Wellensang
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Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
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Dezember 2009
Das Bild
von Kim Höpfner

Es lag auf dem Empfangstresen und schien auf mich zu warten: ein flaches rechteckiges Paket. Keine Absenderangaben, kein Empfänger. Sollte ich deswegen meinen Chef in der Toskana anrufen? Nein, das konnte bis zu seiner Rückkehr warten. Vermutlich waren darin Unterlagen für einen Fall, die den Eingangsstempel brauchten und ansonsten Zeit hatten, bis er wieder im Lande war. Ich riss das braune Packpapier auf und war überrascht: ein Ölgemälde auf einem Keilrahmen ohne Anschreiben. Irgendetwas Rotes schlängelte sich darauf. Weil ich genug zu tun hatte, brachte ich das Bild in mein Büro und stellte es neben der Tür an die Wand.
Für zwei Tage würde ich die Kanzlei allein führen und meinem Chef endlich beweisen, dass ich zu mehr imstande war, als Diktate runterzutippen, Post zu öffnen und Telefonate entgegenzunehmen. Hoch motiviert ging ich an die Arbeit.
Kurz vor Feierabend fiel mein Blick auf das geheimnisvolle Gemälde. Ich stand auf, um es genauer zu betrachten. Eine fette, rot glänzende, wurstförmige Kreatur, ohne Augen, ohne Mund, wand sich durch eine Wüstenlandschaft und schien an der unteren rechten Bildecke in die Realität kriechen zu wollen. Ich schluckte. Was für ein schauriges Motiv! Auf der Rückseite war ein Aufkleber: Der mongolische Todeswurm. Der mongolische was? Zurück an meinem Schreibtisch tippte ich gespannt die Worte bei Google ein. Die Suche ergab mehrere Hundert Treffer. Ich begann zu lesen: „ ... Aberglauben der Nomaden in der Wüste Gobi ... ist riesig und gefährlich ... “
Auf einmal fühlte ich mich beobachtet, als würde jemand durch die Tür lugen. Ich sah kurz auf, um mich zu vergewissern, dass ich allein war, und las weiter: „ ... tötet, ohne zu berühren, nur durch Gift verspritzen und Stromschläge versetzen ... die Farbe Gelb löst häufig seine Angriffe aus ... “ Doch, ich wurde beobachtet! Irgendjemand durchbohrte mich mit seinen Blicken. Langsam drehte ich mich zum Fenster hinter meinem Rücken um, ob dort jemand hineinschaute. Keiner zu sehen. Wie auch? Mein Büro befand sich im zweiten Stock. Das bildest du dir nur ein, es war ein anstrengender Tag, da können einem schon die Nerven durchgehen, dachte ich und rieb mir die Augen. Höchste Zeit, den PC und mich herunterzufahren und nach Hause zu gehen.
Tags darauf saß ich an meinem Schreibtisch und ärgerte mich mit der Buchhaltung herum, als ich plötzlich aus dem Augenwinkel heraus eine zappelnde Bewegung auf dem Gemälde bemerkte. Verwirrt schaute ich hinüber und erschrak. Der Wurm lag jetzt in der Mitte. Er rührte sich nicht. Ein mulmiges Gefühl machte sich in mir breit. Ich wusste mir nicht anders zu helfen, als in einem großen Bogen auf das Bild zuzugehen, es von hinten mit spitzen Fingern zu packen, zum Glück war es leicht, und ins Büro meines Chefs zu stellen.
Als ich wieder an meinem Schreibtisch saß, unfähig, mich auf Aktenkonten und Bankauszüge zu konzentrieren, weil sich die Kreatur in meinem Kopf eingenistet hatte, polterte es. Ich schreckte hoch. Kam das aus dem Zimmer meines Chefs? Am liebsten hätte ich mich im Büro verschanzt und nicht mehr vom Fleck gerührt. Aber ich war für die Kanzlei verantwortlich, also musste ich meine Angst überwinden und nachsehen. Mit klopfendem Herzen und schweißigen Händen schlich ich zu seinem Büro. Vorsichtig öffnete ich die Tür einen Spalt und sah diesen langen, wurstförmigen Schatten, wie er sich bedächtig vorwärts bewegte. Oh Gott, der Wurm war dem Bild entschlüpft! Ich rannte aus der Kanzlei und im Treppenhaus frontal in Herrn Kohlheim, meinen Chef.
„Tina, Sie sehen ganz blass aus. Ist was passiert?“ fragte er besorgt. „Ich habe einen früheren Flug genommen. Das Seminar war schneller zu Ende als angekündigt.“
„Gut, dass Sie wieder zurück sind. Mit dem Bild stimmt was nicht.“ Mann, war ich froh, ihn zu sehen. Trotzdem zitterte ich immer noch am ganzen Leib.
„Welches Bild?“
„Das vom Tresen.“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust, um mir selbst Halt zu geben.
„Ach das. Das habe ich am Samstag hier liegen lassen.“
„Wo haben Sie es bloß her?“
„Vom Trödelmarkt. Ein Händler hat es mir geradezu aufgedrängt und schien fast erleichtert zu sein, als ich es kaufte.“ Er sah mich prüfend an. „Und was soll damit nicht stimmen?“
Aufgeregt erzählte ich ihm alles.
„Das haben Sie sich nur eingebildet. Sie sollten nicht so viele Horrorbücher lesen“, spottete er. Von Besorgnis war keine Spur mehr.
„Meinen Sie etwa, ich sehe Gespenster?“ Nicht zu fassen, dass er meine Beobachtungen einfach als Einbildungen abtat!
„Kommen Sie, wir schauen mal nach.“
„Wenn Sie wollen“, sagte ich, „aber Sie gehen zuerst. Es steht in Ihrem Büro.“
Energisch schritt er voran. Widerwillig folgte ich ihm. Ich wollte nur noch nach Hause und das alles hier vergessen.
Das Bild lehnte einsam und verlassen auf einem Besuchersessel vor dem Schreibtisch, auf dem ich es am Vormittag abgestellt hatte. Und der Wurm? Der ruhte in der unteren rechten Bildecke. Was? Nein, das konnte nicht sein!
„Na bitte, kein entflohener Wurm. Es ist alles an seiner Stelle“, bemerkte er.
„Ja, aber ...“
„Nix aber! Ich werde es jetzt ins Auto bringen, damit Sie sich hier wieder wohl fühlen.“ Süffisant lächelte er mich an. Dann schnappte er sich seine neueste Errungenschaft und ging.
Wie ein begossener Pudel blieb ich zurück. Ich mochte mir nicht auszumalen, was Herr Kohlheim von mir dachte. So schnell wird er mich bestimmt nicht wieder allein lassen, auf ihn musste ich völlig überarbeitet gewirkt haben. Ich brauchte unbedingt frische Luft und öffnete das Fenster. Tief einatmen, ausatmen! Das tat gut. Einfach die Aufregung der letzten Tage wegpusten. Ich drehte mich um und ließ entspannt meinen Blick durchs Büro schweifen. Doch was war das? Zwei der Stühle vom Konferenztisch lagen umgekippt auf dem Boden! Ich traute meinen Augen nicht und blinzelte. Die Stühle blieben liegen. Mir wurde heiß und kalt zugleich. Irritiert sah ich aus dem Fenster auf die Straße hinunter. Herr Kohlheim stellte gerade das Bild auf den Rücksitz und stieg ins Auto. Er startete den Motor und fuhr langsam an. Am Rückspiegel baumelte fröhlich das kleine gelbe Duftbäumchen, als wollte es mir zuwinken. In diesem Moment ahnte ich nicht, dass ich meinen Chef das letzte Mal gesehen habe.

Letzte Aktualisierung: 27.12.2009 - 18.13 Uhr
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