Aus den Gullydeckeln der schlafenden Stadt krochen zarte Nebenschleier. Straßenlaternen und Neonschriftzüge an den Geschäften vertrieben die Dunkelheit und erweckten sie gleichzeitig zum Leben. Ein streunender Hund suchte nach essbaren Abfällen in den Blechtonnen einer Seitengasse hinter einem Diner. Die Hitze eines quälend langen Sommertages hatte immer noch nicht nachgelassen. Die kleine Stadt atmete schwer. Selbst die Musik und das Lachen aus dem Spielcasino waren mittlerweile verstummt.
Der Hund hob den Kopf. Seine feinen Ohren hatten etwas vernommen, was nicht in diese Nacht gehörte. Er witterte. Es roch nach einem aufziehenden Gewitter und der sternenklare Himmel begann bereits, sich mit dunklen Schleiern zu bedecken. Aber da war noch etwas anderes. Etwas, dass Menschen nicht hören konnten. Es klang süß, verführerisch, wie eine unheilvolle Melodie. Der Straßenköter mit dem struppigen, senfbraunen Fell fiepte leise. Er begann zu laufen. Der Hund war der Einzige, der in dieser Nacht die Stadt verließ.
Sie kamen mit den Schatten der Wolken, die die Sterne inzwischen ausgelöscht hatten. Das Grollen des zunächst fernen Donners war lauter geworden und mit ihm das sehnsüchtige Klagen einer Violine. Lautlos schwebend zogen sie wie ein fremdes Heer in die menschenleeren Straßen ein. Große, dunkle Gestalten mit sanften Gesichtszügen und brennenden Augen. Die größte von ihnen spielte dieses Instrument mit virtuosen, schlanken Fingern. Der Bogen glitt im Rhythmus der Blitze über die Saiten, mal lauter, mal leiser forderte er zum Tanz auf, während sich die Eindringlinge den Häusern der Menschen näherten. Weder Mauern noch Türen schienen sie aufzuhalten. Sie glitten durch jeden Spalt, jedes Schlüsselloch als schwarzer Nebel, um sich danach wieder zu manifestieren. Oftmals hatten sie es um diese heiße Jahreszeit einfach, denn die Menschen schliefen bei offenen Fenstern. Vor den Fenstern der mehrstöckigen, alten Häuser hingen die obligatorischen Feuerleitern aus Metall, die es den ungebetenen Besuchern leicht machten.
Nur der Geiger in seinem langen schwarzen Umhang, die Kapuze über den Kopf gezogen, blieb draußen und zog durch die Straßen wie ein Zigeuner auf der Suche nach einem Almosen. Und sein Spiel zog die Bewohner von Almond Grove in den Bann, führte sie tief hinab in die Unterwelt, aus der es kein Entrinnen mehr gab. Die Tonlage seines Instruments war für menschliche Ohren nicht direkt hörbar, aber dennoch spürbar, ähnlich dem Infraschall.
Auch Emily Haynes ließ bei diesem heißen Wetter ihr Schlafzimmerfenster im zweiten Stock des Mietshauses nachts offen stehen. Neben ihr, auf dem Nachtisch, stand eine Flasche Wasser, um den nächtlichen Durst zu stillen. Ihr Unterbewusstsein nahm im Schlaf das Donnergrollen wahr, und weckte die Hoffnung eine Abkühlung am nächsten Morgen. Aber es nahm noch etwas anderes wahr. Eine klangvolle Weise, lockend und zärtlich, vom Tempo her ansteigend von Adagio bis Moderate, hin zu einem Presto und wieder zurück.
Unruhig wälzte die junge, hübsche Frau sich in den dünnen Laken hin und her. Kleine Schweißperlen glitzerten auf ihrer makellosen Stirn. Ihr Mund formte den Namen „John“ im Schlaf. Sie hatten sich gestritten am Abend zuvor, als sie ihren Verlobten wieder einmal gebeten hatte, mit dem Wetten aufzuhören und ihrer beider Zukunft nicht länger aus Spiel zu setzen. John war wütend davon gelaufen. Er hatte die Türe hinter sich zu geknallt. Es hatte nach einem endgültigen Abschied geklungen. Dieser Streit belastete Emily selbst im Traum und verstärkte ihre innere Unruhe nur noch mehr.
Dann, plötzlich, lag sie ganz still. Atmete tief und fest. Ein seltsam beruhigender Duft erfüllte ihre Umgebung. Ein Duft, wie man ihn sonst nur in alten Kirchen trifft. Nach Weihrauch, kühlem Wasser und alter Eiche, sanft und schwer. Er erinnerte Emily an ihre Kindheit, als sie noch regelmäßig mit ihren Eltern zum Sonntagsgottesdienst ging. Sie lächelte im Schlaf. Niemand sah dieses Lächeln, nur das Wesen, das mit diesem Duft in ihr Schlafzimmer eingedrungen war und ihre Gedanken und Träume erforschte, bis es das fand, was es suchte. Es nahm die Züge ihres geliebten John an, noch bevor sie die Augen aufschlug.
Ein Blitz erhellte das Zimmer in einem Bruchteil von Sekunden und Emily schreckte hoch. Dann erblickte sie das vertraute Gesicht ihres Verlobten, der auf ihrer Bettkante saß. Erleichtert streckte sie zur Versöhnung die Arme nach ihm aus. John beugte sich über sie, strich das verschwitzte, dunkelbraune Haar zurück. Seine Lippen näherten sich ihrem Mund, der seinen Kuss schon sehnsüchtig erwartete. Seine Lippen waren kühl, ebenso wie seine Hände, die wie ein Windhauch sie nun überall liebkosten. Seine Küsse prickelten wie Sekt auf ihrer Haut und führten sie in eine Art Trance, der sich Emily willenlos hingab. Ab und zu erhellte ein Blitz das Zimmer und warf das Liebesspiel des jungen Paares als Schattenornament an die Wand gegenüber dem Fenster. Trotz des Gewitters schien die Hitze eher zuzunehmen, und das nicht nur in Emilys Schlafzimmer.
Währenddessen erreichte draußen das Spiel der Violine ein Crescendo, das nur noch vom tosenden Donner übertönt wurde.
Dann wurde es still, unglaublich still. Am Himmel türmten sich die schwarzen Wolken zu Gebirgen auf. Und in Emilys Schlafzimmer färbte sich das weiße Baumwoll-Laken blutrot, sog die letzten Tropfen auf, die das Wesen in ihrem Körper zurück gelassen hatte. Emily selbst starrte mit glasigen, hilflosen Augen an die Decke. Ein seltsames Lächeln umspielte ihren Mund. So wie ihr erging es in dieser Nacht allen Bewohnern in Almond Grove, aber nicht alle hatten einen so schönen, liebevollen Tod.
Leise begann eine andere Melodie, die von der Straße heraufzog und die Schattenwesen aus den Häusern der Menschen lockte. Einer nach dem anderen verschwand, wie er gekommen war, bis als letztes die Gestalt mit der Violine sich auflöste und der letzte Ton verklang.
Endlich kam der Regen, oder besser gesagt, eine Sturmflut. Es schüttete wie aus Eimern aus den dunklen Wolkenbergen, die sich zuvor bedrohlich über der Stadt aufgetürmt hatten.
* * *
Am nächsten Morgen fuhr Sheriff Tucker mit seinem alten Polizeiwagen aus der nächstgelegenen Stadt in ein blank geputztes, von der Sonne beschienenes Almond Grove. Nur die Feuchtigkeit hatte sich noch nicht ganz verzogen. Es tropfte noch immer von den Bäumen und den Dächern. Das verbliebene Regenwasser floss über die verstopften Dachrinnen in die schon übervollen Regentonnen und bildete kleine Sturzbäche in den Rinnsteinen. Die Sonne stand bereits wieder seit Stunden am Himmel und drohte erneut mit einem brütendheißen Tag, der durch die Luftfeuchtigkeit das Atmen erschwerte.
Die Bewohner der Stadt waren telefonisch nicht zu erreichen gewesen, obwohl keine Störung vorlag und einige der Angehörigen hatten ihn informiert. Sheriff Tucker klopfte an allen Türen vergebens. Niemand öffnete ihm. Aber nicht allein das brachte ihn mit seiner Leibesfülle zum Schwitzen. Er überlegte kurz. Schließlich holte er ein Brecheisen aus seinem Kofferraum und brach die Tür eines der Einfamilienhäuser gewaltsam auf. Im Schlafzimmer fand er die Ursache dafür, dass ihm niemand aufgemacht hatte. Der alte Mann dort war keines natürlichen Todes gestorben, das bewiesen allein die Bisswunden am Hals und die rostfarbenen Flecken auf der ohnehin nicht sauberen Bettwäsche. Ein alter Ventilator brummte noch immer neben dem Bett und versuchte vergebens, für Kühlung zu sorgen. Aber die war hier nicht mehr nötig.
Nahezu das gleiche Bild bot sich dem Sheriff im Nachbarhaus. Unverzüglich informierte Tucker die Bundespolizei, die bereits wenige Stunden später eintraf.
* * *
„Sie scheinen sich alle nicht gewehrt zu haben. Merkwürdig.“, stellte Agent Stanley Ford fest, als er sich eifrig Notizen machte. Sie standen beide vor Tuckers Polizeiwagen, während zahlreiche Mitarbeiter des FBI in den umliegenden Häusern die Spuren sicherten.
„Eine Geisterstadt“, seufzte Sheriff Tucker nur, immer noch blass und sichtlich mitgenommen. Er wischte sich mit einem nicht mehr ganz sauberen Taschentuch den Schweiß von Stirn und Nacken und nahm einen kräftigen Schluck aus der Wasserflasche.
Der FBI-Agent im gepflegten Anzug sah ihn prüfend über seine Sonnenbrille hinweg an.
„Haben Sie eine Erklärung hierfür?“, fragte er ungewöhnlich kühl im Tonfall eines Steuerberaters. Tucker schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Almond Grove wirkte zwar nach außen hin gut bürgerlich“, bemerkte er dann, „aber hinter den Kulissen ging es weit weniger gesittet zu“, erklärte er weiter. „Schnapsbrennerei, Glücksspiel, Pferdewetten, Prostitution, eben ein beliebter Ort für die Geldwäsche der Mafia.“
Agent Ford schob die Sonnenbrille auf die Stirn. „Bandenkriege?“, fragte er nüchtern weiter.
Wieder verneinte der Sheriff. „Davon weiß ich nichts, bis jetzt gab es hier keine richtigen Gewaltverbrechen. Im Gegenteil, die Einwohner haben alle von dem schmutzigen Geld profitiert.“
„Aber dafür haben Sie hier wohl Massenmörder, die ihren Opfern das Blut aussaugen“, ergänzte der Bundesagent fast zynisch. Tucker zuckte ergeben die Schultern.
„Sieht aus, als hätte sich jemand an der gesamten Stadt gerächt, ganz egal, ob schuldig oder unschuldig“, resümierte Ford.
Tucker wurde bei diesem Satz noch ein bisschen blasser. Die längst vergessen geglaubten Bibelsprüche aus der Sonntagsschule kamen ihm wieder in den Sinn. „Wie in Sodom und Gomorrha…“, meinte er leise mehr zu sich selbst.
Ford hatte es dennoch gehört und zog die Augenbrauen hoch. „Wie bitte? Wir schreiben das Jahr 1930. Und in der Bibel steht nichts von Vampiren, soviel ich weiß“, grinste er.
Tucker blickte ihn aus wässrig-blauen Augen an, die den Gelegenheitstrinker verrieten. „Wissen Sie denn, welche Werkzeuge Gott zur Verfügung hat?“, gab er mit zitternder Stimme zur Antwort. Stanley Ford blickte ihn mitleidig an wie einen Geisteskranken. Dann drehte er sich wortlos herum und machte sich weiter Notizen.