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Dezember 2009
Eins, zwei, drei
von Marie Brand

„Jetzt sag doch mal was!“ Manfred setzte den Kaffeebecher hart auf der Theke ihrer ahornfarbigen Einbauküche ab und sah seine Frau herausfordernd an. Sie hob langsam den Kopf und blickte ihn an. Einen Moment später öffnete sich tatsächlich ihr Mund. Bis zu ihrem ersten Satz an diesem Morgen vergingen aber noch Bruchteile von Sekunden, die sich für Manfred fast unerträglich lang dehnten. „Die Brote für die Kinder sind fertig, es fehlt nur noch der Saft“, war alles, was er zu hören bekam. Der leicht gequälte Unterton, die Mühe, die es ihr bereitete, die Worte zu formulieren. Manfred hörte das wohl, verstand es aber nicht. Sekundenlang hing das Schweigen wieder in der Luft. Ihr Blick war längst in eine andere Richtung abgewichen, verlor sich in einer Ferne, die nicht in ihrer Küche endete.
Jetzt konnte er sich nicht weiter damit aufhalten, er war schon spät dran. Mit einem Kopfschütteln holte er den Apfelsaft für die Kinder aus dem Kühlschrank, küsste sie flüchtig auf die Wange, nahm sich einen Apfel aus der Obstschale und eilte zur Haustür. „Bis nachher!“ rief er noch, dann verklangen seine Schritte auf dem Gartenweg.

Eine ganze Weile war es still für Magdalena. Sie bewegte sich erst wieder, als das Kratzen des Sekundenzeigers der Küchenuhr bis zu ihr vordrang. Auch das Brummen des Kühlschranks mischte plötzlich wieder mit im Orchester der Hausgeräusche. Magdalena sog die morgendliche Kaffeeluft ein und konzentrierte sich. Zwei Brote ohne Butter mit Leberwurst für Ben, dazu eine Gewürzgurke. Ein Brot mit Camembert und Butter für Lea, dazu ein Apfel. Die zwei Flaschen Apfelsaft platzierte sie neben den Broten. Links für Ben, rechts für Lea. Noch einmal holte sie tief Luft. Gleich würde der Sturmwind der Kinder durch die Küche fegen und die letzte Wärme mitnehmen. „Ciao Mama!“ klang es noch, bevor die Haustür ins Schloss krachte. Die Schallwelle verebbte und ließ Magdalena in der Mitte der Küche zurück.
Das Kratzen der Uhr verlor sich. Magdalena wagte nicht zu atmen. Ganz langsam wandte sie den Kopf zum Kühlschrank. Kein Geräusch drang zu ihr, aber sie konnte förmlich den feinen Nebel sehen, der an der unteren Seite der Kühlschranktür entlang glitt, allmählich in die Küche strömte und sich den Raum kalt eroberte. Magdalena spürte, wie die warme Luft fortgedrängt wurde, wie sich ihre Haut zur Gänsehaut wölbte. Sie wich einen Schritt zurück, dann noch einen, bis sie schon die Theke im Rücken fühlte. Ihre Hände tasteten nach dem Halt am Schrank darunter. Ihre Luft wurde knapp. Jetzt! Mit einer Anstrengung von fünf Schritten gelangte sie aus der Küche in den Essbereich. Weiter! Das Sofa war erreichbar, noch drei, noch zwei, noch ein Schritt – Magdalena sprang förmlich in die Ecke. In ihrem Kopf explodierte es fast, als der Atem wieder in sie hineinfloss, den vertrauten Geruch des Veloursstoffs mitbrachte. Ihr Blick ging an den angezogenen, von ihren Händen umfassten Knien nur bis zum beigen Bezug des zweiten Sitzes. Die Rückenlehne schirmte sie von der Küche ab. Bis hierher war der Nebel noch nie gekommen. Sie atmete ein und aus und ein und aus. Allmählich wurde sie ruhiger. Dann schlief sie ein.

Manfred wollte stark sein. Die Kinder waren jetzt auf ihn angewiesen, und sie brauchten einen festen Rhythmus, hatte der Psychologe ihm erklärt. Noch immer konnte er nicht begreifen, dass Magdalena nicht mehr da war. Nie wieder kommen würde. Mechanisch griff er zum Kühlschrank. Die Beerdigung war vorbei, der Alltag musste einkehren. Aber noch hatte er ein paar Tage frei, um alles zu organisieren. Er würde weiter ganztags arbeiten gehen, das stand fest. Für Ben und Lea hatte er schon eine neue Schule mit Nachmittagsbetreuung gefunden. Gut, dass Rosalie gekommen war und ihm in der Übergangszeit zur Seite stand. Doch vorerst schüttelte er seine Gedanken ab.
„Ben, Lea, kommt ihr? Tante Rosalie wird schon draußen warten!“
Kein wildes Getrappel auf der Treppe. Die Kinder schlichen beinahe lautlos in die Küche.
„Hier, eure Brote und was zu trinken“, versuchte Manfred es betont fröhlich. Ben blickte nur kurz zu ihm auf, Lea griff nach ihrer Apfelsaftflasche.
„Die ist gar nicht kalt.“
Schnell beugte er sich zu Lea hinab und nahm sie einfach nur in seine Arme. Wie froh war er, dass sie sprach. Seit einer Woche war von ihr nichts zu hören gewesen. Die Tränen schossen ihm in die Augen.
„Ich kümmere mich darum“, versprach er und drückte auch Ben kurz an sich, bevor er beiden einen Klaps verpasste und mit rauer Stimme „Jetzt aber los!“ rief.
Einige Momente lauschte er dem Schnappen der Tür und den verklingenden Schritten der Kinder. Ein Motor startete. Ach, Rosalie. Nun, er konnte sie auch heute mittag sprechen.
Allmählich löste sich der Kloß in seinem Hals auf. Das Spülgeschirr räumte er in die Spülmaschine in der Ordnung, die Magdalena ihm vorgegeben hatte. Magdalena. Er hätte sich mehr kümmern müssen. Sich die Zeit nehmen müssen. Sie zu einem Psychologen schleppen müssen. Verdammt. Hart schlug er die Tür der Spülmaschine zu.
Manchmal ist es einfach zu spät im Leben. Sein Blick verfing sich an der Küchenuhr, deren Sekundenzeiger sich unerbittlich mit diesem schabenden Geräusch vorwärts schob.
Wütend schleuderte er das Geschirrtuch zu Boden, weil es gerade das Nächstliegende war. Er wollte noch hinterher treten, als sein Blick daneben auf den Boden fiel. Eine feuchte Spur zeigte sich vor dem Kühlschrank.
„Das hat mir gerade noch gefehlt. Musst du Mistding jetzt kaputt gehen?“ Damit trat er lieber den Kühlschrank und fühlte sich einigermaßen befriedigt. Als nächstes zog er den Stecker heraus, und mit einem Seufzer und einem letzten Zittern war das Ding dann endlich aus. Das Geschirrtuch stopfte Manfred vor das Leck.
Manfred lehnte sich an die Theke und schloss die Augen. Tief ein- und ausatmen. Seine Wut beruhigte sich.
Er fröstelte.
Als er die Augen öffnete, hatte er genug von der Küche und wandte sich dem Wohnzimmer zu. Die Sonne schickte ihre Strahlen durch die Terrassentür. Fast glaubte er, Magdalenas Lachen aus den Sofakissen zu hören. Er setzte sich auf ihren Platz und strich über den Stoff. Eins der Kissen drückte er an sich. Der Duft von Magdalena breitete sich in ihm aus.
Erst spät bemerkte er, dass die Sonne sich hinter eine Wolke zurückgezogen hatte und ein Schwaden unter dem Sofa hervorquoll und höher stieg. Manfred zog die Füße an. Magdalenas Duft verlor sich in einem sauren Geruch, dem er sich nicht entziehen konnte. In seiner Nase kribbelte es, aber er war unfähig, sich auch nur zu rühren. Kälte schlich um ihn herum, streifte seine Haut, deren Härchen sich aufstellten. Seine Arme hielten immer noch das Kissen umklammert, als er zur Seite sank und sein Blick in eine Ferne hinter den Wolken strebte.

Lea auf dem Arm und Ben an der Hand richtete Rosalie den Blick auf das Haus.
„Wir packen nur noch ein paar Sachen zusammen, und morgen sind wir in der neuen Wohnung“, machte sie sich und den Kindern Mut. Entschlossen stieß sie mit dem Fuß das Gartentor auf und zog Ben mit zur Haustür.
„Wo habt ihr denn die Koffer?“, fragte sie Ben und betrat den dunklen Korridor.
Ben zeigte in Richtung Keller und verschwand dann mit Lea im oberen Stockwerk.
Die Koffer waren schnell gefunden und ins Wohnzimmer gebracht. Viel blieb für Rosalie nicht zu tun, so dass sie sich in der Küche erst einmal einen Kaffee aufsetzte. Gluckernd machte sich die Maschine an die Arbeit und bald stieg Rosalie der wärmende Duft in die Nase. Ein Viertel vor acht abends. Die Zeiger der Küchenuhr schabten voran. Die Kinder würden froh sein, morgen früh das Haus verlassen zu können. Besser wäre heute, aber Rosalie wollte nicht im Dunkeln die weite Strecke mit dem Auto fahren. Außerdem sollten die Kinder genug Zeit für den Abschied haben. Ein neues Leben würde für sie alle beginnen. Rosalie schüttelte den Kopf. Nie hätte sie geglaubt, dass sie plötzlich Tante rund um die Uhr sein würde als Mutter- und Vaterersatz. Aber sie würden es schon schaffen. Da war sie sich sicher. Ihre Finger wärmten sich an der Kaffeetasse, sie blieb versunken in Gedanken an die Küchentheke gelehnt stehen. Die Schritte der Kinder auf der Treppe holten sie aus weiteren Grübeleien zurück.
„Na, schon alles gepackt?“
Ben nickte.
„Dann machen wir uns mal fertig fürs Bett. Schade, dass ihr kein Gästezimmer habt. Ich schlafe dann im Wohnzimmer.“
Die Augen von Ben und Lea konnten gar nicht größer werden. Entsetzen sprach aus ihnen.
„Nein, ich schlafe nicht auf dem Sofa. Ich lege mich mit der Isomatte auf den Teppich. Es wird schon gehen.“
Als sie sich umwandte, fiel ihr Blick auf den mannshohen Kühlschrank.
„Meint ihr, wir sollten auch Möbel mitnehmen?“, fragte sie, ohne ihre Augen vom Kühlschrank zu wenden. „Wir könnten sie einer Spedition anvertrauen.“
Ben griff nach der Hand seiner Schwester.
„Der Kühlschrank zum Beispiel wäre echt klasse. Toll für Magnete.“
Ben drückte die Hand seiner Schwester fest.
Da Rosalie gar nichts von den Kindern hörte, wandte sie sich endlich ihnen zu.
„Was meint ihr? Den könnten wir doch gebrauchen.“
Bens Finger krallten sich an seine Schwester. In einer gewaltigen Woge stürzte Rosalie von den Kindern ein entsetztes „NEIN“ entgegen. Gleichzeitig stolperten sie zurück, klammerten sich aneinander. Rosalie vernahm ein Zischen und Spucken und Fauchen, bevor sie die Kälte fühlte und den weißen Dunst aufsteigen sah.

Letzte Aktualisierung: 21.12.2009 - 21.20 Uhr
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