Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
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Dezember 2009
Opa Kalle
von Eva Fischer

Opa Kalle

Kaum hatte er geschellt, öffnete sich die Tür. Der fünfjährige Philipp sprang ihm in die Arme und drückte ihm feuchte Küsse auf seine Wangen.
„Guck mal Opa Kalle! Hast du schon mein neues Feuerwehrauto gesehen? Brumm, brumm“, setzte er es geräuschvoll in Gang.
„Ablösung! Hier kommt die Ablösung!“, schrie er nun in Richtung Wohnzimmer, wo seine Mutter letzte Anweisungen an den zehnjährigen Justus gab.
„Der Fernseher bleibt aus. Haben wir uns verstanden?“
„Klar doch, Mama. Opas Gruselgeschichten tun es auch.“
„Gruselgeschichten?“
Frau Hoffmann runzelte die Stirn.
„Denk daran, Vater, die Kinder sollen schlafen. Justus muss morgen früh in die Schule.“ „Mach dir keine Sorgen, Chefin!“, grinste Opa Kalle.
„Ich erzähle ihnen noch eine nette Gute-Nacht-Geschichte. Du kannst ganz beruhigt sein. Ich wünsche dir und Robert einen schönen Abend in der Oper.“
„Vor Mitternacht werden wir nicht zu Hause sein. Hältst du so lange durch?“
„Einen alten Stahlkocher, der an Nachtschichten gewohnt ist, haut so schnell nichts um.“ „Das ist lange her“, gab seine Tochter zu bedenken.
„Musst du mich immer an mein Alter erinnern? Dabei verjüngt mich doch deine Rasselbande um Jahre.“
„Bei mir ist es manchmal umgekehrt“, seufzte seine Tochter.

„Jetzt haben wir endlich sturmfreie Bude!“, verkündete Justus.
„Ihr habt eure Mutter gehört, Jungs. Ab in die Betten und zieht euch die Decke über den Kopf. Gleich wird’s gruselig. Ihr seid doch keine Weicheier, oder?“
„Nein!!“ schrie es einstimmig im Chor.
Justus kletterte auf sein Etagenbett, während Philipp das rote Auto gegen seinen Teddy austauschte und sich an ihn kuschelte.
„ Von mir hört ihr keine Märchen, denn ich habe alles selber erlebt.
Die Geschichte, die ich euch heute erzählen möchte, passierte, als ich noch in der Fabrik gearbeitet habe. Ich war auf dem Heimweg...“
„Wann endete denn deine Nachtschicht?“, wollte Justus wissen.
„Ich habe von abends zehn bis morgens sechs gearbeitet.“
„Da müssen wir immer schlafen“, bedauerte Phillip.
„ Mein Weg führte mich damals durch den Revierpark, den kennt ihr doch?“
„Klar, der ist wie unser Hanielpark, nur größer.“
„Riesige Bäume standen dort und wirkten im Dunkeln echt unheimlich.“
„Ist das alles?“ meinte Justus enttäuscht.
„ Bist du schon mal nachts in einem Park gewesen?“
„Erlaubt die Mama nicht“, schaltete sich Philipp ein.
„ Aber es waren keine gewöhnlichen Bäume. Nachdem die Turmuhr Mitternacht geschlagen hatte, kamen die Geister der Toten von dem benachbarten Friedhof und schlüpften durch ein Loch ihrer Rinde. Nun waren sie größer und stärker als jeder Sterbliche. “
„ Ich denke, du bist morgens um 6 durch den Park gegangen.“, wunderte sich Justus.
„Im November ist es lange dunkel. Da haben die Toten länger Ausgang. Eine Stunde, bevor es hell wird, müssen sie natürlich in ihren Gräbern verschwunden sein. Wenn ihr euch die Bäume bei Tageslicht genau anseht, dann findet ihr auf den Stämmen immer noch Abdrücke von ihren Gesichtern. Manche haben einen zahnlosen Mund, ein schielendes Auge, eine riesige knubbelige Nase, eine große Warze...“
„Schon gut. Wie ging’s weiter?“
„Plötzlich stellte sich mir ein riesiger Kastanienbaum in den Weg. ‚Gustav’, sagte ich, ‚mach keinen Mist! Lass mich vorbei!’ Gustav krächzte mürrisch und warf einen Ast auf meinen Kopf. Zum Glück sprang ich rechtzeitig zur Seite, und so fiel der Ast auf eine kleine Lärche. ‚Ist das eine Art, mit jungen Damen umzugehen?’, schimpfte sie. Gustav war das sichtlich peinlich. Jedenfalls machte er einen Schritt zur Seite.“
„Das hast du wirklich erlebt?“, fragte Justus misstrauisch.
Opa Kalle fuhr unbeirrt fort.
„Auf einmal stand ein rabenschwarzes Ungeheuer vor mir. Es hatte Augen, die im Dunklen wie Feuer leuchteten, und fletschte ganz fürchterlich die Zähne.“
„Wie groß war denn das Ungeheuer?“, erkundigte sich Philipp.
„Na, so groß wie die Dogge von Müllers. “
„Die ist wirklich riesig “, bestätigte Philipp.
„Aber euer Opa ließ sich nicht einschüchtern. ‚He, du wild gewordener Bastard!’, rief ich. ‚Zieh hier keine Show unter Zeugen ab! Die Bäume sind meine Freunde, auch wenn Gustav sich heute nicht sehr höflich benommen hat, aber Otto wird seine letzten Eicheln auf dich werfen und dir deinen Schädel spalten, wenn du nicht sofort Platz machst!’ Aber, was soll ich euch sagen? Das Vieh ließ sich nicht beeindrucken, sondern knurrte mich an wie acht hungrige Männermägen. Da nahm ich den Ast, den mir Gustav hatte zukommen lassen, und versetzte dem Untier eine ordentliche Tracht Prügel. Heulend verzog sich der Feigling in das Gebüsch. Da seht ihr mal wieder, Mut zahlt sich aus. So, Jungs, nun wird aber geschlafen!“

„ Pst, Justus“, flüsterte Philipp.
„Hm“, grummelte sein Bruder.
„Mach dir jetzt nicht in die Hose, Kleiner! Opa Kalles Geschichten sind nicht so originell, wie du glaubst. Unsere Englischlehrerin hat uns heute vom Hund von Baskerville erzählt. Das Ungeheuer im Park erinnerte mich stark daran,“ fuhr er altklug fort.
„Also schlaf jetzt. Das sind alles nur Märchen.“

Es war nach Mitternacht, als seine Tochter ihn schlafend im Wohnzimmer auf dem Sofa vorfand.
„Soll ich dir eine Decke holen? Dann hättest du es gemütlicher.“
„Nein, das ist sehr nett von euch, aber ihr wisst doch, dass ich auf mein Bett nichts kommen lasse. Da ärgert mich mein Rücken am wenigsten. Was für eine Oper wurde denn gegeben?“
„Der fliegende Holländer. Matrosen, nicht tot, nicht lebendig, machen die Meere unsicher. Wäre das nichts für dich?“ , fragte sein Schwiegersohn.
„Heiße ich Käptn Blaubär? Nein, da ist mir fester Boden unter den Füßen lieber. So, ich geh dann mal. Macht’s gut, ihr beiden! Man sieht sich.“

Die Laternen mit ihrem orangefarbenen Licht wiesen ihm den Weg durch den kleinen Park. Nach dem Nickerchen fühlte er sich wieder frisch wie die kühle Novemberluft. Die kahl gewordenen Äste schienen in dem dunklen Himmel Wurzeln zu schlagen. Ohne Blätter bildeten sie bizarre und einmalige Kunstwerke. Die knorrigen Baumstämme erinnerten ihn an seine alten Kumpel. Längst lagen sie unter der Erde. Heinz waren die Wechselschichten auf den Magen geschlagen. Der Krebs hatte leichtes Spiel gehabt. Paul erzählte einst die besten Witze. Nachdem er sich erhängt hatte, wussten die Menschen, dass sein lautes Lachen nur eine Fassade gewesen war. Am meisten vermisste er Else, seine Frau. Er umfasste den makellosen Stamm einer Buche und streichelte ihn, dachte an Elses weiche Haut, ihren Kampfgeist. Gegen Brustkrebs war auch sie machtlos gewesen.
Das Geräusch von raschelnden Blättern ließ ihn aufhorchen. Ein Tier lief hurtig auf seinen kleinen Füßen aus dem Gehölz. War es eine Ratte? Er konnte keinen Schwanz erkennen. Als er sich dem Tier näherte, rollte sich das Wesen zu einer Kugel. Seine Stachel glitzerten silbern im Mondschein. Lächelnd betrachtete er den kleinen Verwandlungskünstler.
Der Schmerz kam von hinten und traf ihn vollkommen unerwartet. Zähne bohrten sich messerscharf in seinen linken Oberschenkel und zwangen ihn zu Boden. Die Erde war kalt. Sie roch modrig. Eine hechelnde Zunge näherte sich. Fauliger Atem schlug ihm entgegen. Er spürte, wie Blut an seinen Beinen entlang lief. Böse Augen starrten ihn an.

Letzte Aktualisierung: 08.12.2009 - 21.34 Uhr
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