Der himmelblaue Schmengeling
Der himmelblaue Schmengeling
Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
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Dezember 2009
Moorkind
von derhank und Evelyn Hasshoff

Ich bin Mere, Tochter von Obodra, der Wachsamen, der wahren Königin der Abodriten. Aber davon wusste ich nichts mehr, als mich der Singsang des gefrorenen Sees aus meinem tausendjährigen Schlaf erweckte.
Mein Körper war starr wie das Eis, in dem ich eingeschlossen lag. Nicht einmal meine von einer kalten, weißen Sonne geblendeten Augen konnte ich schließen. Ich war nur Kälte und Licht und lauschte dem sich nähernden Klirren von Schritten, die den Frost zum Schwingen brachten.
Dann tauchte ein Umriss über mir auf: jenseits der Eisdecke ein schmales Gesicht, hohe Wangenknochen und kleine, funkelnde Augen, vor Entsetzen geweitet. Doch aus Entsetzen wurde Neugier - und dann Freude. Die Frau ergriff einen Stein und zerschlug das Eis um mich herum, bis sie mich freigelegt hatte. Steif gefroren, voller Schlamm, doch glücklich war ich, weil Mutter - ja, es war Mutter! - mich packte und an sich drückte. Sie lachte, hielt mich hoch und lachte noch lauter, so laut, dass die Raben aufstoben und die knorrigen Eichen ihr Krächzen zurückwarfen. Das Moor war fest und glatt und die Sonne spiegelte sich darin. Damals, als man mich hineingeworfen hatte, war es ein düsterer, nebliger Sumpf gewesen.
Ich wusste noch immer nicht, wer ich war, als Mutter mich gereinigt und in eine Vitrine gelegt hatte. In mir kein anderes Bild, als die kalte Schwärze des Moors. Die Vitrine befand sich tief unter der Erde, in einer Höhle voller Kisten und Truhen, neben Schädeln, Wurzeln und eingelegtem Getier. Ich wollte strampeln, schreien, doch ich konnte nicht, blieb steif und stumm wie eine Puppe aus Holz. Mutter verschwand mit ihrer Öllampe, verschloss die schwere Tür und ließ mich in der Finsternis zurück.
Wochen, Monate lag ich unwissend da, lauschte dem Rattengezwitscher und wartete sehnsüchtig auf Mutter. Manchmal kam sie, putzte mich oder kratzte mit einem kleinen Messer den Schimmel von meiner Haut.
Und eines Tages geschah ein Wunder: Während sie versuchte, eine Assel aus meinen Nasenlöchern zu entfernen, schnitt sie sich in den Finger, sagte nur "Au!" und machte weiter, bis sie das Tierchen hatte. Dabei tropfte etwas von ihrem Blut auf meine Lippen. Ich leckte es ab. Mutter riss die Augen auf. Ich hatte mich bewegt! Ihr Blut schmeckte süß und wärmte meinen ausgedorrten Leib. Sie schrie und rannte davon.
Erst am nächsten Tag kam sie zurück, sah mich neugierig an und schnitt sich diesmal mit Absicht in den Finger. Schon der Geruch ließ mich vibrieren. Sie strich den blutigen Daumen über meine Lippen, und ich schmatzte hungrig und war so gierig, dass sich meine Babyzähne in ihr Fleisch drückten. Als sie erschrocken zurücksprang, wäre ich fast an ihr hängen geblieben.
"Du kleiner Bastard!", rief sie. Ach Mutter, es tut mir leid, dachte ich. Sie beruhigte sich. Dann schnitt sie sich noch einmal, diesmal in den Handrücken und ließ etwas Blut auf einen Löffel tropfen. Sie nahm mich vorsichtig in den Arm und gab mir von dem roten Saft zu trinken. Wohlig rekelte ich mich an ihrer Brust. Ich war heimgekehrt, war wieder ihr Kind!
Von da an fütterte sie mich jeden Tag. Meine lederne Haut wurde weich, und ich lernte, Arme, Beine und Finger zu bewegen. Ich durfte auf einer Decke liegen und immer ließ sie die brennende Öllampe zurück, wenn sie mich verließ.
Schließlich brachte Mutter mich hinauf. Diesmal erkannte ich den Weg: ein uralter Tunnel unter dem Moorsee, durch den sie mich oft getragen hatte, wenn sie mit ihren Mannen die feindlichen Reihen unterquerte.
Doch wie lange muss ich im Moor gelegen haben! Die Küche, in der ich als Prinzessin erste, tapsige Schritte machte, war nicht wiederzuerkennen. Wo war die Feuerstelle, an der sich die müden Krieger erholten? Wo das eiserne Kochgeschirr, die Fasanen und Lammkeulen? Nichts, nur ein Mann, der seltsam blanke Bilder auf dem Tisch sortierte: Tiere auf einer wie aus Pech gegossenen Straße, Kadaver, grausam entstellt von Keulen oder Steinen. War das mein Vater? Mutter schien überrascht, ihn anzutreffen und hielt mich fest an sich gedrückt.
"Josef", sagte sie, "hast du neue Fotos?" Sogar die Sprache hatte sich verändert. Es war schwer, sie zu verstehen.
"Hier, eine Wildkatze, lag am Abzweig nach Ratzeburg."
Die Katze war unglaublich fein gezeichnet, als wäre sie selbst zu Papier geworden.
"Und was hast du gefun… ?"
"Hast du deine Eltern angerufen?", unterbrach sie ihn.
Er schaute zur Seite, blinzelte, aber er sagte nichts.
"Hast du?"
Er stammelte: "Ja, sie … sie wollen sich mit uns - mit dir einigen."
"Es gibt nichts zu einigen! Das ist mein Land, und hier wird keine Straße gebaut!"
"Ja, natürlich, ich will auch nicht, dass das Moor zerstört wird. Aber mein Vater, ich meine diese Idee mit den Wirtschaftsparks, das ist … sein Traum."
"Traum? Seit wann hast du Verständnis für Träume, vor denen du selbst geflohen bist? Du gehörst jetzt zu mir! Wir werden diesen Albtraum verhindern!"
Während sie sprach, war er in sich zusammengesunken. Sein Mund zitterte.
"Du weißt nichts von Albträumen!", fuhr er sie plötzlich an. "Seit Wochen werden sie immer schlimmer, immer … echter. Meine Eltern wollen mit mir in eine Klinik."
"Nein!", Mutter wurde laut.
"Du weißt nicht, wie es sich anfühlt", erwiderte er, "Frauen und Kinder mit einem Schwert zu erschlagen! Seit ich klein bin, träume ich, ein blutrünstiger Krieger zu sein, als wäre dieser Krieger ein Geist in mir! Dabei hasse ich Krieg!"
"Josef!"
"Und seit ich hier wohne, sitzt nachts dieses Monster auf meinem Bauch, diese schwarze, hässliche Putte, und drückt mir die Kehle zu, …"
"Josef, ich weiß, aber …"
"Was … was ist das?"
"Josef, das ist ein Baby! Mein Baby, unser Baby …", und sie legte mich vorsichtig neben seine Bilder. Dieser angewiderte Blick, das war nicht mein Vater. Das war überhaupt keiner von uns! Und doch kam er mir bekannt vor …
Mutter erzählte ihm, wo sie mich gefunden hatte, erzählte von der Höhle und von dem Blut, das ich zum Leben brauchte.
"Ich bin vielleicht … verrückt", murmelte er, "ein Schwächling, für meinen Vater ein Versager, aber das hier …?"
"Josef!"
"Das ist PERVERS!!"
"Josef!", Mutter ging um den Tisch herum und strich ihm über die Wange. Er zitterte. Sie umarmte und streichelte ihn.
"Josef, seit Ewigkeiten liegt deine Familie im Streit mit meiner. Doch wenn wir unsere Tochter deinen Eltern zeigen, dann werden sie auf ihr Vorhaben verzichten."
"Unsere Tochter?"
"Wir müssen ihr auch von deinem Blut geben!"
"Mein Blut?" Angewidert löste er sich von ihr. Doch Mutter blieb hartnäckig, fasste seine Hände.
"Nicht viel, du wirst sehen, alles wird gut!"
Sie brauchte lange, ihn zu überzeugen. Schließlich ließ er sich mit einem Messer in die Hand stechen. Schon beim Anblick des herauströpfelnden Blutes zappelte ich gierig und schrie. Josef hielt widerstrebend meinen Kopf, damit Mutter mich füttern konnte.
"Sie ist so süß, die kleine Mere!"
"Mere?" Josef hielt sich die blutende Hand.
"Mere, unsere … deine Tochter."
Mutter brachte mich nach oben und legte mich in einen Weidenkorb neben ihr Bett. Während sie mich zudeckte, stand er hinter ihr, betrachtete mich voller Abscheu, genauso wie mich damals … Gottschalk angesehen hatte.
"Josef", gurrte meine Mutter, "Josef, du warst so tapfer!" Sie legte die Arme um seinen Hals und küsste ihn.

Josef? Nein, du bist … Gottschalk! DU bist in jener Nacht zu unserer Burg gerudert, hast dich eingeschlichen wie ein Dieb, hocktest plötzlich im Fenster, während Mutter mich mit Schwefelsalbe einrieb, mich unsterblich machte mit Zauber und Rauch. Sie hat geweint, hat geahnt, dass sie mich verlieren würde. Ich habe dich gesehen, Gottschalk, und geschrien, doch dieses Mal war Obodra nicht wachsam gewesen.
"König Obodr!", hast du gebrüllt, "dass ich nicht lache! Obodr ist eine Frau, eine Hexe. Wir haben uns von einem Weib an der Nase herumführen lassen!"
Gottschalk, du hattest geglaubt, der Führer der aufständischen Slawen wäre ein kraftstrotzender Hüne. Doch es war die Klugheit meiner Mutter, die deine Truppen immer wieder in den Hinterhalt gelockt hat. Du hast die Herrschaft über die Abodriten an dich gerissen, aber sie verweigerte sich eurem Christengott, wollte nicht, dass ihr unser Land einebnet, durch Straßen zerfurcht und mit dem Moor auch unsere Götter vernichtet. Das Blut in meinem Bauch ist von dir, Gottschalk, und es schmeckt nach Hass. Es macht mich stark, stärker, als du je gewesen bist.

Ich wartete die Nacht ab und stemmte mich hoch, zerrte die Tücher beiseite und blickte grimmig über den Rand des Korbs. Da lag Gottschalk, der falsche Fürst, im Mondlicht neben meiner Mutter. Er wälzte sich unter seinen Albträumen, schon seit tausend Jahren plagte ihn sein Verbrechen.

Gottschalk, ich, Mere, Tochter der Obodra werde dich erlösen - und meine Mutter befreien. Damals musste ich hilflos mit ansehen, wie du sie zu Boden geworfen hast, geschlagen und gedemütigt. Ich habe geschrien, war nur ein Baby, das du gepackt hast, als Mutters Stolz gebrochen war. Mein Weinen hat dein Herz nicht gerührt. Du trugst mich zum Fenster, draußen der Regen und das endlose Moor, und du hast mich ohne zu zögern hineingeworfen!

Ich kroch über den Holzboden, zog mich an einem Laken hoch und kletterte auf seinen mageren Körper, der sich unter mir wand.

Gottschalk, du träumst von mir, und dein Albtraum wird gleich Wirklichkeit.

Ich hockte auf seiner Brust, betrachte das im Schlaf verzerrte Gesicht, dessen Augen sich plötzlich öffneten und mich erkannten. Doch schon bohrten sich meine kleinen Schneidezähne in seinen Hals.
Wir wälzten uns in den Kissen, während ich trank. Er würgte, spuckte und auch Mutter zerrte schreiend an mir. Doch ich lockerte den Biss erst, als mein Durst gestillt war. Mutter riss mich los und ich sah den falschen Abodritenfürsten in seinem Blut sterben - nur noch ein Zittern, dann war es still.

Mutter, nun hast du mich zurück! Du hältst mich wiegend vor deinen warmen, nackten Bauch, streichelst mich und weinst vor Glück. Hab keine Angst, Mutter, sie werden dir nichts mehr tun. Das Moor ist wieder unser.

Letzte Aktualisierung: 16.12.2009 - 20.57 Uhr
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