Das Ruhrgebiet ist etwas besonderes, weil zwischen Dortmund und Duisburg, zwischen Marl und Witten ganz besondere Menschen leben. Wir haben diesem Geist nachgespürt.
Schönhauser Allee 104, Etage 3 von Marika Bergmann
Alle Jahre wieder! Kitschige Papiersterne und übergroße Christengel – wo man nur hinsieht.
„Wo bist du nur mit deinen Gedanken?“, fragt Sarah forschend.
„Früher hättest du es gewusst. Klappt wohl nicht mehr mit dem Gedankenlesen!“
„Nun sag, Anna! Treffen wir noch jemanden?“
Zucke zusammen und beiße mir auf die Unterlippe.
„Überraschung, warte es ab!“
Sarah, meine kleine Sarah. Du lächelst mit dem Ausdruck eines Kindes. Dein schwarzes Haar ist jetzt mit silbernen Fäden durchzogen. Es wirft Schatten auf dein gereiftes Gesicht. Du zerrst mich zu einem Kerzenstand.
„Anna, bin gleich wieder zurück und schön hier bleiben – versprochen?“
Ich warte. Sehe ins Licht der brennenden Kerzen. Eine Marienfigur aus Wachs mit Docht auf dem Haupt. Unter dem Schein der Kerze wird sie sich langsam auflösen, bis nur ein Stumpf aus Wachs übrig bleibt. Wie spitze Enden schwingender Peitschen stechen die Lichter in meine Augen. Muss nach unten sehen. Die Erinnerung an das Haus kommt hoch.
Wir warteten schon sehr, sehr lange in dem alten Gemäuer. Man hatte uns damals, als wir noch keine Gesichter hatten nicht gefragt, ob wir sein wollen oder nicht. Wir konnten dort nicht weg, es hielt uns fest.
Sarah stößt mich an, hält mir einen Flammkuchen entgegen und beißt genüsslich in ihr Grillschinkenbrötchen.
„Da, nimm!“
„Mmm! Du bist ein Engel!“
„Nicht mehr, wird auch höchste Zeit für dich!“
Fett trieft aus ihren Mundwinkeln. Sie kaut genüsslich auf der knusprigen Schwarte. Sehe plötzlich den Kopf einer Schlange in ihrem Mund. Sie züngelt in meine Richtung. Schüttle mich. Jetzt ist alles wieder normal. Beiße in den Zwiebelkuchen. Ein bitterer Geschmack legt sich auf meinen Gaumen.
„Was ist mit dir, mein goldener Lockenkopf? – Komm Anna, hab‘ schon kalte Füße!“
Sarah springt von einem Fuß auf den anderen. Es ist alles so anders. Versuche mir nichts anmerken zu lassen. An einer Blechtonne gleitet die Pappe mit Teig und Zwiebeln aus meiner Hand. Sarah ist so fröhlich, hakt sich bei mir ein und zieht mich mit. Würde ihr gern noch so viel sagen. Schweige. Sarah jauchzt: „Dann nichts wie hin zum Engelsplatz – der Weihnachtstrunk wartet schon!“
Beim dritten Glühwein kommt Ben. Er trägt einen dunklen Anzug mit dickem Wollschal.
„Na, Kleene!“
„Das ist Ben – mein neuer Nachbar.“
„Hey, Ben! Annas Beste. Sarah.“ Sie stößt mich mit dem Ellbogen an und flüstert mir zu:
„Du weißt gar nicht, was dir da entgeht. Mann, hat der schöne Augen!“
Mir wird schwindlig. Etwas schwirrt mir durch den Bauch und kitzelt.
Ben spendiert die nächsten zwei Runden.
„Na, nun guck mir mal in die Augen, Anna!“
Es geht nicht! Will ihm in die Augen sehen. Ganz bei ihm sein ...
Ich sehe auf seine vollen Lippen, während er spricht. Wir lachen. Die Zeit fliegt an uns vorbei.
„Es ist schon spät, muss los!“
Ben geht, dreht sich noch einmal zu mir, den Augenblick einfordernd. Für mich ist es wieder nur ein schmerzender, heller Strahl. Kann die Farbe seiner Augen nicht sehn.
„Bis morgen, Anna! Bye Sarah!“
„Bye!“
Ich schaue ihm nach.
„Hier! Du musst es Ben geben!“
Sarah legt mir etwas in die Hand.
„Tu es! Du liebst ihn!“
Starre auf das funkelnde Metall. Ein filigranes Ornament breitet sich wie ein Geflecht aus Adern in meiner Handfläche aus. Es pulsiert, übernimmt den Rhythmus meines Herzschlags. Sarah nickt mir wohlwollend zu.
„Schatz, das Amulett hat mir die Freiheit gegeben. Ich habe damals Johannes damit gerettet. Es ist jetzt auch für dich an der Zeit. Ben ist in Gefahr in dem Haus!“
Sie verließen das Haus vor dreiunddreißig Jahren – meine kleine Schwester Sarah und Johannes. Beide sind jetzt vom Fluch befreit.
Ich will auch frei sein.
Wir fanden einen Weg, uns jedes Jahr einmal auf dem Weihnachtsmarkt zu treffen – ohne, dass sie sich in Gefahr begeben würde. Sie ist mit den Jahren älter geworden. Ich bin immer noch achtundzwanzig, wie vor über hundert Jahren, als ich ein Gesicht bekam. Und nur zur Adventszeit kann ich sichtbar auf Erden wandeln.
Es ist kurz vor Mitternacht. Liege mit meinen Sachen auf dem Bett. Es dreht sich alles. Sehe an mir herab. Was bin ich nur? Ein einsames Wesen, das auf ewig sein Dasein in diesem jungen, schönen Körper fristet? Würde ich je vergessen können? Bilder aus der Vergangenheit schießen in mir hoch. Begleiter für wenige Stunden. Abschiede. Einsamkeit.
Jetzt dringt ein Tuscheln zu mir. Sie sind hier! „Holt ... Macht ... kein Entkommen ... Finsternis.“
Eine Beschwörung in Endlosschleifen hämmert in meinem Kopf. Bin ihnen ausgeliefert. Liege zwischen Eisenbahnschienen und ein Zug rattert auf mich zu. Dann ein Poltern und Klirren über mir. Kalter Schweiß liegt auf meiner Haut. Eiskristalle. Kann mich nicht bewegen. Das Gemurmel wird immer lauter. Versuche mich aufzurichten. Das Amulett – muss es Ben geben! Durchbreche den Panzer aus Eis. Stürze zu meinem Mantel, wühle in den Taschen. Schon wieder die Stimmen. Hab's! Halte das Amulett fest in meiner Hand. Ben braucht es! Sie sind bei ihm. Die Grenzen sind längst überschritten. Sie werden immer grausamer. Warten nicht mehr, geifern nach menschlichen Körpern, um ihren haltlosen Seelen Substanz zu geben.
Alles um mich herum beschleunigt – viele Jahre sind im Zeitraffer gebündelt.
„Verschwindet!“ „ Anna ... holen ihn ... Ben entkommt nicht!“
„Annnna, hilf miir!“
Bens Stimme! Taumele zum Türrahmen. Suche nach dem Lichtschalter. Es flackerte kurz hell auf. Das war’s! Das verfluchte Haus! Es kommt jetzt irgendwo Licht her. Schatten tanzen um mich herum. Die Fratzen schießen immer wieder auf mich zu.
„Geht zum Teufel, ich will nicht mehr!“
Ihre Hände wollen greifen. Sie stoppten kurz vor mir. Mein Körper ist wie ein Tongefäß, dessen Wände mich umschließen. Sehe durch zwei kleine Öffnungen und taste mich durch die Dunkelheit. „Anna, psssttssssss, Ben ... lass ihn gehen ... Anna, sipzzzzzzz.“
Das Licht kommt aus der Küche. Es spiegelt sich etwas an der Küchendecke. Ein Klopfen und Zischen folgt.
„Anna! Annaaaa – Hilf miiiiiiiir!“
Die Reflexe unter der Decke reißen auf. Ein Schlund aus Licht ist jetzt über mir. Wie eine Herzkammer öffnet er sich und zieht sich wieder zusammen. Ich sehe Bens Gesicht, das aus flirrenden Lichtpunkten zu mir spricht.
„Annaaaa!“
Das Amulett hebt sich am Band wie magnetisch angezogen zu der Öffnung. Es zieht ins Helle. Lehne mich dagegen, hole es zu mir heran, greife danach und halte es so fest ich nur kann. Es bewegt sich! Wird ganz heiß und zuckt, als würde es beginnen zu leben. Das Loch in der Decke verschwindet. Mit dem Schließen verstummten die Stimmen in einem Kanon aus Seufzen, Ächzen und Stöhnen. Ich schreie: „Neiiiin!“
Dann Stille. Stehe da wie eine Skulptur. Fühle Trommelklänge. Der Rhythmus, wie bei einem afrikanischen Ritual, hallt in mir. Die Stimme von Ben! Weit weg.
„Rette mich!“
Wieder dieses Inferno aus Licht. Wenn Ben ins Licht geht, sind wir beide verloren! Alles verschwimmt. Wie viel Zeit mag vergangen sein? Wähle den Notruf ...
Stehe nun auf Bens Etage. Höre aus seiner Wohnung wieder dieses Seufzen. Ganz deutlich! Eine Hand umklammert meinen Ellenbogen. Die Zeit steht für einen Moment still. Ben ist in Gefahr! – Ich muss ihm helfen!
„Ben Christ“, höre ich und sehe in die Richtung aus der die Stimme kommt. Die Sanitäter halten mich zurück ...
„Lassen Sie mich durch! Ich muss zu Ben!“ Die Tür springt auf.
Sie gehen hinein. Angewidert schreckt einer der Männer zurück.
„Na, wer das überlebt hat! Das sieht ja aus, als hätte man hier jemanden ausgewrungen – ekelhaft!“
„Oh Gott, was ist denn hier passiert?“, sagt der andere schluckend.
Beginne, mich zu winden, der Griff um meinen Arm löst sich. Der Erste bindet sich ein Tuch vor Mund und Nase und tappt durch die riesige Lache aus Erbrochenem. Es klingelt! Der Türöffner surrt. Der Notarzt schiebt sich an mir vorbei. Er rutscht aus und flucht, als er sich in der glitschigen Masse abfängt. Schleiche hinterher. Stehe im Türrahmen zum Schlafzimmer. Ben! Ich höre seine Stimme. Warum liegt er da so leblos auf dem Boden? Sie versuchen ihn wiederzubeleben. Gehe ins Zimmer. Meine Knie zittern.
„Lassen Sie die Frau nähertreten! Schaden kann es ihm nicht mehr.“
„Puls?“
„Nein. Atemstillstand! Das wird wohl nichts!“
„Sind Sie befreundet?“, fragt einer. Ich nicke.
„Hallo, junge Frau! Rufen Sie Ihren Freund mal so laut Sie nur können!“
„Ben, Ben!“, schreie ich aus Leibeskräften und stürze zu ihm. Er liegt vor seinem Bett. Sie haben ihn gerade an den Beinen unter dem Nachttisch hervorgezogen. Einer fühlt seinen Puls und sieht kopfschüttelnd in meine Richtung.
„Er ist hier, ich spüre ihn! So helfen Sie ihm doch!“
Kann es nicht glauben, fühle, dass er hier ist. Dann knie ich neben ihm. Hebe seinen Kopf und lege das Amulett um seinen Hals. Es liegt jetzt auf seiner Brust – ist noch ganz warm, als es meiner Hand entgleitet. Jemand zieht mich hoch.
„Kindchen, treten Sie bitte zur Seite!“
Es brennt und sticht in meinen Kopf. Ich fühle mich atmen. Es ist ganz anders als sonst – behaglich und warm. Die Wärme dringt an die kalte Oberfläche meiner Haut und hinterlässt winzig kleine Hügel, die furchtbar stechen. Verschränke die Arme. Ein feuchter Film benetzt meine Augen, löst sich und läuft mir über die Wangen. Sinke auf die Bettkante. Ich schmecke etwas auf meinen Lippen. Es ist salzig. Lege meine Hände in den Schoß. Ob das Tränen sind? Dieses Gefühl kenne ich nicht.
Wir Engel können doch nicht weinen!
„Er lebt – ich weiß es!“
Jetzt kommt jemand zurück, rammt mit seinem gesamten Körpergewicht seine Hände auf Bens Brust. Es knackt laut. Zucke im gleichen Moment zusammen. Eine glühende Schlange stößt durch mich hindurch. Mir wird schwarz vor Augen. Sehe das Amulett aufblitzen. Dann ist es verschwunden.
„Puls!“
Ben zieht die Luft mit einem Ruck ein. Atmet. Es ist, als wäre er aus Tiefen aufgetaucht, aus Tiefen der Anderswelt ... er lebt! Sein Blick brennt auf mir. Es tut sehr weh. Ein starker, unnachgiebiger Schmerz. Befreiender Schmerz, wie ein Kuss. Lächle. Sehe in seine Augen.
Letzte Aktualisierung: 20.12.2009 - 21.19 Uhr Dieser Text enthält 10300 Zeichen.