Das Ruhrgebiet ist etwas besonderes, weil zwischen Dortmund und Duisburg, zwischen Marl und Witten ganz besondere Menschen leben. Wir haben diesem Geist nachgespürt.
‚Hi, hier ist der Anschluss von Jan. Ich bin zurzeit nicht zu Hause oder anderweitig beschäftigt. Wenn Ihr Lust habt, eine Message zu hinterlassen ...
Just do it!’
Kurz nach dem Signal ertönte eine panische Stimme:
„Ey, Alter, was ist los mit dir? Hier sind Mike und Eddie. Wir machen uns krasse Sorgen. Du gehst nicht ans Phone und rufst auch nicht zurück. Ist alles klar bei dir?
Okay, wenn du nicht willst, dass ich die Bullen rufe und die dein Gras finden, dann mel ...“
Eine Stimme ergänzte die Ansage mit dem Satz, dass das Gerät wegen Überfüllung geschlossen sei. Jan sah gelangweilt zum Anrufbeantworter und überlegte, ob er das Band löschen sollte, um Platz für neue Texte zu schaffen.
Dann blickte er zum Monitor und auf das Geschehen hinter der Scheibe. Er würde sich später darum kümmern. Im Moment gab es Wichtigeres zu tun.
Ohne den Blick vom Bildschirm zu lösen, schob er sich den Strohhalm in den Mund und nahm einen Schluck abgestandener Cola.
Die aktuelle Quest war echt ein harter Brocken. Eine Ewigkeit saß er nun schon vor diesem Spiel, während er in die Weiten dieser künstlichen Welt starrte und über eine Lösung nachdachte.
Er brauchte nur noch eine Stufe aufzusteigen, um das höchste Level zu erreichen. So eine Herausforderung hatte er bisher noch nie erlebt. Aber war es nicht genau das, was er wollte und hätte sich das monatelange Warten auf dieses Spiel gelohnt, wenn es ihn nicht an sein Limit bringen würde?
Ein Magenkrampf beendete schlagartig seine Gedanken und den virtuellen Ausflug. Jan sank ruckartig nach vorn und schlang mit schmerzverzerrtem Gesicht seine Arme um den Körper. Stöhnend saß er ein paar Sekunden da. Nach und nach entspannte er sich und rieb über die Stelle, unter der sein Magen rebellierte. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es kein Wunder war, wenn er vor Hunger fast zusammenbrach. Viel zu lange hatte er nichts Vernünftiges zu sich genommen. Er musste eine kleine Pause einlegen, um wieder zu Kräften zu kommen.
Widerwillig steuerte er seinen Avatar in die `Heiligen Hallen der Helden´. Hier würde dieser ungestört ausruhen können, während er einen Abstecher in die Küche machte.
Gerade, als er aufgestanden war, hielt er inne. Er spürte einen inneren Drang, der ihn zurück auf seinen Stuhl verfrachten wollte. Seine Hände fingen an zu schwitzen und Bilder des Ablebens seines Recken, während seiner Abwesenheit, übermannten ihn.
Was, wenn er etwas Wichtiges verpassen würde? Er biss sich auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf. Im Ruhemodus konnte er nicht angegriffen werden.
Ein Knurren und die damit verbundene Angst vor einem neuen Krampf erinnerten ihn an sein ursprüngliches Vorhaben.
Als er sich umdrehte, erblickte er einen dunklen, chaotischen Raum, der keine Ähnlichkeit mehr mit seinem Zimmer hatte. Er sah eher wie der Belag auf der Pizza aus, die seit Tagen neben seinem Bett vor sich hinschimmelte. Wie es roch, wollte Jan nicht wissen. Da er selbst seit Wochen Inventar dieses Raumes war, ahnte er, wie bestialisch es stinken musste.
Er riss das Fenster auf und füllte seine Lungen mit Sauerstoff, der mit der kalten Luft hineinströmte. Ihm wurde ein bisschen schwindelig. In der Brise lag etwas Seltsames, das er nicht einzuordnen wusste. Jan zog die Stirn kraus. Konnte es sein, dass es nach Blut roch? Schnüffelnd hielt er die Nase in die Dunkelheit. Nichts. Er musste sich getäuscht haben. Dann verließ er sein Zimmer und ging zum Kühlschrank.
Die Ausbeute war lächerlich. Ein verschrumpelter Kohlkopf, eine Flasche Ketchup und eine leere Käsepackung. Mehr nicht. Ihm wurde bewusst, wie lange er in seiner Bude gehockt und die Außenwelt, insbesondere den Supermarkt, gemieden hatte.
Ein weiteres Mal würde der Pizzaservice herhalten müssen.
Er wählte die Nummer, während er hastig den Flyer durchblätterte.
„Hallo, hier Pizza Planet. Wie kann ich Ihnen helfen?“
Jan räusperte nach tagelangem Schweigen erst einmal den Frosch aus seinem Hals.
„Hi, ich hätte gerne eine Pizza Speziale und zwei Flaschen ...“
Sein Gegenüber unterbrach ihn abrupt. Ungeduld schwang darin mit.
„Hallo, hier Pizza Planet. Ist dort jemand?“
Jan versuchte erneut, seine Bestellung aufzugeben. Doch auch dieses Mal verstand ihn der Pizzatyp nicht. Das Gespräch wurde mit einem Klick beendet.
„Arschloch“, murmelte Jan.
Nach mehreren Minuten und weiteren gescheiterten Versuchen gab er es auf. Sein Telefon musste kaputt sein.
Ein letzter Blick auf seinen Monitor ließ ihn zögern. Dann beschloss er, zur Imbissbude zu flitzen.
Er zog sich seinen Parka über, schlüpfte in seine Schuhe und verließ die Wohnung.
Es war kälter als er gedachte hatte. Er hatte das Gefühl, Watte in den Ohren zu haben. Das einzige Geräusch weit und breit waren seine Schritte auf dem Asphalt.
Der Geruch nach vermeintlichem Blut lag wieder in der Luft. Jan fühlte sich unwohl. Er wollte sich so schnell wie möglich etwas zwischen die Kiemen schieben und dann nach Hause gehen, um endlich wieder in seine Welt einzutauchen und sich seiner Herausforderung zu stellen.
Er schob den Kopf tiefer zwischen die Schultern und machte sich auf den Weg. Nach ein paar Metern ließ ihn ein Schrei innehalten, während sich Gänsehaut über seinem Körper breitmachte. Brauchte jemand seine Hilfe? Er wusste nicht, was er tun sollte. Dann ein weiterer Schrei. Jan rannte los.
Nach ein paar Minuten kam er erschöpft am Ort des Geschehens an.
Als er um die Ecke bog und in die Gasse vor sich blickte, stockte ihm der Atem.
Knapp fünfzig Meter von ihm entfernt stand eine Gestalt, die den verzerrten Kopf in den Himmel streckte und erneut schrie. Blasse, fleischige Haut, gespickt mit eitrigen, wabernden Wunden, überzog den Korpus des Ungetüms. Ein Leuchten umhüllte den Körper, als würden ihn kleine Feen umkreisen. Dabei fiel Licht auf die blutigen Beine einer leblosen Frau, die direkt vor der Kreatur lag. Kurz darauf riss die Haut des Wesens auseinander, als wäre sie ihm zu eng geworden. Wie bei einer sich häutenden Schlange brach etwas hervor, das schnüffelnd die Nase in den Wind hielt. Jan stand wie gebannt da, als wäre er fest mit dem Boden verankert, und ahnte, dass es ihn roch.
Die Metamorphose dauerte nur wenige Augenblicke. Dann stand das Geschöpf aufrecht da und schaute Jan eindringlich an. Hörner bedeckten den fleischfarbenen Schädel, während das Maul aus einem euterähnlichen Gebilde bestand. Anstelle der Zitzen fingerten blutige Tentakel in seine Richtung. Da keine Nase mehr vorhanden war, schienen diese nun als Sensor zu fungieren und den Geruch von Jan aufzunehmen.
Erst jetzt erkannte er voller Entsetzen, wer ihm gegenüberstand. Wie war das möglich? Obwohl seine Augen ihm etwas anderes zeigten, zweifelte er an seinem Verstand. Dann brüllte das Ding ein letztes Mal und spurtete auf ihn zu.
Blitzschnell reagierte Jan und rannte um sein Leben. Er besaß keine Waffen, um dieses Monster unschädlich zu machen.
Mit einem Tritt öffnete er die Tür zu einem Hauseingang und stolperte die Treppe hoch.
Als er die zweite Etage erreicht hatte, hörte er, wie die Tür erneut gegen die Wand schlug.
Es hatte seine Fährte aufgenommen und war nun knapp hinter ihm. Jan fluchte.
Zwei Stufen auf einmal nehmend hastete er bis ins letzte Stockwerk. Er war nicht mehr sicher, ob es eine kluge Idee gewesen war, in ein Haus zu flüchten. Aber andererseits hätte er auf offener Straße keine fünf Sekunden überlebt. Das wusste er.
Zu seiner Enttäuschung gab es keinen Dachboden, der die einzelnen Häuser miteinander verband und somit einen guten Fluchtweg ermöglicht hätte. Jan steckte in einer Sackgasse. Voller Panik schaute er sich um und überlegte, was er tun sollte.
Die Kreatur schien die Situation genauso einzuschätzen und erklomm gemächlich und grinsend die letzten Stufen. Sie hatte Jan da, wo sie ihn haben wollte.
„Na, Jan. Was sagst du nun?“
Die Stimme klang blechern, wie eine alte Grammofonplatte. Das Maul bewegte sich nicht. Nur Geifer tropfte zwischen den Tentakeln hervor, die wild zappelnd, wie gierige Zombiehände, nach ihm greifen wollten.
„Ich habe schon so lange darauf gewartet, dich einmal allein zu erwischen.
Nun ist mein Wunsch in Erfüllung gegangen und ich werde es genießen, dich in Stücke zu zerhacken.“
Dabei bewegte sie die Krallen wie einen Fächer, während ihre Zähne im fahlen Mondschein blitzten. Eben noch von Angst erfüllt, hörte Jan diese Worte, doch berührten sie ihn nun nicht mehr. Im Gegenteil.
Er spürte, dass in ihm etwas aufstieg und ihm eine unendliche Kraft verlieh.
Mit geschlossenen Lidern legte er den Kopf in den Nacken und ballte die Hände zu Fäusten.
Sekunden später riss er die Augen auf und ein blaues Leuchten erhellte sie.
Um ihn herum fingen die Mauern an zu wackeln und ein tosender Lärm erfüllte den Raum.
Plötzlich schossen Blitze aus Jans Fingerspitzen und durchbohrten das Monstrum. Es schrie und wand sich, während Lichtstrahlen von innen herausbrachen. Die Kreatur fing an zu pulsieren, wie ein zu groß geratenes Herz, und explodierte mit einem ohrenbetäubenden Knall. Blut, Innereien und Gedärme flogen durch die Luft und bedeckten, in einem Radius von mehreren Metern, den Hausflur.
Als es vorbei war und die Ruhe wiederkehrte, sank Jan erschöpft zu Boden. Er konnte noch nicht fassen, was geschehen war. Hatte er dies alles geträumt?
Dann wurde er ergriffen. Dieses Mal war er derjenige, der von Lichtpunkten umkreist wurde. Alles um ihn herum löste sich auf. Durch die Wände sah er, wie sich seine Welt verwandelte.
Unbekannte Pflanzen in den herrlichsten Farben und Bäume, die so hoch wie Wolkenkratzer waren. Tiere, die er vorher nie gesehen hatte und Lebewesen mit den unterschiedlichsten Körpern flanierten durch das Areal.
Er hatte das höchste Level erreicht.
Eine letzte Erinnerung bildete sich vor seinem geistigen Auge, bevor er ganz und gar verschlungen wurde.
In Gedanken las er noch einmal die Rückseite der Spielverpackung.
Die neue Generation der Online-Rollenspiele:
„Werden Sie die letzte Stufe der/von ‚E-VOLUTION’ ™ erreichen?“
Dieses Mal hatten sie nicht übertrieben.
Letzte Aktualisierung: 27.12.2009 - 11.45 Uhr Dieser Text enthält 10152 Zeichen.