird immer wieder durch ihren Namen zum Schwingen gebracht.
Sie stand da mit ihrer Freundin. Anna, wie immer mit der Aura des Geheimnisvollen. Da ist etwas, was ich nicht näher erklären kann. Es ist etwas um sie, nicht nur ihre Schönheit. Nein, eine Verlegenheit in ihrem Blick, der nie direkt ist. Sie senkt ihn, wenn ich danach hasche. Sie hat etwas Kühles, etwas Unnahbares. Wenn ich ihr nah sein will, entwindet sie sich. Ich bin verliebt!
Und was geschah nach dem Weihnachtsmarkt? Keine Ahnung mehr von der Feier, was ich getrunken habe, vom Heimweg und warum dieses Chaos hier entstand.
Gehe ins Bett zurück und verschiebe mit dem Wissen, das ich nicht in der Lage sein würde, die Wohnungstür zu öffnen, das Reinigen des Korridors. Hoffentlich klingelt niemand.
Mein Atmen höre ich nicht. Wie ich da auf dem Bett liege, wird mir bewusst, dass ich noch kein T-Shirt anhabe. Stehe auf, will es greifen, es funktioniert nicht. Lege mich wieder nieder. Ich gleite durch die Matratze, tiefer und sinke unter den Lattenrost, sehe das Bett über mir. Was habe ich genommen? Ich rappel mich hervor und setze mich drauf.
Trotz der Nacht scheint ein helles Licht in mein Zimmer. Drehen da bestimmt einen Film und blenden in die Zimmer mit ihren Scheinwerfern.
Ich ziehe die Beine an, die ich nicht sehen kann, und umfasse sie. Mein Kopf liegt auf den Knien. Ich starre ins erhellte Zimmer. Kaltes weißes Licht um mich herum, das flackernde Schemen an die Wand malt.
Es flüstert. Die Stimmen wispern immer wieder „Komm!“ und „Geh!“. Daraus entsteht ein ständig auf- und abschwellendes Geräusch, das mir den Verstand zu rauben droht. Ich atme flach, weil ich das Heben und Senken meines Brustkorbes nicht spüre.
Am Fußende hat ein Seidenlaubenvogel begonnen eine Liebeshöhle zu bauen. Das Männchen will damit ein Weibchen verführen. Zupft aus meinem Bett Federn und baut meisterlich, ein wenig hektisch. Manchmal hält er inne, starrt mich mit großen dunklen Knopfaugen an, pickt in meine Richtung, als müsse er einen Nebenbuhler weghacken. Dann baut er weiter. Ein hübsches Gebilde entsteht.
Während ich ihn beobachte, summe ich. Eine Angst steigt in mir hoch, vor dem, was ich nicht verstehen kann. Eine Angst aus Kindertagen, wenn man die dreckigen Witze der Älteren nicht verstand. Die Stimmen sollen weggehen. Ich schaukel hin und her, vor und zurück.
Es kracht, als die Wohnungstür aufgebrochen wird. Ich zucke zusammen. Als erstes sendet mir mein schlechtes Gewissen ein Bild von dem See des Übels aus dem Flur. Ich kann nicht aufstehen, bin zu schwach. Der hübsche Vogel ist samt Laube fort. Das Licht der Dreharbeiten schwillt zu einem Feuersturm an und sackt in sich zusammen, als zwei Feuerwehrleute in mein Zimmer treten. Jemand schlittert im Flur aus und schreit: „Scheiße!“
Im Türrahmen erscheint ein Arzt in nicht mehr weißem Kittel. Er kniet neben meinem Bett nieder und hantiert. Erst mit der Hand, dann mit dem Stethoskop. Ich sehe zum Fenster, immer noch dieser Scheinwerfer, entfernter. Oder Sonnenschein?
Ruhe im Zimmer. Ich frage kleinlaut: „Hallo?“
Keiner reagiert. Ich räusper mich, will mich erheben, gelingt nicht.
Robbe mich an den Rand des Bettes und sehe ...
mich!
Ich liege dort neben dem Bett, der Kopf unter dem Nachttischchen. Der Arzt hält mit bedrückter Miene mein Handgelenk. Es kommen mehr Männer, einige in Uniformen. Ich sehe mir die schweigenden Leute an.
Auch Anna schaut ins Zimmer. Mir ist alles sehr peinlich.
Ich frage: „Anna, was ist hier los, bitte sag´s mir, was machen die da ... was ist das, wer ist das?“
Sie sieht mich an, ihr Blick schweift durch den Raum. Sie hat ihre Arme verschränkt, die Schultern angezogen.
Ich schreie : „Anna!“
Sie blickt wieder in meine Richtung, kommt auf mich zu. An den Männern vorbei, die den Körper an der Erde wiederbeleben wollen. Herzdruckmassage! Ephedrin!
Ich schaue zu den Männern und frage erneut: „Kann mir jemand sagen, was hier läuft? Was soll die ganze Scheiße?“
Null Reaktion! Ich beginne zu hyperventilieren. Mein Zustand ändert sich nicht. Ich gehe davon aus, dass ich total verrückt geworden bin.
Ich sehe etwas, was Du nicht siehst!
Ich lache nun laut und kann nicht aufhören, während mir Tränen laufen.
Ich versuche Luft zu holen, aber es kommt keine. Nichts strömt in mich! Ich kann nicht atmen. Was soll das hier werden?
Anna läuft bis an die Ecke des Bettes, wo mein Körper liegt. Der Arzt sieht sie an.
„Lassen Sie die Frau näher treten! Schaden kann es ihm nicht mehr.“
„Puls?“
„Nein. Atemstillstand! Das wird wohl nichts mehr.“
„Sind Sie befreundet?“
Anna nickt.
WAS?
Das ist gut!
„Hallo, junge Frau ...Rufen Sie Ihren Freund mal so laut Sie nur können ...“
„Ben, Ben!“, ruft Anna.
Richtig! Denke ich. Ich stehe ja hier. Ich sehe Euch alle!
„Anna, mach was!“, rufe ich. Ich streiche über ihre Wange und flüstere: „Ich will leben.“
„Er ist hier, ich spüre ihn! So helfen Sie ihm doch!“, ruft nun Anna und hängt mir ein Amulett um. Im gleichen Moment fühle ich ein großes Zittern. Ein Magmastrom scheint sich aus mir Bahn zu brechen. Mein Leib liegt still.
„Kindchen, treten Sie bitte zur Seite!“, sagt der Sanitäter, der sie von meiner Hülle wegzerrt.
Ich kann mich kaum halten und wackel wie eine Waschmaschine im Schleudergang.
Anna setzt sich zu meinen Füßen aufs Bett und beginnt zu weinen. Nicht aufgesetzt, niemand merkt es. Ich sehe ihre Tränen, rinnen wie kleine Bäche über die Wangen.
„Er lebt, ich weiß es“, wispert sie nun.
Ich will sie trösten. Will sie umarmen. Erreiche sie aber nicht. Wenn ich zufassen will, greife ich schlotternd ins Leere. Ich bin ein Beben.
Einer der Feuerwehrmänner kniet nieder und rammt seine zusammengeballten Hände in meinen Brustkorb. Ein Geräusch knackender Rippen folgt.
„Puls!“
In meinen Ohren braust ein Orkan. Es rauscht und kneift schmerzhaft, als wollten alle Adern platzen. Durch die Gefäße schießt schmerzhaft Leben. Ich werde durch Anna hindurch gerissen, wie ein riesiger Magnet zieht mich mein Körper an. Ich klappe wie ein Taschenmesser durch die Fliehkraft in mich zusammen. Rase durch den Raum.
Ich fahre mit einem harten Schlag, der in allen Knochen schmerzt, in meinen Körper hinein, reiße die Augen auf, ziehe Luft wie ein verstopfter Staubsauger, der von einem Fremdkörper befreit wurde. Das panische Einatmen eines Nichtschwimmers, wenn er den Kopf über die Wasserkante hebt. Stöhnen! Der Arzt lacht auf, sagt „Meine Güte!“
Ich kann in Annas schöne Augen sehen ...

Letzte Aktualisierung: 16.12.2009 - 08.59 Uhr
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